Ernstfall für Deutschland

Um den Frieden in Europa durchzusetzen, müssen wir die russische Perspektive in Betracht ziehen — vor allem aber sollten wir erkennen, wo unsere eigenen Interessen liegen.

Krieg darf kein Kollateralschaden unserer Außen- und Sicherheitspolitik werden. Das Risiko besteht bereits; wir selbst haben uns, in vorauseilendem „Gehorsam“ den USA, genauer gesagt ihrer bisherigen Regierung, gegenüber in diese Ecke manövriert. Um aus dieser Ecke herauszukommen, braucht Deutschland eine echte sicherheitspolitische Strategie. Wir müssen unsere nationale Interessenlage klar definieren. Es braucht realistische, erreichbare Ziele und verfügbare Mittel, vorweg eine einsatzbereite Bundeswehr. Auszug aus: Erich Vad: „Ernstfall für Deutschland. Ein Handbuch gegen den Krieg“, Westend Verlag

Deutschland ist erstens Deutschland, zweitens Europa und drittens nicht die USA

Seit Kurzem haben wir eine solche Strategie, zumindest auf dem Papier. Nimmt man diese Strategie jedoch inhaltlich auseinander, bleiben nur Gemeinplätze übrig, auf die sich die beteiligten politischen Parteien mit Müh und Not einigen konnten. Aus moralischer Sicht sind diese Allgemeinplätze durchaus wertvoll; es sind hehre Ziele. Doch es geht in der Weltpolitik nicht um Moral, sondern um knallharte Fakten und nationale Interessen, um Macht und Einfluss, Sicherheit und Stabilität. Wir müssen unsere Schäfchen ins Trockene bringen, im Idealfall gemeinsam mit den Schäfchen Europas. Gerne tun wir uns dabei mit den USA zusammen, aber auch andere Staaten und geopolitische Akteure haben attraktive Schäfchen, die sich gut mit unseren machen.

Um es zusammenzufassen: Wir brauchen stabile Beziehungen zu Russland, China und den BRICS-Staaten beziehungsweise zum Globalen Süden.

Wir brauchen keine blinde Bündnistreue gegenüber den USA und der NATO, sondern eine Partnerschaft, die ihren Namen verdient. Das heißt, wir müssen in der Lage sein, etwas einzubringen, zum Beispiel geopolitischen Einfluss oder militärische Stärke, was für unsere Partner attraktiv ist. Im Gegenzug nimmt man uns und unsere nationalen Interessen in dieser Partnerschaft ernst, stärkt unsere Sicherheit — statt sie wie zuletzt aufs Spiel zu setzen — und sichert so gemeinsam den Frieden. Nebenbei bemerkt ist es wichtig, unsere Handelsbeziehungen zu den USA zu erhalten, wir profitieren davon, selbst wenn China der wichtigste Handelspartner für Deutschland und die Europäische Union ist.

Wir brauchen keine weiteren Stellvertreterkriege, sondern Einfluss. Nur dann können wir auf politische Lösungen drängen. Dafür müssen wir unsere nationalen Interessen kennen, aber auch die Interessen anderer.

Ein großer Teil unseres Einflusses kann aus unserer Wirtschaftsmacht kommen. Wir müssen diesen Einfluss ausbauen — dafür sind wiederum stabile wirtschaftliche und politische Beziehungen zu unterschiedlichsten Akteuren nötig — und nutzen. Mit Einfluss können wir politische Mittlerrollen übernehmen, zum Beispiel in den Konflikten zwischen den USA und China oder zwischen den USA und Russland, die vielen Problemen zugrunde liegen.

Wir brauchen Vernunft, kein Wunschdenken. Die nationalen Interessen anderer Staaten verschwinden nicht. Dafür müssten wir diese Staaten auslöschen, wozu wir kaum in der Lage wären und was auch nicht zwangsläufig in unserem Sinne ist. Solange unsere nationalen Interessen nicht gefährdet sind, sollten wir uns grundsätzlich nicht in die inneren Angelegenheiten und Interessensphären anderer strategischer Akteure einmischen. Es sei denn — und hier werden wir unserem moralischen Anspruch gerecht —, wir haben ein Mandat der Vereinten Nationen. Überhaupt sollten wir als Weltgemeinschaft die Vereinten Nationen aktiv nutzen, um Konflikte frühzeitig politisch aufzufangen und Streitigkeiten zu lösen.

Wir brauchen Sicherheit, die wir selbst schaffen und selbst verantworten; eine Kombination aus Diplomatie und Dialogbereitschaft auf der einen Seite und militärischer Stärke auf der anderen. Ganz ohne die USA und die NATO wird es in absehbarer Zukunft jedoch nicht gehen. Hier müssen wir eine Balance aus beidseitigem Nehmen und Geben schaffen — umso wichtiger ist es, uns zu einem Partner zu entwickeln, der etwas geben kann.

Wir brauchen aber auch den europäischen Zusammenhang — oder besser: Zusammen*halt*. Deutschland kann eine zentrale Rolle in Europa beziehungsweise in der Europäischen Union spielen, aber wir sind darauf angewiesen, dass Europa sicherheitspolitisch gemeinsam tätig wird und als echte Sicherheits- und Verteidigungsunion zusammenwächst. Wir müssen versuchen, die Spaltung Europas, die bereits im Gange ist, aufzuhalten und rückgängig zu machen. Globale Bedeutung erreicht Europa nur gemeinsam.

Wir brauchen die Partnerschaft der USA in der NATO, solange die europäischen Länder nicht in der Lage sind, selbst einen ernstzunehmenden europäischen NATO-Eckpfeiler aufzubauen. Aber wir brauchen auch eine USA, die nicht darauf aus ist, sich andere Länder untertan zu machen oder sie unter moralischen Vorwänden im amerikanischen Interesse ins Visier zu nehmen.

Ich erwähne es noch einmal ausdrücklich, obwohl es in all den oben genannten Forderungen bereits enthalten ist: Wir können die Stationierung von amerikanischen Mittelstreckenraketen in Deutschland nicht gebrauchen — es sei denn, wir verbinden sie mit amerikanischen Garantien, russischen und amerikanischen beziehungsweise westlichen Abrüstungsmaßnahmen und einer Erneuerung des INF-Vertrags. Wenn wir diese Stationierung zulassen, ohne uns durch Abrüstungsverhandlungen abzusichern, würden wir Deutschlands Sicherheit nicht erhöhen, sondern gefährden.

Wir müssen unseren nationalen Überlebensinstinkt wiedererwecken und alles dafür tun, den Krieg in der Ukraine politisch zu beenden. Dafür müssen wir die Sicherheitsinteressen Russlands ebenso ernst nehmen wie die der Ukraine.

Vor allem müssen wir andere dazu bewegen, am selben Strang mit uns zu ziehen. Wir dürfen nicht abwarten, bis die USA den Ukraine-Krieg und ihren Konflikt mit Russland europäisieren — also das Risiko und die Verantwortung für einen Krieg, der trotz allem im amerikanischen Interesse ist, auf Europa abwälzen, während sie sich selbst zurückziehen.

Kurz gesagt: Wir dürfen Deutschlands Bedeutungsverlust nicht hinnehmen. Ohne Bedeutung können wir nichts erreichen, mit jedoch alles, was für unser Land wichtig ist.

Eine Strategie, die Deutschland die Richtung weist, darf gerne auf dem Papier etwas hermachen, sie muss aber vor allem praktiziert werden. Dafür muss sie konkrete sicherheitspolitische Fragestellungen mit konkreten deutschen Zielen beantworten. Sie muss unsere Außen- und Sicherheitspolitik leiten: Hier will und muss Deutschland hin. Wie sorgen wir zum Beispiel für unsere Energiesicherheit? Was würde eine Abkopplung von China für Deutschland bedeuten? Wie können wir alternativ stabile Beziehungen zu nicht ganz unproblematischen Ländern wie China oder Russland aufbauen, ohne uns in Abhängigkeit zu begeben? In welcher Form können wir den USA verbunden bleiben und trotzdem unseren eigenen Interessen gerecht werden? Wie können wir den europäischen Pfeiler der NATO stärken und das Bündnis zu seiner defensiven Ursprungsaufgabe — der Verteidigung — zurückführen? Wie verschaffen wir der EU geopolitisches Gewicht? Wie gehen wir in unserem Interesse mit den BRICS-Staaten um?

Ist die Wiederherstellung der Einsatzbereitschaft der Bundeswehr finanziell nachhaltig sichergestellt? Wie lässt sich verhindern, dass der Krieg in der Ukraine in einen begrenzten Nuklearkrieg umschlägt und die NATO zur Kriegspartei wird? Es braucht eine gesamtstaatliche Analyse und eine rechtzeitige nationale Gesamtstrategie, um Fragen wie diese für Deutschland zu lösen. Der Bundessicherheitsrat als zentraler sicherheitspolitischer Ausschuss des Bundeskabinetts wäre der richtige Ort dafür — man sollte ihn viel stärker für alle zentralen Themen nutzen, die unsere nationale Sicherheit betreffen.


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