Erstickte Kultur
Ein Kunst- und Kulturfestival wird aufgrund öffentlicher Verleumdungen und Unterstellungen frühzeitig abgebrochen.
Was ist Kunst? Was darf sie? Wann äußert man sich kritisch zu einem Kunstwerk, und wann schadet man bewusst Kunst und Künstlern, die seit zwei Jahren von den politischen Maßnahmen und Beschränkungen ihres Arbeitsbereiches stark betroffen sind, und zerstört reflektierende Strukturen, die für eine Gesellschaft wichtig sind? Ja, die Kunst hat eine zentrale gesellschaftliche Aufgabe: Sie muss hinweisen, aufdecken, aufwecken, berühren, bewegen, verbinden, aufrütteln, spiegeln und warnen. Besonders, wenn für die Gemeinschaft ungesunde Veränderungen und Entwicklungen stattfinden. Diese Bedeutung kommt ihr zu, mehr noch: Sie definiert, was Kunst ist. Wird die Kultur daran gehindert, zu tun, was seit jeher ihr Auftrag ist, steht mehr auf dem Spiel als ein paar „schöne Stunden“ für Zuseher. Es geht um die Freiheit, kreativen Selbstausdruck und ein gesundes Korrektiv gesellschaftlicher Fehlentwicklungen. Ein Beitrag zur Kunstfreiheit.
Ende Januar 2022 organisiert die Künstlerinitiative „Kunst ist Leben!“ in Berg am Starnberger See ein großes Kunst- und Kulturfestival unter dem Motto „Wir spielen weiter!“. Die beiden Gründerinnen Philine Conrad, Schauspielerin und Schriftstellerin, und Marta Murvai, Violinistin, bringen für ein Wochenende verschiedene Sparten der Kunst zusammen: Klassik, Jazz, Barock und Tango, Lesungen, Gesang, Kabarett, Film, Malerei, Bildhauerei und Videokunst.
Über 40 Künstler aus Schweden, Augsburg, Berlin, Bremerhaven, Köln, Dresden, Düsseldorf, Gummersbach, Stuttgart, München — kurz gesagt aus ganz Deutschland und über die Grenzen hinaus, finden sich an einem Wochenende zusammen, um gemeinsam für die Kunst aufzustehen und die Botschaft zu vermitteln: „Kunst ist wichtig. Wir sind wichtig. Wir spielen weiter!” Künstler, die teilweise seit zwei Jahren keine Möglichkeit hatten, ihre Arbeiten und Werke zu präsentieren, auf der Bühne zu stehen und ihrem Beruf nachzugehen.
Öffentliche Verleumdungen und Unterstellungen
Der 29. Januar 2022 ist ein erfolgreicher Festivalsamstag mit dreizehn Stunden Programm. Am Sonntag soll bis zum frühen Abend dann der zweite Tag des Festivals stattfinden. Doch dazu kommt es nicht. In der Nacht lesen die Veranstalter eine Nachricht auf einem lokalen Polit-Blog. Auf der Seite wird von der Veranstaltung abgeraten, es wird beleidigt, verleumdet und heftige Unterstellungen formuliert. Es fallen politisch geframte Begriffe. Man distanziert sich öffentlich und unterstellt den Künstlern die Verharmlosung der Opfer des Nationalsozialismus. Eine Straftat.
Auf der Seite über das Festival steht die Überschrift: „Kunst ist … das eher nicht“. Darunter in auffällig großen roten Lettern: „Inzidenz 2601. Diese Zahl lässt keinen Spielraum für ‚Querdenker-Folklore‘“. Und weiter: „Für einen ‚Feldzug der Kunst‘ (...) wollen wir nicht werben. Dies ist nicht nur ein ungerechtfertigter Vergleich, sondern eine Verhöhnung der Opfer des Nationalsozialismus.“
Man beziehe sich damit auf den Titel der Ausstellung des Künstlerkollektivs, das parallel zum Festival und als Teil dessen seine Arbeiten präsentiert. Die Ausstellung wurde bereits eine Woche vor Festivalbeginn, am 21. Januar 2022, mit viel medialer Aufmerksamkeit eröffnet. In dem Manifest der Künstler steht an einer Stelle der Satz: „Die heutige Vereinnahmung der Kunst ist vergleichbar mit der Deklaration der „entarteten Kunst“.
„Ein gedanklicher Spagat, der nur schwer nachzuvollziehen ist“, findet die Künstlerin Philine Conrad.
„Die Betreiber des Blogs waren weder selbst vor Ort, noch haben sie Kontakt zu uns Veranstaltern, dem Pächter oder den teilnehmenden Künstlern aufgenommen. Sie hätten vorbeikommen sollen.“
Weiter schreibt der Blog:
„Ebensowenig faszinieren uns Menschen, die aus Stücken lesen, die ‚Geistige Gefangenschaft‘ heißen (...). Wir wollen auch keinen Musikern zuhören, die damit werben, auf Grund ihrer ‚kritischen Haltungen in Bezug auf die Coronamaßnahmen‘ zusammengefunden zu haben. (...) Obendrein ist die Initiative verbunden mit der Aktion ‚#allesaufdentisch‘. (...)
Die *SZ nannte diese eine ‚hochgefährliche Querdenker-Folklore‘ die FAZ spricht von ‚ein Kessel Schwurbel‘.“*
Betrieben wird der Blog von der Wählergruppierung Q.U.H. e.V., die in Berg lokalpolitisch aktiv ist und sich als Partei begreift. Auf ihrer Seite beschreiben sie sich selbst als: „Wir sind gerne mal quer, (...) grundsätzlich unabhängig, und (...) aus tiefstem Herzen heimatverbunden.“, wofür auch die Buchstaben des Vereinsnamens stehen. Redaktionell verantwortlich für den Inhalt des Blogs ist neben der ersten Vorsitzenden des Vereins und 3. Bürgermeisterin der Gemeinde Berg, Elke Link, der Autor Andreas Ammer, der sich selbst in seinem Profil als „Querdenker und Impulsgeber“ vorstellt.
Der Pächter bricht das Festival ab
Das Fazit und die Konsequenz des Blog-Eintrags: Der Festivalsonntag kann nicht stattfinden. Der Pächter des Veranstaltungsortes befürchtet, dass Leser des Blogs diesen Verleumdungen Glauben und Gehör schenken könnten, fürchtet um seinen Pachtvertrag und bricht die Veranstaltung kurzerhand ab.
18 Künstlern, die aus ganz Deutschland und Schweden nach Berg gereist sind, wird damit die Möglichkeit verwehrt, ihre künstlerischen Beiträge auf einer Bühne zu präsentieren.
Beiträge mit künstlerischen, und auch politischen Inhalten. Die Künstler, Veranstalter und Mitglieder der Künstlerinitiative „Kunst ist Leben“ wollen unter anderem darauf aufmerksam machen, wie in den letzten zwei Jahren und nach wie vor mit Künstlern, Kulturschaffenden und der Kunst von politischer Seite umgegangen wird.
„Ich habe mit 6 Jahren angefangen, Geige zu spielen. Zu lernen, zu üben und dann zu studieren. Das ist kein Job. Das ist mein Leben. Und dessen Grundlage wurde mir von der Politik vor 2 Jahren genommen“, sagt Marta Murvai. Sie ist in Rumänien geboren, in Ungarn aufgewachsen, hat in den USA Geige studiert und lebt und arbeitet seit vielen Jahren freischaffend in Deutschland.
Öffentliche Kritik der Künstler an Politik
Die Künstler kritisieren aber auch gesellschaftliche Aspekte, auf die die Politik Einfluss nimmt: „Ich kann schon arbeiten, aber natürlich erschwert“, sagt ein junger Musiker, der gerne anonym bleiben möchte, weil er Konsequenzen fürchtet.
„Es gibt überall immer noch Tanzverbot — und der größte Teil meiner Musik ist tanzbar. Es gibt natürlich die vielen Förderungen, die jetzt leichter zugänglich sind, und die es einem finanziell möglich machen, zu überleben. Aber es stört mich sehr, dass man nur noch mit Impfkontrolle beziehungsweise 2G-Kontrolle in einen Laden rein kann. Ich bin dagegen, dass so ein Social Credit System jetzt über die Hintertür eingeführt wird.“
Der Filmemacher und Regisseur Sebastian Heinzel, dessen Film „Der Krieg in mir“ vom ZDF „Das kleine Fernsehspiel“ mitproduziert wurde, 2019 auf dem bekannten internationalen Dokumentarfilmfestival „DOK.fest München“ lief und am Samstagabend auf dem Festival gezeigt wurde, äußert sich dazu:
„Als Filmemacher habe ich mich entschieden, meine Filme nicht mehr öffentlich zu zeigen, wenn dabei große Zuschauergruppen aufgrund ihres Gesundheitsstatus ausgeschlossen werden. Eine Kinoauswertung meiner Arbeiten ist deshalb gerade nicht möglich. Das ist mir lieber, als einen Kompromiss zu machen, der gegen meine Werte verstößt. Der Zugang zu Kultur muss für jeden möglich sein. Jetzt geht es für mich darum, neue Wege zu finden. Die Kunst muss frei sein.“
Der Schauspieler Burak Hoffmann ist „entsetzt, erschrocken, empört, traurig, wütend, enttäuscht — denn was sind das für Zeiten, wo ein Kunst- und Kulturfestival, nicht nur fast, sondern tatsächlich schon ein Verbrechen ist? Wenn bei solch einer wirklich harmlosen, Angelegenheit, schon solche Zustände herrschen, wie bitteschön, sieht dann unsere Zukunft aus? Es darf niemals soweit kommen, dass man sich als Künstler wegen seiner Kunst verstecken oder sich dafür erklären muss, niemals!“
Ja, die Künstler beziehen Stellung, kritisieren politische Entscheidungen und reflektieren Begebenheiten unserer derzeitigen Gesellschaft, die sie für besorgniserregend empfinden. Ist das ein Grund, das Festival frühzeitig zu beenden?
Nach dem abrupten Abbruch bleibt vor allem auch diese entscheidende Frage: Warum liegt es im Einflussbereich eines lokalen Polit-Blogs, mit so einem wilden und unreflektierten Eintrag von Unterstellungen im Internet dafür zu sorgen, dass ein Kunst- und Kulturfestival abgebrochen wird?
Es ist die Angst. Die Angst vor sozialer Diffamierung und Ächtung. Die Angst vor Ausgrenzung. Die Angst vor unzutreffenden Urteilen und Unterstellungen ohne Anhaltspunkte. Die Angst vor negativer Bewertung von Dritten. Zumindest was die Entscheidung des Pächters angeht. Die beiden Veranstalterinnen sagen, sie hätten den Sonntag trotz des Blog-Eintrags wie geplant stattfinden lassen.
Der Abbruch des Festivals und vor allem die Art und Weise, wie mit den Künstlern umgegangen wurde — die Eintrittsgelder des Sonntags sollten die Künstler finanziell unterstützen — und wie über sie geurteilt wurde, zeigt, wie wichtig und notwendig Kunst und Kultur gerade in diesen Zeiten ist: Um Diskurse anzuregen, zu verbinden und die Konsumenten anzuregen, aufzuregen und zu provozieren. Um Impulse zu geben, wieder miteinander ins Gespräch zu kommen. Und auch um Toleranz zu trainieren. Denn: Wollen wir unter diesen Umständen willkürlicher Zensur weiterleben?
Kritik und Empörung erwünscht
Den Blogbetreibern steht zu, mit den Künstlern nicht einig zu sein, sie für ihre Arbeit und Kunstwerke zu kritisieren, sich sogar lauthals zu empören — dafür ist Kunst da. Das ist ihre Funktion: Sie löst im besten Falle eine Reaktion aus. Die man dann wiederum reflektieren kann. Die Art und Weise, wie in diesem Fall vorgegangen wurde, ohne Anhaltspunkte und ohne ordentliche Recherche, scheint jedoch wie der Versuch, ein Künstlernetzwerk ohne Rücksicht auf Verluste zerschlagen und zerstören zu wollen.
Es scheint: Zu hart sind die Fronten. Zu verhärtet die eigene Meinung. Die beiden Veranstalterinnen Philine Conrad und Marta Murvai hätten einen Anruf der Blog-Betreiber auf ihren Telefonen entgegengenommen. Sie hätten die Herausgeber auch persönlich im Marstall empfangen. Sie hätten sich auch die Vorwürfe und Unterstellungen direkt angehört und sich offen auseinandergesetzt. Sie hätten auch gerne Kritiken gelesen, wenn der Blog und die Süddeutsche Zeitung, die im Anschluss zweifach über den Abbruch berichtet hat, zunächst ohne zuvor Kontakt zu den Veranstalterinnnen aufzunehmen und dann ohne die Stellungnahme der Veranstalterinnen abzuwarten, ordentlichen Journalismus betrieben hätten.
Wie also soll es weitergehen, wenn die Kunst in dieser Form verboten, eingeschränkt und einem gewünschten Narrativ eingenordet bleiben soll? Oder es zumindest Versuche in diese Richtung gibt?
„Gerade in Zeiten von gesellschaftlichen Umbrüchen und Krisen ist die Kunst die Form der Kommunikation, die das Potenzial hat, das zutiefst Menschliche offenzulegen und Impulse für eine Erneuerung der gesellschaftlichen Systeme zu zeigen. Kunst muss frei sein“, sagt Tobias Morgenstern, Akkordeonist und künstlerischer Leiter des Theater am Rand in Oderaue, der am Samstagnachmittag auf dem Festival ein Konzert gespielt hat.
Die Kunst ist frei
Und das heißt, dass ein Kunst- und Kulturfestival, das von Künstlern veranstaltet wird, die sich kritisch mit den politischen Entscheidungen der vergangenen zwei Jahre — und darüber hinaus — auseinandersetzen, stattfinden MUSS! Denn nur wenn es stattfindet, bekommt der Begriff „KunstFREIHEIT“ damit seine Legitimation: Freiheit muss gelebt werden. Eine verbale Proklamation von Freiheit ist noch keine gelebte Realität.
Die Reaktion der Blog-Betreiber zeigt einmal mehr: Das Festival auszutragen war die richtige Entscheidung und wichtig für die Kunstfreiheit in Deutschland. Sie legt den Finger in die Wunde der Kritiker und fördert abwertende Reaktionen wie die der dritten Bürgermeisterin von Berg und ihrem Kollegen Andreas Ammer. Sich offen auseinanderzusetzen, miteinander zu reden und zu streiten, ist jetzt mehr gefordert denn je.
Was der Blog kritisiert, ohne sich mit Inhalten oder den Künstlern auseinandergesetzt zu haben, ist die kritische Haltung gegenüber der aktuellen Politik, den Maßnahmen und wie mit Künstlern und Kulturschaffenden umgegangen wird. Zu dieser Kritik stehen die Gründerinnen von „Kunst ist Leben“, Philine Conrad und Marta Murvai, weiterhin und zitieren mit Überzeugung Artikel 5 des Grundgesetzes: „Jeder hat das Recht, seine Meinung in Wort, Schrift und Bild frei zu äußern. (...) Kunst und Wissenschaft (...) sind frei.“
Für die beiden jungen Frauen, sowie auch für die am Festival und der Initiative beteiligten Künstler steht fest: Sie werden weiterspielen, weitere Festivals organisieren und Kunstprojekte umsetzen. Und sich weiter dafür einsetzen, dass die Kunst und Kultur in Deutschland lebendig, frei und allen Menschen erhalten bleibt. Und dass politisch zweifelhafte Entscheidungen hinterfragt und kritisiert werden dürfen.
Das nächste Festival ist bereits in Planung.
Quellen und Anmerkungen:
Webseite der Initiative: https://www.kunstistleben.info
Der Blog-Eintrag von Q.U.H. e.V.: https://quh-berg.de/kunst-ist-das-eher-nicht/