Ethnisch gesäuberte Solidarität
Die Verbrechen der israelischen Armee und die Komplizenschaft westlicher Länder mit diesen beruhen auf einer traditionellen Verachtung für das palästinensische Volk.
Krieg ist Frieden, Unwissenheit ist Stärke und Kritik an Israel „antisemitisch“. Dem widerspricht die Tatsache, dass sich Juden weltweit weigern, entsetzliche Gräueltaten unter Berufung auf ihre Religion zu unterstützen: „Nicht in unserem Namen!“ Ihnen können sich auch nichtjüdische Deutsche gerade wegen einer historischen Erfahrung anschließen, die die Entmenschlichung ganzer Völkergruppen umfasst. Sie können ihre Solidarität bezeugen mit einem Volk, das seit über 100 Jahren imperialen Machtinteressen geopfert wird. Zur Begründung einer „Solidarität“ mit dieser Politik führen gerade Deutsche an, sie hätten Lehren aus der faschistischen Vergangenheit gezogen. Der Autor widerspricht dieser allzu direkten Adaption des historischen Materials.
Der Angriff der Hamas am 7. Oktober 2023 war ein Angriff gegen Besatzer, die sich wiederum nicht auf ein Recht zur „Selbstverteidigung“ berufen können. Um dem Massenmord im Gaza-Streifen den Schein einer Legitimation zu verleihen, schoss nicht nur die Kriegsmaschinerie aus allen Rohren. Leider soff nur der Motor des PR-Apparates schnell ab.
Kinder und Frauen gehen immer, also wurde die Lüge von den „40 enthaupteten Babys“ ergänzt von der bis heute unbelegten Behauptung, es seien „massenhaft“ Frauen vergewaltigt worden (1). Dazu gab es Bilder von Fahrzeugen und Häusern, deren Schäden von der leichten Bewaffnung der Angreifer nicht verursacht worden sein konnten.
Die Zahl der Getöteten schmolz von 1.400 zunächst auf 1.200. Offiziell bestätigt wurde schließlich der Tod von 373 Sicherheitskräften, 71 Ausländern und 695 israelischen Zivilisten, von denen viele im Feuer der eigenen Armee ums Leben kamen (2). Das hatte den Vorteil, dass sie nicht ausgetauscht werden konnten gegen Palästinenser, die zu Tausenden, teilweise minderjährig, oft ohne Gerichtsurteil und gefoltert, in israelischen Kerkern verschwunden sind.
Offiziell wird, so die Versicherung des israelischen Militärs, der Schutz der Zivilbevölkerung „so weit wie möglich gewährleistet“. Bei den drei Geiseln mit entblößtem Oberkörper und weißer Flagge war es nicht möglich. Sie wurden erschossen. Offenbar sah sich die israelische Armee auch großen Schwierigkeiten gegenüber, als 1000-Kilo-Bomben auf Flüchtlingslager geworfen, Frauen in Kirchen von Scharfschützen ebenso wie über Hundert Journalisten ermordet oder die neun Angehörigen von Yousef Khalil, darunter seine Kinder und Enkelkinder, in den Betten ihrer provisorischen Schlafstätte vor seinen Augen erschossen wurden (3).
Alte sterben zu Tausenden durch die totale Blockade medizinischer Versorgung. Die U.S.A. lieferten nicht nur mindestens 100 Tausendkilo-Bomben, sondern auch Geschosse, die auf den kompletten Einsturz des getroffenen Gebäudes ausgelegt sind. Bislang sind mehr als 25.000 Menschen tot, einschließlich der noch Verschütteten weit mehr. Davon sind mindestens 70 Prozent Frauen und Kinder. Wie viele Hamas-Kämpfer dürfen wir unter den restlichen knapp 30 Prozent erwarten? 8.000, behauptet die israelische Armee und belegt ganz offenherzig, dass im Bombenhagel auch ihre Lügengebäude eingestürzt sind. Das zu verdrängen ist allerdings kein Privileg der Israelis.
Voraussetzung für das blanke Entsetzen über den 7. Oktober 2023 ist die Totalamnesie im „kollektiven Westen“ bezüglich der Jahrzehnte davor.
Nur so stellte sich nicht die Frage, was eigentlich zu erwarten war, nachdem seit der Gründung des „jüdischen Staates“ 1948 und noch einmal gesteigert mit der Besatzung ab 1967 brutalste Verhaltensweisen den Betroffenen eingebläut worden ist (4). Wer das ignoriert, hat seinen Urteilen tönerne Füße verpasst. Gestützt werden sie von den Krücken einer Verpflichtung aus der Geschichte. Wenn sie eine Rolle spielt, dann in einer Art und Weise, die kein Ruhmesblatt für Deutschland ist.
Die Lehren aus der NS-Zeit
Die Erfahrungen mit dem Faschismus hätten eine „Stunde Null“ als Anbeginn einer neuen Zeit geboten. Doch dazu reichte es nicht. Nach einer Schrecksekunde hatten sich nicht nur die Beziehungen zwischen Besitzenden, Politikern und Medien erholt, sondern auch autoritäre Einstellungen gegenüber den Mächten der gegebenen Ordnung. Erich Kuby bemerkte unmittelbar nach Kriegsende eine Gesinnungshaltung, die „in verklausulierter Form zum Nationalisten stempelte, wer die Alliierten kritisiere“ (5).
Damit war nicht nur der Bestand einer denunziatorischen Sprachkultur gesichert, sondern auch der Spielraum deutscher Handlungsmöglichkeiten als Krabbelecke im Laufstall der USA abgesteckt. Der Rahmen der Mitgestaltung deutete sich an, als überall, wo die US-Armee einmarschierte, die Befreiung vom Faschismus als Befreiung vom Anti-Faschismus gestaltet wurde. In Deutschland drückte sich diese Travestie in einer sehr selektiven Distanzierung von der NS-Zeit aus: Die zu ziehenden Lehren reduzierten sich darauf, über „die erstaunlichen Waffentaten“ der Wehrmacht nicht die „Verbrechen von Dachau und Buchenwald“ zu vergessen (6).
Den so eingeengten Erinnerungen fehlte der Charakter des Erlebnishaften, wie László Földényi in einer Laudatio auf Imre Kertész hervorhob. Er sprach von einer Fälschung der Geschichte (7). Indem Faschismus auf Antisemitismus reduziert wurde, konnte umgekehrt Antisemitismus gleichgesetzt werden mit Faschismus. Er war damit einem bürgerlichen Publikum mundgerecht zubereitet, aber seines tieferen Wesens entkleidet worden. Gleichzeitig ergab sich ganz „natürlich“ bezüglich des Judentums die Konzentration auf ein Spektrum, das dieser Genügsamkeit entsprach und nicht in einer umfassenden Opposition zu faschistischen Einstellungen stand. Im Gegenteil.
Bereits im Juni 1933 betonte die „Zionistische Vereinigung für Deutschland“, „dass eine Wiedergeburt des Volkslebens, wie sie im deutschen Leben durch Bindung an die christlichen und nationalen Werte erfolgt, auch in der jüdischen Volksgruppe vor sich gehen müsse“ (8). Die Geburtshelfer „jüdischen Volkslebens“ waren zionistische Todesschwadronen, die gerade in friedlichen Gebieten Angst und Schrecken verbreiteten. Berühmtheit erlangte die Stern-Gruppe des späteren Ministerpräsidenten Jitzak Schamir. Sie ging hervor aus Irgun, geleitet von Menachem Begin, ebenfalls Ministerpräsident geworden. Er wurde anlässlich seines Besuchs in New York 1948 von mehr als zwei Dutzend jüdischer Intellektuelle, darunter Albert Einstein, in einem von der New York Times veröffentlichten Brief als Führer einer Partei bezeichnet, die als jüngste Manifestation des Faschismus anzusehen sei (9).
Für den Westen war das kein Problem. Er hatte und hat sehr dehnbare, von Kollaborateuren der Nazis auf deren Machtinteressen maßgeschneiderte Vorstellungen von Herrschaft und Gewaltanwendung zur Etablierung einer auf seinen Regeln basierenden Ordnung. Ihren Bedürfnissen entsprachen bereits die Konzeption eines jüdischen Staates, dann seine Gründung und schließlich der Beistand. Es galt, ein Bollwerk zu schaffen gegen „unzivilisierte“ Araber.
Die Rolle der Briten haben dann die USA übernommen. Ihren Vorgaben auch in dieser Region ergeben zu folgen harmoniert in Deutschland mit dem Wohlklang der Autosuggestion, man ziehe „Lehren aus der Vergangenheit“. Doch kaschiert wird nur der Charakter einer Politik als Simulationsveranstaltung eigenständigen Handelns. Um was es wirklich ging, stellte Konrad Adenauer klar, als er 1960 bei einem Treffen mit David Ben-Gurion Israel als „Festung des Westens“ bezeichnete.
Abgesehen von Milliardenbeträgen für den Ausbau dieses unsinkbaren Flugzeugträgers an Arabiens Gestaden bestand Deutschlands größter Beitrag darin, dass sich mit seiner Art der Distanzierung vom Faschismus dem Terror gegen die Palästinenser eine ideologisch-aggressive Note verleihen ließ: Wer ihn kritisiert, kritisierte fortan das „Jüdische“. Doch dessen sektenhafte Karikatur ist weit davon entfernt, das Judentum zu repräsentieren.
Yakov Rabkin, Historiker an der Universität von Montréal, erwähnt einen Rabbiner, der den zionistischen Staat für eine zum Scheitern verurteilte Revolte hält und kritisiert, dass die Identifikation mit dem Staat Israel bei vielen das jüdische Wertesystem ersetzt habe: Barmherzigkeit und Bescheidenheit seien von Egoismus und Nationalstolz abgelöst worden (10).
Das Konzept eines ethnisch „reinen“ Staates entsprach den Strömungen des 19. Jahrhunderts. Keinen Platz hatten sozial-emanzipative, solidarische und mitmenschliche Momente, wie sie sich in der Arbeiterbewegung fanden.
Alle Vorstellungen eines multi-ethnischen Staates wurden von nationalistischen Schlägerbanden bekämpft, deren Ideologie auch zu den exzellenten Beziehungen Israels zum rechten bis rechtsradikalen Spektrum weltweit führte (11).
Umgekehrt sehen alle Verfechter einer aggressiven Politik in Israel einen ihrer verlässlichsten Vorposten. Gemeinsam ist ihnen das Selbstverständnis, in einem im Sinne von Carl Schmitt definierten „Großraum“ Menschen- und Völkerrechte außer Kraft zu setzen. Schlagwortkampagnen verschleiern jene Tendenzen, die seit jeher dem Faschismus bis hin zum Völkermord den Weg ebneten: der Anspruch auf fremdes Gebiet, die unbedingte Durchsetzung ökonomischer Interessen, ein alle Bereiche erfassendes Propagandasystem, Missachtung aller Rechtsnormen, Plünderung Schwächerer und Repression aller Versuche, die dahinter stehenden Interessen zu beschneiden (12).
Der mit dem an Israel gebundene „Antisemitismus“-Vorwurf wird umso offensiver vertreten, je dringender die Lage des militärisch-industriellen Komplexes erfordert, alle Register der Disziplinierung zu ziehen. Das ist der Grund, warum „Antisemitismus“ überall anzutreffen ist, unaufhörlich davor gewarnt werden muss und die diesbezüglichen Verdächtigungen mitsamt der entsprechenden Diffamierungen allgegenwärtig sind. Er legitimiert gleich einem tückischen Monster und bedrohlichen Virus willkürliche Maßnahmen wie Zensur, Versammlungsverbote, Diskreditierungen, Verleumdungen, et cetera, die schon die Nazis auszeichneten.
Auch wiederholt sich ihre Praxis, Juden als Juden in den Mittelpunkt der Aufmerksamkeit zu zerren, abgesondert als aparter Teil der Gesellschaft. Das fand Victor Klemperer schon unmittelbar nach Ende des Krieges entsetzlich (13). Später, 2007, wollte Kertész „nicht länger Holocaust-Clown“ sein (14). Er wollte es nicht, weil nicht der Mensch, der Jude war, interessierte, sondern der Jude, der kein wirklicher Mensch mehr war. Ein strategisch instrumentalisierter Philosemitismus ist allerdings das billet d’entrée zu Selektionen, Vorstufe von Feindseligkeiten. Sie begännen gegenüber Juden damit, ihnen Genies zuzubilligen, womit unter der Hand das Recht auf Schurken verweigert werde, zitiert Raymond Chandler in seinem Brief an eine Miss Aron einen Schriftsteller (15).
Tatsächlich ist ihnen ohne Ressentiments, mit deren Verwerflichkeit die Apologeten israelischen Terrors kalkulieren, die pathologische Möglichkeit zuzugestehen, Faschisten zu sein und einem entsprechenden Handlungsmuster zu folgen. Der Vorwurf des Antisemitismus als Kritik krankhafter Strebungen dient als Instrument, krankhafte Strebungen zu kaschieren. Deshalb gilt die Ablehnung des NATO-Krieges gegen Afghanistan nicht nur als „Antiamerikanismus“, sondern wird dahinter „eine besonders perfide Spielart des Antisemitismus“ gesehen (16). Hunderttausende Afghanen dürften dieser Logik widersprechen, wenn sie noch lebten.
Die Affinität autoritär-strukturierter Gewalttäter bewährte sich bei den US-Waffenlieferungen zur Ermordung von mehr als 10.000 Kindern im Gaza-Streifen sowie der angekündigten Vernichtung der gesamten Bevölkerung durch Hunger, Durst, Krankheiten und Bombardierungen. Diesen Leningrader Katalog der Wehrmacht zu unterstützen wird offiziell als „deutsche Staatsräson“ bezeichnet.
Der Begriff entstand in der italienischen Renaissance. Er steht für ein Nützlichkeitsdenken jenseits von Moral und Recht. Alle Maximen des Handelns werden in einen Rahmen gezwängt, der, mit Carl Zuckmayer zu sprechen, mehr nach Kitt und Leim als nach gutem Holz riecht. Der Preis auch für Israelis besteht in Traumatisierungen, die durch das eigene Tun verursacht sind und in den Abgrund führen. Es gibt kein Entrinnen aus dem Versagen, das Leben konstruktiv zu gestalten. Damit wären Anhaltspunkte für eine Friedensperspektive angedeutet.
Perspektiven im Nahen Osten
Völkermord ist ein Verbrechen, strafbar nach § 6 Völkerstrafgesetzbuch und Art. 6 Römisches Statut. Wer ihn unterstützt, macht sich mitschuldig. Schon „politische Gleichgültigkeit“, wie Hermann Broch betonte, „ist ethischer Perversion recht nah verwandt.“ Diesem Verdacht wollte sich Craig Mokhiber nicht aussetzen. Er war Leiter des New Yorker Büros des UN-Hochkommissariats für Menschenrechte (UNHCR) und erklärte in einem Brief an UNHCR-Chef Volker Türk seinen Rücktritt.
In der Anfang November 2023 bekannt gewordenen Begründung schrieb er:
„Der gegenwärtige Massenmord an den Palästinensern, der auf einer ethnonationalistischen Ideologie des Siedlerkolonialismus beruht, die jahrzehntelange systematische Verfolgung und Säuberung der Palästinenser fortsetzt (…) und mit entsprechenden Absichtserklärungen führender Vertreter der israelischen Regierung und des Militärs einhergeht, lässt keinen Raum für Diskussionen. (…) Aber die größten Verluste hat das palästinensische Volk durch unser Versagen erlitten. Es ist eine bittere Ironie, dass die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte in demselben Jahr verabschiedet wurde, in dem die Nakba am palästinensischen Volk verübt wurde“ (17).
„Was kann ich wissen, was soll ich tun?“, fragte Immanuel Kant, und gab als letztes Problem auf: „Was darf ich hoffen?“ Auch bezüglich Palästina könnten wir umformulieren: „Was muss ich hoffen, damit ich weiß, was zu tun ist?“ Für Mokhiber wäre das Ziel „ein Staat auf der Grundlage der Menschenrechte: Wir müssen die Errichtung eines einzigen demokratischen, säkularen Staates im gesamten historischen Palästina mit gleichen Rechten für Christen, Muslime und Juden und damit den Abbau des zutiefst rassistischen Siedlerstaats und Kolonialprojekts unterstützen und der Apartheid im ganzen Land ein Ende setzen.“
Bis dahin ist es ein langer Weg, weil der Gesellschaftscharakter, der zur Staatsgründung geführt und sich unaufhörlich verhärtet hat, ebenfalls eine lange Geschichte hat. Sein Bankrott ist ablesbar an der Forderung israelischer Ärzte, Krankenhäuser in Gaza zu bombardieren. Kleine Kinder schlossen sich in Liedform an:
„Innerhalb eines Jahres werden wir alle vernichten, und dann werden wir zurückkehren, um unsere Felder zu pflügen“ (18).
Der Moment, in dem ein Staatswesen auf den Trümmern einer anderen Gesellschaft errichtet wird, ist das Ende konstruktiver Gemeinschaft.
Hängt das Überleben von der eigenen Aggression ab, werden bedrohliche Feinde, deren man sich erwehren muss, zur Bedingung, dem Leben einen Sinn zu geben. Auf diesem Königsweg zu archaischen Bindungen verliert der Einzelne sein Zu- und Vertrauen. Das ist trostlos. Anlass zur Hoffnung geben Impulse palästinensisch-jüdischer Initiativen in Israel selber, verstärkt durch eine immense Zunahme weltweiter Proteste und die Isolierung des israelischen Regimes.
Mit viel Nachsicht wäre Weltfremdheit zu attestieren, wenn immer noch eine Zweistaatenlösung gefordert wird. Edward Said hat sie, die Tinte unter den Verträgen von Oslo war noch nicht trocken, schon 1995 als illusorisch bezeichnet (19). Völlig pulverisiert wurde sie durch seitdem unaufhörlich verstärkte Besiedlungsprogramme, die Vertreibungsmanöver waren und sind.
Eindringlicher denn je bietet sich als einzig realistisches Ziel die Einstaatenlösung an (20) — auch wegen der Lehren aus der deutschen Vergangenheit, die ansonsten den Beigeschmack hätten, auf die „Solidarität“ mit Apartheid, Vertreibung und Vernichtung hinauszulaufen. Wenn diese Art von „Lektion“ konstitutiv sein sollte für die Bildung nationalen Selbstbewusstseins, drückt man nur aus, dass diese Bildung nach 1945 gescheitert ist. Bestätigt wäre auch, dass es keine „Stunde Null“ gab.
Der Kampf gegen destruktive Strebungen muss geleitet sein von Mitgefühl, instinktiver Ablehnung herrischer Macht und Solidarität mit allen, die elementarer Rechte beraubt sind.
Das ist nur möglich im Streben, ein selbstbestimmtes, freies und produktiv-erfülltes Leben zu führen — und alles zu unternehmen, Hindernisse zu beseitigen, die es erschweren oder gar unmöglich machen, diese Ziele zu erreichen. Das gilt auch für das Verhältnis der Deutschen zu Palästina, in dem sich unsere „westlichen Werte“ spiegeln.
Die seit Jahrzehnten andauernde Barbarei, die vom „jüdischen Staat“ ausgeht, vollzog sich im Schatten des imperialen Terrors, der seit Ende des Zweiten Weltkriegs mindestens 20 Millionen Tote gefordert hat — 20 Millionen, die es nie wert waren, besonders erwähnt zu werden. Was sind da über 20 Tausend Tote im Gaza-Streifen? Sie werden in einer von schizophrenem Verhalten geprägten Öffentlichkeit erst zu einem Problem, wenn der Kampf gegen Verhältnisse, die Waffengewalt produziert, eine politische und kulturelle Hegemonie erlangt hätte.
Staatlicher Terror kommt zum Einsatz gemäß der Zwänge einer Wirtschaftsweise, die mehr denn je in ihrer schuldenbasierten, am Wohlergehen eines militärisch-industriell-medial-propagandistischen Komplexes orientierten Phase auf Expansion angewiesen ist. Wird diesen Strukturen nicht Einhalt geboten, ist ein Ende kolonialer Praktiken des Schreckens nicht absehbar.
Im Gegenteil hat ihr Horror jetzt mit der Realisierung eines ganz offiziell geäußerten Auslöschungswahns einen Höhepunkt erreicht, der nicht mehr verdrängt werden kann wie die seit Jahrzehnten praktizierte Vertreibung der Palästinenser samt der Missachtung der Resolution 194 der UN-Vollversammlung von 1948 zu ihrem Rückkehrrecht. Gleichwohl wird dem Versuch Süd-Afrikas, Israel wegen Völkermord vor dem Internationalen Gerichtshof zu verklagen, kaum Erfolg beschert sein. Dafür ist diese politische Institution nicht geschaffen worden. Israel hat Pretoria „Antisemitismus“ unterstellt. Doch dieser Groteske ist durch eine Vernachlässigung routinemäßiger Verbrechen des Westens Vorschub geleistet worden.
Die globale Despotie der USA verhält sich zu den Massakern ihres Klienten wie die Brutalität eines Mafia-Bosses zu den Vergehen seiner Laufburschen in den Vorstädten.
Diese Relationen hatte die seinerzeitige Bildungsministerin Israels, Limor Livnat, gut erfasst, als sie forderte, dass die Mittel, die den USA in Afghanistan erlaubt seien, „auch Israel erlaubt sein“ müssen (21). Sie sind nicht nur erlaubt, sondern Voraussetzung für Israels „Existenzrecht“ (22).
Leider kann man nicht sagen, dass so ein Land nichts in „unserer Staatengemeinschaft“ zu suchen hat. Es entspricht perfekt deren Anforderungen. Israel beklagt immer eine im Vergleich zu anderen Ländern unterschiedliche Behandlung. Das ist Jammern auf hohem Niveau. Der Anführer des Mobs kann lediglich erfolgreicher indoktrinieren, seine Verbrechen seien so natürlich wie die Luft, die wir atmen. Gleichwohl muss eine gewisse Undankbarkeit Israels moniert werden, denn die Verbrechen anderer sind zwar, wie Harald Pinter in seiner Nobelpreis-Rede konstatierte, nie geschehen, können aber in der Regel nicht mit expliziten Akklamationen seitens der Heroen und Heroinen „regelbasierter Ordnungen“ rechnen.
Angefeuert werden sie von „Lehren“, die aus der Vergangenheit zu ziehen seien. Diese Lehren bestanden darin, mit den USA die Fäden, die von den Nazis fallengelassenen wurden, wieder aufzunehmen: Verachtung des Völkerrechts, Verherrlichung von Gewalt, Unterdrückung Schwächerer. Die gegenwärtig zu beobachtende Nonchalance bei der Auslöschung ganzer Familien zeigt, dass die „Entnazifizierung“ nach 1945 ein Fehlschlag war. Sie zielte nicht auf das Ende des Triumphes der Götzen von Macht, Kontrolle, Unterwerfung sowie die Missachtung von Menschen- und Völkerrechten ab. Nur so konnte es zu der Entwicklung hin zum Genozid in Gaza kommen.
Vorbereitet wurde er von der Gleichgültigkeit gegenüber der serienmäßigen Bombardierung afghanischer Hochzeitsgesellschaften mit jeweils um die 100 Toten oder der von eingesetzter Uran-Munition bewirkten Krebsrate in Falludscha, die höher ist als seinerzeit in Hiroshima. Es ist eine breite, mit fünf Zeilen in der Presse bedachte oder ganz verschwiegene Phalanx diabolischer Verwerflichkeit, die es zu bekämpfen gilt, wo und wann immer Unterstützung dafür zu erlangen ist. Bis dahin wäre wohl selbst angesichts der traumatischen Ereignisse in Gaza eher als auf irdische Gerechtigkeit auf himmlischen Beistand die Hoffnung zu setzen.
Wenn der Fluch Gottes nicht über solche Barbaren fallen wird, die seinen Geboten Hohn sprechen — über wen dann? Wenn, wie in Jeremia prophezeit, die Tage grauenerregender Frevler nicht gezählt sind — wessen dann? Ihr Genozid in Gaza ist kein Fehler. Er passt präzise in ein nicht nur von den Israelis gewebtes Muster des Schreckens. Er scheint nur aus der Reihe zu fallen, weil nunmehr das Ansehen eines der vielen Serientäter endgültig im Staub liegt — im Staub der Geröllmassen auf Abertausenden Leichen.
Unter diesem Aspekt könnte man doch von einem Fehler sprechen — einem Fehler nicht der Strategie, denn die war immer ruchlos, sondern einem Fehler der Taktik. Nicht nur die Palästinenser haben einen horrenden Preis dafür gezahlt. Aber sie werden wie Phoenix aus der Asche steigen. Ihr Widerstand gründet auf Idealen, die nicht zu vernichten und nicht zu besiegen sind.
Israel in der jetzigen Verfassung hingegen wird sich von seinen Schreckenstaten nicht erholen (23). Auch wir im Westen nicht, kämen wir nicht zur Besinnung und beendeten aktive Mithilfe oder die nicht minder verwerfliche Hinnahme.
Doch vermutlich werden wir ebenfalls erst erfahren müssen, wie tief man fallen kann.