Eroberung im Handstreich

Die Unterwerfung Lateinamerikas durch europäische Mächte ist ein erschütterndes Beispiel für die Unterdrückung der vielen durch die wenigen. Exklusivauszug aus „Die Eroberung der Alten und Neuen Welt“.

Wenn von den großen Verbrechen der Menschheitsgeschichte die Rede ist, wird eines meist ausgelassen: die Conquista, die Eroberung von Süd- und Mittelamerika durch überwiegend spanische Eroberer im 15. und 16. Jahrhundert. Was wir darüber wissen, beruht überwiegend auf Siegergeschichtsschreibung. Da wird die Anzahl der Opfer schöngefärbt, werden Widerstandsbewegungen der Ureinwohner geleugnet, wird der brutale Vorgang als freiwilliger Kniefall vor der Überlegenheit der christlichen Religion gedeutet. Der Vorgang lässt sich prinzipiell durchaus auf heutige Formen des Kolonialismus übertragen. Das Christentum ist nicht mehr überall das dominierende Narrativ, wenn es um die Umerziehung widerspenstiger globaler „Barbaren“ geht; was geblieben ist, ist jedoch das schier unerschütterliche Überlegenheitsgefühl des Nordwestens, verbunden mit oft beispiellosen Menschenrechtsverletzungen. Hebel für den Prozess der Unterwerfung war meistens die Mitwirkung eines Teils der Unterworfenen, die aus eigennützigen Gründen mit den Kolonialherren kooperierten. Exklusivauszug aus „Die Eroberung der Alten und Neuen Welt: Mythen und Fakten“.

500 Spanier sollen die Mexica unterworfen, maximal 168 den Inkas den Garaus gemacht haben. Die Portugiesen ließen ihre Kanonen von Schiffen aus sprechen. An Land gingen sie nur selten und kurz, um die Kontrolle zu übernehmen. Wilhelm der Eroberer sei an einem Tag im Jahr 1066 durch eine knapp gewonnene Schlacht Herr über England geworden. Gleichzeitig sei die katholische Kirche in wenigen Jahrzehnten widerstandslos zum größten Landbesitzer des europäischen Kontinents aufgestiegen.

Die Geschichtsschreibung macht es sich einfach. Es ist immer die Geschichte derer, die am Ende die Oberhand behalten. Was wird man unseren Nachfahren von der Unterwerfungsoffensive nach der COVID-Ouvertüre überliefern?

Allerdings befriedigen die Erzählungen ein europäisches Überlegenheitsgefühl, dass es wenigen Europäern überall auf der Welt möglich gewesen wäre, ganze Völker zu unterwerfen. Der kolonialen Wirklichkeit entsprach dies nirgendwo.

Die Herrschaft der Mexica wurde ebenso wenig von einem einzigen Konquistador mit 500 Söldnern beiseite gefegt, wie ganz England in einer einzigen Schlacht zur Beute von einigen Tausend normannischen Glücksrittern wurde. Die Unterwerfung in Unterzahl funktioniert allerdings nur, wenn den Opfern die Solidarität untereinander fehlt und zahlreiche Kollaborateure gemeinsame Sache mit der neuen Oligarchie machen.

Aufstände, Revolten und ziviler Ungehorsam sind in unseren Geschichtserzählungen störende Randerscheinungen. Erhalten bleiben sie im kollektiven Gedächtnis meist nur, insofern die Zeitläufte unleugbar verändert wurden, wie bei der Französischen Revolution. Daher ist selbst das Beinahe-Scheitern der kolonialen Expansionen aus den Geschichtsbüchern getilgt. Bernal Diaz del Castillo, der mit Hernán Cortés die Mexica unterwarf, gesteht in seiner „wahrhaften Geschichte der Entdeckung und Eroberung“ ein, wie leicht es hätte ganz anders kommen können, „wenn die Mexica gewusst hätten, wie wenige wir waren und wie müde und erschöpft“ (1).

Die letzte Bastion der Inkas fiel erst über eine Generation, nachdem Francesco Pizarro Atahualpa mitsamt seiner Sänfte umgeworfen hatte. Ganze fünf Jahre tobten nach Williams Sieg von Hastings noch Schlachten, die den neuen Herrscher mehrfach zwangen, große Teile seiner Eroberung mit entsprechender Wertberichtigung in Schutt und Asche zu verwandeln.

Gleichartige Fragen werfen die Ereignisse auf dem europäischen Festland auf. Wieso hätte ein Karl „der Große“ so viele Kriege, wie seine Regierungszeit Jahre hatte, führen müssen, um seine Herrschaft zu festigen? Warum haben noch spätere deutsche Könige und Kaiser immer wieder blutrünstige Übergriffe auf das slawische Osteuropa vorgenommen, wenn sie dort anerkannt und das Christentum willkommen gewesen wäre?

Nicht alleine die angeblichen Missionare Bonifatius, Columban und Gallus bissen bei den naturreligiösen Einheimischen auf Granit und mussten flüchten oder wurden umgebracht. Noch um das Jahr 1100 richteten die Bischöfe der ostsächsischen Bistümer einen Hilferuf an die weltlichen Herrscher im Westen:

„Da wir uns lange schon durch Unrecht und viele Gewalttaten bedrängt sehen, rufen wir Euer Erbarmen an, damit Ihr den zerstörten Bau der Mutter Kirche wieder aufrichtet. Die Heiden haben sich mit unvergleichlicher Grausamkeit gegen uns erhoben“ (2).

Von den Widerständlern haben wir wenige Zeugnisse. Ihre Namen sind meistens vergessen. Wenige brachten es in die Geschichtsbücher. Der Haitianer François-Dominique Toussaint Louverture (1743 bis 1803) ist einer, der sein Land 1804 in die Unabhängigkeit führte.

In deutschen Landen war es Thomas Müntzer (1489 bis 1525), der — im Unterschied zu Martin Luther — in den „Bauernkriegen“ nicht nur eine Glaubensreform, sondern ein Ende des Feudalsystems erkämpfen wollte. Beide bezahlten ihren Versuch zur Herstellung egalitärer Verhältnisse mit ihrem Leben. Eine Geschichte der Revolten, die der Realität näher kommt als eine Abfolge vermeintlich idyllischer Diktaturen, ist jedoch nicht erwünscht. Es ist wohl keine Verkettung unglücklicher Umstände, dass zum 500. Jahrestag der Fürstenpredigt von Thomas Müntzer seine Gedenkstätte in Allstedt „wegen Umbaumaßnahmen bis auf weiteres geschlossen“ ist.

Die Ereignisse von Tenochtitlán, Cajamarca oder Hastings waren wie andernorts lediglich der Auftakt für ein jahrzehnte- oder jahrhundertelanges Ringen um die Oberherrschaft. Eine wehrhafte Inkafestung existierte noch eine Generation. Wilhelm der Eroberer konnte nach 20 Jahren ein Verzeichnis mit den neugeordneten Besitzverhältnissen gerade noch vor seinem Tod fertigstellen. Keineswegs sorgten die neuen Regeln der Eroberer schnell für Frieden und Friedhofsruhe. Die tatsächliche Geschichte aller Länder ist eine Geschichte von Aufständen gegen autoritäre Herrschaftsverhältnisse und asymmetrischen Wohlstand.

Es liegt nicht alleine an der militärischen Unterlegenheit der Bevölkerung, dass die wenigsten dieser Erhebungen eine Unterwerfung beseitigen konnten. Die eigentliche Ursache ist die mangelnde Solidarität der Unterdrückten. Immer wieder reichten selbst minimale Privilegien für kleine Gruppen der Unterworfenen aus, um sie für die Oberschicht als Dienstleister gegen ihre Mitmenschen zu instrumentalisieren.

Obwohl normannische, fränkische und angelsächsische Ritter noch selbst zur Tat ritten, benötigten sie doch Kollaborateure. Ob als Söldner, Richter oder Informanten. Das unterworfene Volk ließ sich fast immer auseinanderdividieren und ermöglichte noch so desaströse Veränderungen zum eigenen Nachteil. Das ist der rote Faden, der sich bis zum heutigen Tag durch alle kolonialen Unterwerfungen zieht.

Vor 500 Jahren hat diese Zusammenhänge der französische Denker Étienne de la Boéthie (1530 bis 1563) in seinem Diskurs „Von der freiwilligen Knechtschaft der Menschen“ zu Papier gebracht (3). Er benennt schonungslos, was autokratische Regimes entstehen lässt und erhält:

„Der Mensch, welcher euch bändigt und überwältiget, hat nur zwei Augen, hat nur zwei Hände, nur einen Leib; alles, was er euch voraus hat, ist der Vorteil, den ihr ihm gönnt, damit er euch verderbe. Woher nimmt er so viele Augen, euch zu bewachen, wenn ihr sie ihm nicht leiht? Wieso hat er so viele Hände, euch zu schlagen, wenn er sie nicht von euch bekommt? Die Füße, mit denen er eure Städte niedertritt, woher hat er sie, wenn es nicht eure sind? Was könnte er euch tun, wenn ihr nicht die Hehler der Spitzbuben wäret, der euch ausraubt, die Spießgesellen des Mörders, der euch tötet?“


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