Es lebe die Schüchternheit!

Wir brauchen eine Emanzipationsbewegung der Introvertierten.

„Ein leerer Topf macht am meisten Lärm“. Aber wer der Welt etwas Bedeutendes schenken will, benötigt Zeit und Sorgfalt, um es in Stille reifen zu lassen. Mehr als ein Drittel aller Menschen sind introvertiert. Ohne sie hätten wir heute keine Relativitätstheorie, keinen „Harry Potter“, es fehlten die Klavierstücke Chopins, und auch die Suchmaschine „Google“ wäre nie entwickelt worden. Das Problem ist: Im Wirtschaftsleben herrscht eine „extravertierte Ethik“, die stille Wasser zwingt, sich anzupassen oder unterzugehen. Ihre Eigenschaften, Ernsthaftigkeit, Sensibilität und Scheu gelten eher als Krankheitssymptom denn als Qualitäten. Zeit für ein Umdenken.

„Ich habe Angst vor Intimität, vor dem was in der Welt geschieht, vor allem eigentlich.“ Jean-René Van Den Hugde ist ein liebenswerter Mann im besten Alter, Chef einer kleinen Schokoladenfabrik. Sein Problem: Er ist krankhaft schüchtern. Hat er ein Date mit einer Frau, schwitzt er buchstäblich sein Hemd nass, weshalb er immer einen Koffer mit Ersatzkleidung bei sich trägt. Angélique, seine neue Angestellte, ist ein so scheues Reh, dass sie in der Selbsthilfegruppe der Hypersensiblen schon bei der Vorstellungsrunde in Ohnmacht fällt. Als sich beide kennen lernen, ahnt der Filmzuschauer bald: Die sind füreinander geschaffen.

Doch wie kommt ein Paar zusammen, wenn sich keiner traut? Aus dieser Grundsituation strickte Regisseur Jean-Pierre Améris im Jahr 2011 eine zauberhaft leichte Komödie: „Die anonymen Romantiker“. Der Zuschauer mag diese Schüchternen, so wie er andere, etwas unbeholfen auftretende Akteure liebt: Hugh Grant oder Roberto Benigni. Man „verzeiht“ Schüchternheit gern, wenn sie andere betrifft; sich selbst gegenüber ist diese Eigenschaft jedoch mit Scham und Schuldgefühlen verbunden.

Extravertiert oder introvertiert – dieses Gegensatzpaar bildet laut Susan Cain „Nord- und Südpol“ der Temperamentenlehre. Aus Sicht von Extravertierten ist es unerklärlich, warum manche Menschen so reserviert und gedankenverloren wirken. Sie fühlen sich von Introvertierten frustriert und heruntergezogen.

Andererseits fühlen sich stille Menschen von dem Überredungstalent und dem Gegockel der Lauten überrannt. Sie verstehen nicht deren Bedürfnis, sich vor Publikum zu produzieren. In Gesellschaft fühlen sich Introvertierte meist fehl am Platz und langweilen sich. Sie vermissen den Freiraum, im Stillen ihren Gedanken nachzugehen zu können oder tief gehende Konversation zu betreiben statt des üblichen Smalltalk. Keine der beiden Gruppen macht nach Ansicht der Autorin etwas falsch. Beide tun nur, wofür sie von der Evolution „designed“ wurden. „Introvertierte regenerieren sich, wenn sie allein sind, Extravertierte müssen sich regenerieren, wenn sie nicht genug Kontakt haben.“

Die nagende Scham der Scheuen

Niemand kann alle Qualitäten gleichzeitig auf sich vereinen. „Wenn jemand außergewöhnliche Talente besitzt, setzt das voraus, dass die für andere Gebiete benötigte Energie von diesen abgezogen wird“, zitiert Cain den amerikanischen Komponistes Allen Shawn. Introversion geht oft einher mit Gedankentiefe, geistiger Unabhängigkeit und Konzentrationsfähigkeit. Hinzu kommen eine Abneigung gegen Oberflächlichkeit und Herdentrieb. Dennoch ist eine solche Veranlagung für viele Betroffene mit Leidensdruck verbunden. Seit ihrer Kindheit empfinden sie ihren Zusammenprall mit der extravertierten Kultur als Versagen.

Die Teilnehmerin einer Internet-Selbsthilfegruppe schreibt dazu:

„Als ich endlich alt genug war, um zu begreifen, dass ich einfach nur zu den Introvertierten gehöre, war die Annahme, etwas stimme grundsätzlich nicht mit mir, schon zu einem Teil von mir geworden.“

Introvertierten wird gesagt, sie seien „zu ruhig“ oder zu sehr „im Kopf“. Sie verstehen nicht, warum sie sich durch Meetings quälen sollen, in denen Maulhelden das Wort führen, obwohl sie allein am besten arbeiten.

„Uns wird eingeredet, dass Menschen von Bedeutung eine forsche Art haben und dass Glück mit Kontaktfreudigkeit einhergeht.“

Susan Cain reiste zu den Epizentren der Großsprecher-Mentalität, etwa in ein Seminar von Tony Robbins, dem amerikanischen Bestsellerautor und NLP-Trainer, und in die Harvard Business School. Sie ergründet, wie Extraversion zum Kulturideal wurde und entlarvt damit seine kulturelle Bedingtheit.

Als Vordenker eines Wertewandels hin zu einer Überbewertung der Extraversion gilt der US-amerikanische Bestsellerautor Dale Carnegie. In seinem Buch „Sorge dich nicht, lebe!“ erklärte er schon 1913 das Redetalent zur Kardinaltugend: „Heutzutage ist uns klar geworden, dass es die unentbehrliche Waffe all jener ist, die im unerbittlichen Wettbewerb der Geschäftswelt vorankommen wollen.“ Damit hat er bereits alle modernen „Ideale“ der neoliberalen Ära vorweggenommen. Das Berufsleben wird zum Kriegsschauplatz. Ein Wettrüsten mit Hilfe von Mentaltechniken schuf Generationen von Kampfsprechern. Auch hier ist das Private politisch. Wo „Vertretertugenden“ dominieren und zurückhaltende Menschen diskriminiert werden, wird eine Gesellschaft auf optimale ökonomische Verwertbarkeit getrimmt.

Selbstvermarktung statt Charakter

Amerika wandelte sich von der „Charakterkultur“ zur „Persönlichkeitskultur“, analysiert Susan Cain.

„In der Charakterkultur war der Idealmensch ernsthaft, diszipliniert und ehrbar. Was zählte, war nicht so sehr der Eindruck, den man in der Öffentlichkeit hinterließ, sondern wie man sich verhielt, wenn niemand zugegen war.“

Mit dem Wechsel zur Persönlichkeitskultur begannen die Amerikaner dagegen „zu schauen, wie andere sie wahrnahmen. Sie waren fasziniert von Menschen, die forsch und unterhaltsam waren.“ Im 19. Jahrhundert war dies noch anders gewesen:

„Männer konnten im allgemeinen ein ruhiges Auftreten haben, das Selbstbeherrschung und eine Souveränität demonstrierte, die sich nicht zur Schau zu stellen brauchte.“

Soziologisch hängt dieser Wandel auch mit der Verstädterung und einer zunehmend anonymen Berufswelt zusammen. In der traditionellen Dorfgemeinschaft war jeder nur mit wenigen Menschen konfrontiert, die er meist schon seit der Kindheit kannte. Die moderne Arbeitswelt forderte dagegen, auf immer neue Kontakte mit Fremden flexibel zu reagieren. Dies fördert Oberflächlichkeit und Darstellerqualitäten.

Eine groß angelegte Umerziehungskampagne im Sinne extravertierter Ideale fand vor allem seit den 1970er-Jahren statt, als die Ratgeberliteratur boomte. Die Unsicherheit, von der Leser angeblich geheilt werden sollten, wurde erst erschaffen, indem man suggerierte, so wie sie seien, dürften sie auf keinen Fall bleiben. Auch die Werbung spielte massiv mit den Ängsten der Menschen, nicht gut anzukommen. In einer Zahnbürstenwerbung hieß es:

„Haben Sie schon mal probiert, sich an sich selbst zu verkaufen? Ein guter erster Eindruck ist für den Erfolg im Geschäftsleben oder bei anderen Menschen das Allerwichtigste.“

Ironisch zitiert Susan Cain auch das Motivationsprogramm der Vertriebsmitarbeiter bei IBM. Dort wird morgens ein Lied mit folgendem Text angestimmt: „Wir sind immer gut in Form, und wir arbeiten mit Schwung. Wir verkaufen, ja verkaufen IBM.“ Man muss keinen „Minderwertigkeitskomplex“ haben, um bei gleichgeschalteten Ritualen in Unternehmen, Burschenschaften oder Fußballclubs Unwohlsein zu empfinden – oder einen unwiderstehlichen Lachreiz.

Hochsensible müssen sich schützen

Wenn Introvertiertheit keine Krankheit ist, so gibt es für die Entwicklung dieser Charakterstruktur doch Ursachen. Psychologisch betrachtet sind Introvertierte zunächst Hochsensible. Während der Begriff „introvertiert“ noch den Vorwurf impliziert, der Betreffende sei egozentrisch und betreibe Nabelschau, setzt die Bezeichnung „hochsensibel“ andere Schwerpunkte. Susan Cain schreibt:

„Hochsensible Menschen sind beispielsweise meist gute Beobachter, die erst schauen, bevor sie springen. Sie organisieren ihr Leben so, dass sie Überraschungen möglichst ausschalten. Sie reagieren oft sensibel auf Anblicke, Geräusche, Gerüche, Schmerz und Kaffee. Sie haben Probleme, wenn sie beobachtet werden.“

Eine gewisse Vorliebe für Philosophie, Musik, Kunst und Natur ist häufig anzutreffen, ebenso aber „Anfälle von Kummer, Melancholie und Angst“.

Hochsensible fühlen sich schon als Kind leichter schuldig für (vermeintliche) Fehler. Sie scheinen den Kummer der von ihnen geschädigten Personen intensiver mitzuempfinden. Der Psychologe Dacher Keltner, Universität Berkeley, schreibt über Schüchterne: „Die Anzeichen von Verlegenheit sind kurze Hinweise darauf, dass eine Person das Urteil anderer achtet.“ Die Funktion dieses Menschentyps innerhalb der Evolution könnte darin bestehen, aufgrund seiner feinen Antennen als erster Gefahren zu erkennen und davor zu warnen.

Man kann dabei durchaus an eine Antilopenherde denken. Einige Tiere blicken mit hochgerecktem Hals in die Weite, um herannahende Raubtiere besser sehen zu können. Die Artgenossen können währenddessen beruhigt weiden. Dazu muss das Nervensystem der „Wächter“ jedoch so fein ausgebildet sein, dass sie subtile Unterschiede in der Umgebung wahrnehmen können. Wird ein so gestimmter Mensch jedoch von groben Reizen überflutet, reagiert er mit Unwohlsein und dem Wunsch zu flüchten. Introversion hat insofern eher eine Schutzfunktion, gerade weil alle Sinne feinfühlig nach außen geöffnet sind.

Niemand legt einen Ziegelstein auf eine Briefwaage, und ebenso wenig sollte man einen Hochsensiblen in ein Bierzelt mit einer Horde johlender Menschen zwingen.

Die Vielsprecher-Gesellschaft

Das von Susan Cain analysierte „Extravertiertenideal“ scheint übrigens eine Spezialität der westlichen Hemisphäre zu sein. In Asien genießen Menschen, die sensibel, zurückhaltend und fleißig sind, höhere Wertschätzung. „Wer weiß, redet nicht; wer redet, weiß nicht“, sagte Laotse. Das Nachdenken sollte dem Reden vorgeschaltet sein, um zu vermeiden, dass andere verletzt werden. „Was für Menschen aus dem Westen wie asiatische Fügsamkeit aussieht, ist also in Wirklichkeit eine tief empfundene Besorgnis um die Gefühle anderer“, schreibt Cain.

Nachdenkenswert sind die Aussagen asiatischer Gaststudenten über ihre Erlebnisse in den USA. So meinte Mike Wei: „Weiße scheinen weniger Angst davor zu haben, dass andere das, was sie sagen, zu laut oder zu dumm finden könnten.“ Ein chinesischer Software-Ingenieur sagte über die Amerikaner: „Selbst wenn sie einen Gedanken haben, der noch nicht ausgereift ist, reden sie darauf los.“ In der Tat prägen solche Merkmale auch das „Kommunikationsklima“ in Europa. Großartig ist auch eine Aussage Gandhis, der in seiner Jugend sehr schüchtern war:

„Es gibt so viele Menschen, die darauf brennen zu sprechen. All dieses Gerede ist der Welt kaum von Nutzen. Es ist reine Zeitverschwendung. Meine Schüchternheit war in Wirklichkeit mein Schutz und Schild. Sie hat mir erlaubt zu wachsen. Sie hat mir geholfen, die Wahrheit zu erkennen.“

Trotz mancher Spitzen gegen die Selbstdarstellerkultur möchte Susan Cain nicht die Extravertierten diskriminieren. Sie rät: Versucht nicht, schlechte Kopien der Extravertierten zu werden, versucht lieber eure Stärken als Introvertierte zu pflegen. „Still“ stellt sich gegen den Trend vieler Ratgeber, deren Autoren „selbstbewusstes Auftreten“ verherrlichen.

„Introvertierte, die unter dem Ideal der Extraversion leben, sind wie Frauen in einer Männerwelt: Sie werden wegen eines Merkmals gering geschätzt, das sie im Innersten definiert.“

Die logische Schlussfolgerung: Wir brauchen eine Emanzipationsbewegung der Introvertierten. Wie bei Frauen gilt: Ihre Persönlichkeitsmerkmale sollten nicht wegtherapiert, sondern wir sollten sie als wertvollen Teil des Ganzen akzeptieren.

Es ist eine Beleidigung für Introvertierte, wie gescheiterte Extravertierte behandelt zu werden.

„Still“ ist das Kultbuch für Schüchterne, hilft aber auch Selbstsicheren, ihre Mitmenschen besser zu verstehen. Auch Schwierigkeiten auf dem Lebensweg, so zeigt das Buch, können mit Mut und Einsicht positive Wirkungen erzielen. „Dort, wo du stolperst, liegt auch dein Schatz vergraben.“


Buchtipp: Susan Cain: Still – Die Bedeutung von Introvertierten in einer lauten Welt. Riemann Verlag, 2011. 447 S., Euro 19,95

Filmtipp: „Die anonymen Romantiker“, Frankreich 2010, Regie: Jean-Pierre Améris, Darsteller: Isabelle Carrè, Benoît Poelvoorde