Erinnerungen an Gaza
Eine deutsche Autorin schreibt an ihre Bekannten in der umkämpften Zone. Ob sie die Adressaten erreicht, bleibt unklar — vielleicht sind diese schon nicht mehr am Leben.
„Die Palästinenser“ oder „die Bewohner von Gaza“. Viel wird über sie geschrieben, aber nur als ein vages Kollektiv, von dem man sich meist keine Vorstellung machen kann. Es wird Zeit, diesen Menschen Gesichter und Namen zu geben, sie als Einzelpersonen anzusprechen, die Familien haben und Berufe, Träume, Hoffnungen und Ängste. Die Autorin war „dort“ und hat viele interessante, liebenswerte Menschen kennengelernt. Heute ist es ihr nicht mehr möglich, nach Gaza zu reisen. Wie wird es ihren Bekannten ergangen sein — den Frauen, Männer und Kindern? Haben sie ihre Heimat, haben sie Angehörige verloren? Leben sie in Todesangst? Leben sie überhaupt noch? Es bleibt die Möglichkeit, in Gedanken zu ihnen zu sprechen, mit wenig Hoffnung auf eine Antwort.
Opferfest in Gaza? — Haltet ein!
Heute sagen die Nachrichten: 600.000 Menschen in Gaza vom Hungertod bedroht // Siedler planen erste Projekte in Gaza „A house on the beach is not a dream“ (1).
Ich habe noch den betörenden Duft in der Nase, der aus den Gärten der großen Häuser kam. Hinter den Mauern der alteingesessenen Familien-Höfe verströmten zu Hunderten die Blüten der Zitrusbäume ihren unvergleichlich süßen Duft in die Straßen von Gaza und — ohne dass man sie sah — wurde man umhüllt von diesem betörenden Geruch von Orangen, Zitronen und Mandarinen. Das ist mein bleibender Eindruck von Gaza.
Wonach riecht es heute — nach Tod?
Gibt es sie noch, diese uralten Bäume, die gegen alle Widrigkeiten jedes Jahr erneut erblühten? Wie auch dieses Jahr 1997, als ich im November durch das CIM-Programm der Bundesrepublik (2) begann, für zweieinhalb Jahre im „Ministry of Housing“ (MOH) der Palästinensischen Autonomiebehörde als sogenannte Integrierte Expertin für Wohnungsplanung zu arbeiten. Der Minister Abu Hamad kam aus Ghaza, deshalb war hier die Zentrale.
Gaza Streiflichter — Hoffnungen
Fragen an Dr. Ibrahim, Kollege im MOH
Hat Dir Dein Doktortitel irgendwie genützt? Konntest Du irgendwann gehen und einen höheren Direktor-Posten näher an der Regierung in Ramallah bekommen und den zunehmenden Bedrohungen in Gaza entfliehen?
Du kamst aus der ehemaligen Sowjetunion, hattest in Leningrad Architektur studiert, warst vielleicht insgeheim noch Kommunist und träumtest davon, Deinem Volk mit einem guten Wohnungsbauprogramm nützlich zu sein. Aber da war wenig zu planen, eine Enttäuschung. Warum?
Es gab kaum verfügbares Bauland. Die alteingesessenen Familien wollten ihr Land möglichst nicht in fremde Hände geben, und wenn, dann nur zu hohen Preisen.
Das in Gaza noch aus den osmanischen Zeiten vorherrschende sogenannte Staatsland „Miri“ oder „Waqf“, Stiftungsland, zum Schutz des höchst sensiblen Ökosystems der Dünen aus fruchtbarem Sand und tief liegenden Wasserläufen, war noch zu den Besatzungszeiten bis 2005 als „Israels Staatsland“ konfisziert worden; ein „legaler“ Schritt zur Enteignung palästinensischen Bodens, der seit der Staatsgründung auch in der Westbank und in Jerusalem angewandt worden war, weil noch alle unter der Mandatszeit gültigen Bodengesetze zum Vorteil Israels genutzt wurden: Osmanisches Bodenrecht und Britisches Planungsrecht (3).
Es war nun für den Bau von Kolonien für Neu-Einwanderer vorgesehen, die, wie es in den Werbebroschüren der WZO, World Zionist Organisation, aus Washington hieß, das „Hawaii Israels mit seinen unendlichen Stränden“ wegen der angeblich Jahrhunderte langen geringen Besiedlung neu beleben sollten (4).
Und was an Bauland noch übrig blieb, wurde internationalen Hilfsprojekten zur Verfügung gestellt, zum Beispiel für die Luxus-Wohnanlage der Italiener oder den mehrstöckigen Massenwohnungsbau der Japaner in unserem Viertel nördlich des Zentrums; oder für die neue Beduinensiedlung nahe Erez, dem Grenzort zwischen der Gaza-Region und Israel, in einem Tal, eher einem Loch, das immer voll Wasser lief und sich in einen Sumpf voller Mücken und Fliegen verwandelte, sobald es einmal heftig genug geregnet hatte. Im Grunde ließen sich die Beduinen nicht einfach in feste Häuser sperren. Wie bald war dieses so „sauber“ geplante Viertel zu Deinem Entsetzen wieder zu einem Mix aus Tierställen, Zelten und Wellblechanbauten geworden.
Ja Ibrahim, es war einfach wenig Raum für Deine Träume. Hast Du Dich mit Deiner Familie nach der Hamas Wahl retten können?
Fragen an Abu Saleem: Wo bist Du jetzt?
Du warst der Chef der Herz-Chirurgie im Naser Krankenhaus. Du hattest gute Kontakte geknüpft mit den Herz-Experten des Hadassah-Krankenhauses in Jerusalem, wenn Du mit Deiner Kunst am Ende warst und dringend Hilfe benötigtest, weil Ihr nicht die notwendigen Maschinen hattet. Und wie oft warst Du untröstlich, wenn diese Hilfe versagt wurde und bürokratische Hürden lebensrettende Behandlungen verunmöglichten ... wie bei Atefs Vater, der nach seiner Herzattacke einfach nicht rechtzeitig die Herzchirurgie in Ramallah erreichte, weil die Ambulanz nicht aus Erez schnell genug herausgelassen wurde.
Bist Du rechtzeitig ausgewandert? Oder nach der Aktion „Gegossenes Blei“ (5), dem Desaster im Dezember 2008, nach Ramallah gezogen? Das plantest Du nach dieser damals schon eine für viele Zivilisten tödlichen Antwort auf Angriffe der Hamas, deren Ideen Du nicht teiltest und für falsch hieltest.
Du warst mein zweiter Vermieter. Mit meinem über achtzigjährigen Vater, der nicht in Berlin zurückgelassen sein wollte, kam ich bald nach unserer Ankunft in Dein gastfreundliches Haus in der Doha Straße im Rimal-Viertel; nicht weit von Arafats Sitz, seinem ersten nach den Oslo Friedensverhandlungen (6). Von meinem Balkon aus konnten wir die Hubschaber kommen und gehen sehen, die ihn nach und von Ramallah brachten, in die „Moqata’a“, seinen Haupt-Regierungssitz. So wussten wir immer, wann er in Ghaza war.
Umm Saleem, Deine lebenslustige Frau, Schuldirektorin, die Du aus dem türkischen Cypern „wegen ihrer blonden Haare“ nach Gaza brachtest, ging nach ihrer Mekka-Pilgerreise außer zur Arbeit kaum noch aus dem Haus. Sie überließ Dir die täglichen Einkäufe für die große Familie und manchmal nahmst Du mich mit, um im Basar Obst, Gemüse oder Fleisch zu kaufen. Du wusstest Abhilfe, als uns das Heimweh packte und ich unbedingt etwas „wie zuhause“ kochen wollte: Hühnersuppe. „Geh zu Abu Daschasch!“
Ich vermisse Euch. Wo seid Ihr bloß?
Fragen an Abu Daschasch
Du rettetest meinen Traum von einem deutschen Hühnersüppchen!
Du warst aus Kuweit gekommen, warst Ingenieur, wolltest nach Oslo zu Deinem Geburtsort zurückkehren, weil es so schien, als könne man hier eine neue Zukunft aufbauen. Leider war dem nicht so – es gab keine Arbeit für Dich. Du hattest alles aufgegeben, von Deinem Ersparten ein schönes Haus gebaut und nun – nach den wenigen Jahren danach – züchtetest Du in Deiner Garage Hühner, um zu überleben. Hühner waren das günstigste Fleisch und in jedem Haushalt wurde es zumindest ab und zu für „Maqlube“, das „Umgekehrte“ gekauft.
Auf den Rat Abu Saleems ging ich hinüber zu Dir, hinter dem Tor war bereits das Gegacker Deiner Hühner zu hören. Du öffnetest und zeigtest auf Deine gut genährten Tiere in den Käfigen und ludst mich ein, das richtige für mich auszusuchen. Es fiel mir schwer und alles Weitere sowieso: „B’ismi’llah“ und das Beil sauste herab! Wenn man das vergessen konnte, schmeckte die Hühnersuppe allerdings köstlich und wie „zuhause“.
Bist Du zurück nach Kuweit geflohen? Was ist aus Deinen Hühnern geworden?
Fragen an Dr. Maher, Kollege im MOH aus dem Flüchtlingslager Djabalia
Bist Du mit Deiner zum Islam konvertierten russischen Frau und Studienkollegin aus Leningrad und den Kindern noch rechtzeitig entkommen?
Du nahmst mich mit zu den Familien in Djabalia und wir schrieben zusammen wirkungslos gebliebene Berichte zur Wohnsituation in den Flüchtlingslagern, für die sich die UNO nicht ernsthaft interessierte, für die ich aus unserer Untersuchung einen umfassenden Bericht zur Wohnungsmisere in der Westbank, Ost-Jerusalem und in Gaza erstellt hatte.
Auch Ihr hattet immer wieder Hoffnungen auf eine gute und sichere Zukunft. Ich war bei Euch in Djabalia zum Grillen am 14. Dezember 1998 eingeladen, dem Tag, an dem Bill Clinton mit seiner Frau Hillary bei Arafat in Gaza zu Besuch war, um mit ihm den von Deutschland mitfinanzierten „International Airport“ in Rafah einzuweihen.
Zum ersten Mal war die US-amerikanische National-Fahne neben der palästinensischen überall zu sehen – die Kinder hatten sie auf ihre Fahrräder montiert, die Gaza-Fischereiflotte im Hafen war mit ihnen geschmückt, an allen öffentlichen Gebäuden hingen sie beide einträchtig nebeneinander – zumindest für diesen einen Festtag!
Es sah doch alles nach einem zukünftigen unabhängigen Staat Palästina aus ...
Du hattest in einem versteckten Shop Bier „Extra für Dich!“ gekauft, obwohl ich gar nicht danach verlangt hatte. Zuhause angekommen, trankst auch Du heimlich Alkohol, nämlich aus den Wassergläsern, die dieses Mal offenbar nicht wie üblich mit Wasser, sondern mit dem ebenfalls in diesem Shop organisierten Wodka bis an den Rand gefüllt waren. Ich merkte es erst an Deinen glänzenden Augen, Deiner lockeren Sprache und den kleinen Anzüglichkeiten gegenüber Deiner deutschen Kollegin.
Ich frage mich wie es Euch geht? Olga, Du hofftest auf eine sichere Zukunft nach dem Chaos in den vergangenen Jahren im ehemaligen Sowjetstaat – und nun? Wohin?
Fragen an die ausgelassenen Beduinen-Kinder in Rimal
Habt Ihr Familien gegründet, Kinder großgezogen – die nun hoffnungslos auf engstem Raum in den UN-Schulen von Khan Yunis oder Rafah Schutz suchen? Oder fielen sie schon den ersten Bomben auf Rimal zum Opfer, der früher spärlich bebaute und inzwischen dicht besiedelte Stadtteil nahe dem Stadt-Zentrum?
Diese Kinder der Beduinenfamilien, die 1948 hier im Gazastreifen ‚steckengeblieben’ waren und nie mehr nach Bir Saba/Bersheva zurückkehren konnten, führten schon früh vor der Schule die Ziegen der Familien zu den Müllcontainern, die aus einem bundesdeutschen Hilfsprogramm stammten. Aber wie dumm war alles eingerichtet!
Die Kinder brachten die vielen Mülltüten zum Container und weil alles für sie unerreichbar hoch war, warfen sie die Tüten zwar in die Höhe, aber zumeist fiel alles daneben. Die mitgebrachten Ziegen freuten sich über das, was sie daraus fressen konnten und so war Gaza überall, auch auf unserem damals noch nicht bebauten Nachbargrundstück von Plastiktüten und dem „Restmüll“ übersät – perfektes Müllentsorgungssystem?
Da hatte niemand noch einmal nachgeguckt, ob das funktioniert – und mein Hinweis darauf wurde nur quittiert mit „Hauptsache Programm erfüllt!“
Auf dem Weg zur Schule begleiteten mich diese aufgeweckten Kinder mit ihren schwarz umrandeten Kochol-Augen mit großer Neugier bis zu meinem Ministerium: „Woher kommst DU Fremde? Wie heißt DU?“ Jeden Tag dasselbe Spiel. Schon von weitem riefen sie sich zu „Al Aschnabije! Al Achmar“! „Die Fremde!, die Rothaarige!“ und immer dieselben Fragen. Das war die Morgenschicht. Dasselbe geschah auf meinem Heimweg, wenn die Nachmittagsschicht in die Schule ging – und wehe ich machte nicht mit!
Wo ist die Fröhlichkeit der Kinder, wo ihr Spiel geblieben?
Fragen an Ahmad, Abu Schai, zuständig für Tee und Kaffee im MOH
Welches Schicksal hat Dich ereilt?
Er war einer der vielen älteren Männer, ehemalige politische Gefangene, die jahrelang in israelischen Gefängnissen verbracht hatten, gefoltert worden waren und nun frei waren und unter der Autonomie-Regierung einen kleinen Posten in der Verwaltung bekommen hatten, der ihren Lebensunterhalt sichern sollte. Selbst im Ramadan, wenn wir alle später anfingen und früher gehen konnten, saßest Du vor Deiner Teeküche – obwohl es keine Beschäftigung für Dich gab. Dann lasest Du eben den Koran für uns alle laut vor Dich hin.
Was hat Dir die Politik im Widerstand eingebracht? Schon wieder Leid und Martyrium?
Fragen an M.A. Reema, attraktive und selbstbewusste Kollegin im MOH
Als studierte Tochter einer angesehenen christlichen Familie in der PLO-Hierarchie in Washington hatte sie im Ministerium einen Posten für soziale Fragen bekommen, verbrachte dort aber nur lustlos den Tag.
Deine glamouröse Hochzeit in Washington mit einem berühmten jungen Mann aus dem Widerstand, einem Muslim, war etwas Besonderes gewesen und nun saßest Du hier im Dorf bei dessen Familie fest. Oslo gab ihm die Möglichkeit, nach Gaza zurückzukehren und hier in der Autonomiebehörde eine Rolle einzunehmen. Seine Familie hasste deine Freizügigkeit, deine Unabhängigkeit und auch deine Frechheit. Sie machte Dir das Leben schwer „Trag doch mindestens ein Kopftuch“, hörtest Du jeden Tag.
Im MOH lasest Du eigentlich nur Zeitung, schautest ins Fernseh-Programm und lackiertest die Fingernägel, schon von weitem roch jeder das Aceton – das war Deine Art des Protestes gegen all das, was um Dich war und Dir missfiel.
Sobald es Mittag wurde, kamst du zu mir, „Lass uns ins ‚Café Wien’ gehen“, der Hit unter den neuen Geschäften. Die Besitzer waren Palästinenser aus Österreich und ebenfalls mit großen Hoffnungen gekommen – hier gab es den besten Cappuccino und Croissants! Welch ein Luxus!
Oder wir gingen in das kleine Café in dem neuen „Arts and crafts village“, Darat al Fanun, Künstler-Treffpunkt und ein wunderschöner Komplex mitten im Zentrum. Ein Bau aus Lehm in traditionellem Dorf-Design mit Kuppeln, Windlöchern und ornamentalen Fliesen, das der Sohn unseres Ministers, ein Architekt, als Experimentbau errichtet hatte. Er hatte in Algier besonders den modernen Lehmbau studiert, dort, wohin seine Familie nach dem „Schwarzen September“ in Jordanien 1971 exiliert war, nachdem die Widerstandsgruppen der diversen Fraktionen der PLO und die Führung der PLO das Land gesammelt verlassen mussten und zunächst in Algerien Zuflucht fanden (7).
Lehm, das traditionelle Baumaterial in Gaza – so die Philosophie – ist genügend vorhanden, umweltfreundlich, klimagerecht und billig. Auch ein schönes Hotel und einzelne Wohnbauten kamen später dazu.
Das Museum wurde leider mehrfach, zuletzt 2018, durch gezielte Bomben zerstört, ein Verlust von aktueller palästinensischer Kunst, Tradition und Geschichte.
Reema, Du hattest die besten Beziehungen zur amerikanischen Botschaft in Tel Aviv. Du wirst nicht geblieben sein. Du wolltest, dass Deine Tochter Lina alle Chancen haben sollte, wünschtest für sie Ballett-Unterricht, Sport, Musik, eine gute Schule und ein anderes Leben als in Gaza. Ich hoffe, dass Du ihr diesen Wunsch erfüllen konntest. Ich wüsste es gern. Was ist aus dem „Arts and Crafts Center“ geworden?
Habt Ihr die Hamas-Regierung gut überstanden? Wo bist Du ‚gelandet’?
Gedanken zur Berlin Apotheke
Das Unglaublichste gab es in Gaza, seit es Rückkehrer gab, die den Mut hatten, nach Oslo ihr Leben in Gaza neu zu beginnen. So auch zwei Apotheker aus Berlin. Mit Hilfe ihres Berliner Chefs, immer noch unterstützt durch ihn und dadurch mit einem großen Sortiment an Medikamenten und Hygieneartikeln ausgestattet, hatten sie nahe unserer ersten Wohnung eine gut gehende Apotheke, die „Berlin Apotheke“ aufgebaut. Hier bekam man alles, selbst Zahnpasta und was weiß ich noch. Wunderbar!
In der ersten Zeit, wenn ich abends aus dem Ministerium kam, ging ich mit meinem alten Vater auf der schlecht ausgebauten Straße mit tausenden Untiefen und Löchern, sodass er sich allein gar nicht dorthin getraute, in die Berlin Apotheke, um Heimatlaute zu hören und ein Schwätzchen über Berlin zu halten. Erholung pur!
Gibt es Euch noch? Ich finde Euch nicht mehr wieder auf dem nun nicht mehr aktuellen Stadtplan von Gaza City.
Gedanken zur Doha Street
Später, als wir schon bei Abu Saleem wohnten, machten wir unseren Abend-Spaziergang hinunter zum Meer, vorbei an den Beduinen-Kindern, die uns schon kannten und immer wieder dasselbe Spiel begannen „Whats your name?“
Es gab ein kleines Restaurant mit Blick auf die Dreieckssegel der traditionellen flachen Boote auf dem Meer, die sanft hin und her gestakt wurden und Ruhe ausstrahlten. Ein Ort, um den Sonnenuntergang zu genießen. Hier gab es bis zu Beginn des Ramadan sogar Bier – auch das ein wunderbarer Luxus!
Eines Abends war es spät geworden und schon dunkel. Mein Vater konnte kaum mehr durch den schweren Sand der unbefestigten Straße gehen. Wir suchten eine Abkürzung, fanden einen Umweg, machten immer wieder Pause und verirrten uns ein wenig. Autos kamen hier nicht vorbei, wir waren etwas verloren. Dann wurde ein Eselskarren unsere Rettung!
Mein Vater war glücklich, darauf klettern zu dürfen und kutschiert zu werden. Aber wie sollten wir dem „Chauffeur“ unser Ziel verständlich machen? Ich versuchte es auf alle möglichen Variationen der Aussprache des Wortes Doha. Ich dachte, die Hauptstadt von Katar müsste doch jedem hier geläufig sein und der Straßenname ebenfalls. Aber nein! Erst als ich sagte „Beit Abu Saleem“, das Haus von Abu Saleem, war alles klar und wir kamen glücklich zuhause an.
Die Straßennamen, haben die nach der enormen Zerstörung überhaupt noch eine Bedeutung?
Fragen an Sufian, Abu Sayara, meinen Lieblings-Taxifahrer
Bist Du schließlich noch offizieller Fahrer bei der UNDP geworden? Denn das war Dein Traum.
Wie die meisten Bewohner Gazas warst Du Flüchtling von 1948, musstest als Kind mit Deiner Familie aus Majdal-Ashqelon fliehen und konntest Vieles über Flucht und Vertreibung berichten.
Wir baten Dich um eine Tour. Ich wollte meinem Freund Friedhelm, der aus Deutschland zu Besuch gekommen war, einen Einblick in die Situation im Gaza-Streifen geben.
„Bitte arabische Musik für meinen Freund, Abu Sayara!“ Wir gingen in einen Laden für CD’s, „Bitte etwas von Um Koulthum!“ „Nein, bloß nicht,“ meintest Du „die singt doch stundenlang immer nur das Gleiche „Behebak, Behebak, Behebak ,...“! (etwa: Ich liebe Dich, ich liebe Dich, ich liebe Dich ...).
Die ägyptische Sängerin Um Koulthum war, ist eine Heilige, mindestens für die Palästinenser der älteren Generation. Jeden Abend um 17.00 Uhr gab es ein israelisches Programm, in dem für eine Stunde nur Um Koulthum zu hören war. Man erzählt sich, dass der sogenannte 6-Tagekrieg genau zu dieser Stunde begonnen wurde, als ganz Palästina vor dem Radio saß, um sie zu hören.
Abu Sayara wünschte sich palästinensische Songs von der Gruppe „Sabreen“. Ok!
Und es ging schon fast los. Aber dann zeigte er auf ein Paketchen vor der Windschutzscheibe, das er gerade von der Post abgeholt hatte. Er zog ein weißes, modernes Hemd von seiner Schwester aus den USA heraus: Stolz präsentierte er sich uns. „Zai YU EN DI BI!“, und er meinte, damit würde er ebenso schick aussehen wie die Leute von der UNDP, dem United Nations Development Programm, von denen er einige internationale Mitarbeiter im Taxi gefahren hatte, die in diversen Hilfsprojekten der Vereinten Nationen in Ghaza tätig waren (8).
Wo bist Du Abu Sayara? Wo ist Deine Familie? Seid Ihr irgendwo sicher?
Fragen an Yousef Abu Safiye, den heimlichen „Umwelt Minister“
Wie oft waren wir zum Tee in Deinem märchenhaften Garten in Beit Lahiya eingeladen. Das war Dein Land!
Als Professor für Geografie an der Al Azhar Universität kanntest Du Dich in allen Details aus, was Land, Boden, Pflanzen und Tiere anging — ein wandelndes Lexikon. Von Dir konnte man lernen!
Dir ging es um Ausbildung der Jugend, dass sie sich mit ihrer Umwelt beschäftige, dass sie sorgsam mit der Natur umgehe, sie kennen lerne, sie pflege und für die Zukunft erhalte.
Du warst deshalb im Auftrag der Regierung überall in der Welt und zu allen Umwelt- Konferenzen für Deine Mission unterwegs. Du sahst die Gefahren der Zerstörung, durch die Besatzung, aber auch durch eigene Hand. Der für das ökologische Gleichgewicht so kostbare Dünensand wurde mehr und mehr abgebaut, verkauft und von großen LKWs nach Israel für die Neubauten in den großen Städten und Siedlungen abtransportiert. Eine Katastrophe für den Wasserhaushalt!
Hast Du irgendwo Gehör gefunden? Bist Du immer noch unterwegs?
Ich vermisse Dich und Deine wunderbaren Geschichte über Dein Land. Wohin mag es Dich vertrieben haben (9)?
Gedanken zum Ramadan in Gaza
Ramadan ist eine besondere Zeit. Es gibt anderes Brot, es gibt spezielle Backwaren. Man wird zum „Iftar“, dem Fastenbrechen eingeladen, es ist ein gesellschaftliches Ereignis.
Wir hatten es aber irgendwie nicht richtig begriffen. Ich war mit meinem Vater in der Stadt einkaufen gewesen und wir wollten schnell mit dem Taxi nach Hause fahren. Taxi ist nicht richtig gesagt, denn jeder, der ein Auto hatte, nahm Dich mit, wenn Dein Ziel auf seinem Weg lag. Man machte ganz absonderliche und lustige Bekanntschaften auf diese Weise und man kam immer sicher dort an, wo man hinwollte. Alle machten es so. Aber das gab es nur in Gaza. Man zahlte nur einen Schekel! Ein Schekel bedeutete zu unserer Zeit sechs Chubbes, sechs Fladenbrote! Zwei oder drei Mitnahmen und das Abendbrot für die Familie war gesichert! Leider hat Arafats Frau Suha diesem Broterwerb ein Ende bereiten wollen, sprach von Verbot und wollte ein modernes, sicheres Taxigewerbe einführen. Das wird es jetzt vielleicht geben – aber nützt es noch?
Also wir waren bereit, ins nächste Auto zu steigen — aber es gab keines. Wir gingen langsam in Richtung unserer Wohnung weiter, immer auf ein Auto hoffend — aber es war leer in Gaza Stadt. Dann fiel es uns ein: Es war kurz vor dem Sonnenuntergang! Alle Menschen waren doch zu Hause! Das Essen war fertig vorbereitet, stand schon auf dem Tisch bereit und alle warteten nur noch auf den Ruf aus der Moschee, damit das Essen beginnen konnte. Iftar!!! Dass wir das vergessen konnten!
Dann gab es noch eine Überraschung. Gegen vier, fünf Uhr frühmorgens — es war noch dunkel – hörten wir draußen Trommeln und Gesänge. Nach alter Tradition zogen kleine Gruppen durch die Wohnviertel und weckten die Menschen zu einem letzten Essen vor Fastenbeginn, vor dem Aufstehen. Auch bei Abu Saleem, der unter uns wohnte, hörten wir nun jede Nacht für eine kurze Zeit Küchengeräusche, Geschirr klappern und Gespräche — bis sich offenbar alle wieder hinlegten, denn Arbeitsbeginn war in der Ramadanzeit eine Stunde später als sonst, wenn nicht gar noch später.
Wir waren zu vielen Iftars eingeladen. Am lustigsten waren die auf dem Lande. Es wurden Decken und Kissen ausgebreitet, Zeitungen auf dem Boden ausgelegt und darauf platzierten alle das, was sie mitgebracht hatten: Fallafel, Chubbes, Humus, Fischl, also Rote Beete, Humus wa Lahme, Tabouleh, Baba Ghanusch, Mutabbal, Hühnchen ... ein fröhliches Beieinander und Durcheinander.
Tradition und Geselligkeit – wann gab es die zuletzt?
Fragen an Abu Ussama im Rafah Refugee Camp
Wir besuchten ihn im Flüchtlingslager, ihn, den Vater von Ussama, der Dozent für Architektur und Planung an der Birzeit Universität bei Ramallah und dort mein Kollege war, wenn ich im Rahmen unserer Uni-Partnerschaft unterrichtete. Er hatte in Berlin studiert. Nur selten fand er den hindernisreichen Weg nach Rafah, weil er sich nach Israelischer Lesart illegal in der Westbank aufhielt. Aber dieses Mal kam er und ging mit uns, mir, meiner Kollegin Afnan aus Ramallah und der Bibliothekarin bei der Deutschen Botschaft in Tel Aviv nach Rafah. Sie hatte von wandernden Handwerksburschen aus Deutschland Geld für Hilfe im Gazastreifen bekommen und nun sollten wir das Richtige finden. Ussama entschied, dass wir Kinderkleidung kaufen sollten, auf dem Gaza-Markt, damit auch dort etwas Geld hängenbliebe.
Mit großen Paketen kamen wir in den Hof der kleinen Hütte, in der Ussama mit seinen Geschwistern aufgewachsen war, inmitten des riesigen dicht bewohnten Flüchtlingslagers: enge Gassen, enge Wohnungen, Wellblechdächer, hier und da neue Anbauten – wie meistens illegal, ohne Genehmigung. Von wem auch?
Ussamas Familie war 1948 aus Askalan/Ashkelon vertrieben worden — und so unglaublich das klingen mag, Abu Ussama war noch bis vor kurzem täglich auf den Arbeitsmarkt von Ashkelon gegangen, um als Tagelöhner auf dem Bau zu arbeiten und Geld mit nach Hause zu bringen. Aber zurzeit war da nichts mehr, er bekam keinen Passierschein für Israel und er war für die üblichen Bauarbeiten auch zu alt geworden.
Abu Ussama, alt und ehrwürdig, sollte die „Geschenke“ im Lager verteilen. Er nahm seine Rolle sehr ernst, es wurde sortiert, erste Familien wurden informiert. Umm Ussama übernahm die Verteilung.
Ihr sah man an, dass sie irgendwie unglücklich war. Ussama erklärte mir die Ursache. Sein Bruder, ihr jüngster Sohn, gerade 18, hatte gegen den Willen des Vaters eine noch jüngere Ägypterin geheiratet. Ihm war seitdem der Zugang zum Haus verboten worden. Der saß vor dem Haus und wartete auf seine Chance. Ussama hoffte mit meiner, der deutschen Kollegin, Unterstützung, Frieden zu schaffen.
Als alles verteilt war und Abu Ussama zufrieden mit der Erledigung seiner großen Aufgabe im Hof saß und wir zusammen Schai Maramiye, Salbei-Tee tranken, versuchte ich es mit meinen unzulänglichen Arabischkenntnissen. „Abu Ussama. Nahnu alget saidna. Ama fi wahad salan il kharitsch, hua min Aylesin, min Kalbisin“ Ungefähr so: „Abu Ussama, wir sind jetzt glücklich. Aber draußen ist einer, der ist traurig, einer von Deiner Familie, einer von Deinem Herzen.“ Nun ist Qalb wirklich das Herz, aber Kalb ist der Hund, nur ein kleiner Lautunterschied! Der Bann war gebrochen! Alle mussten lachen und weil Umm Ussama die frohe Botschaft verkündete, dass die frisch Angetraute ein Kind erwarte, kehrte Frieden ein. Da wird das Herz des härtesten Großvaters schwach!
Abu Ussama, Umm Ussama, müsst Ihr noch einmal erleben, wie Tausende auf der Flucht sind und es die Welt nicht kümmert?
Fragen an Al Haj im Rafah Flüchtlingslager
Nach dem Besuch bei seiner Familie führte uns Ussama zum Flüchtlingslager Rafah an der Grenze zu Ägypten – ebenfalls 1948 wie alle anderen Flüchtlingslager in Palästina durch die UNWRA errichtet (10). Es war ein entsetzlicher Ort. Im Sand vor den Toren des Lagers wimmelte es von schwarzen Larven: Kakerlaken.
Wir wurden zu Al Haj geführt. Der war sichtbar sehr alt, vielleicht 90, aber hellwach und interessiert und sah in seiner langen, weißen Jalabia, dem traditionellen Kaftan arabischer Männer, sehr Ehrfurcht gebietend aus. Er war vor 1948 der Muchtar, etwa Bürgermeister, seines Dorfes in der Nähe von Lydd/Lod gewesen und hatte diese Rolle immer noch inne, wenn es um Probleme seiner ehemaligen Dorfbewohner und ihrer Familien ging.
Al Haj sollte uns von der Zeit vor seiner Flucht in den Gazastreifen erzählen. „Wir hatten jüdische Nachbarn, kleines Kibuuuhtz. Wir halfen uns gegenseitig auf den Feldern. Sie waren irgendwann vor meiner Zeit gekommen. Sie hatten wenig Ahnung von den Orangen, wir liehen uns gern ihre Maschinen aus. Alles schien in Ordnung. Ab 1945 sah das irgendwie anders aus. Auf einmal wollten sie uns überreden, dass wir unser Land verkaufen sollten. Aber warum plötzlich? 1946 rieten sie uns, das Land zu verlassen, und dann auf einmal, 1947, verwandelten sich die einst friedlichen Nachbarn in Bewaffnete, die uns aufforderten zu gehen! Schließlich sind wir in großer Angst Hals über Kopf vor den Gewehren geflohen und hier in Rafah gelandet.“ Eine von vielen ähnlichen Geschichten.
Er hatte immer noch große Zukunftsträume, seine jüngste Frau hatte er erst vor kurzem geheiratet, die war vielleicht 30 und hoffte, wie sie mir sagte, noch auf Kindersegen, denn das würde ihre Stellung im Haushalt verbessern. Er war auch an mir interessiert, eine Studierte? Eine europäische Frau? Das hätte sein Prestige noch vergrößert!
Al Haj, Du wirst das Heute nicht mehr erleben, es hätte Dein Herz gebrochen!
Gedanken zum Grenzzaun
Ist man in Rafah, dann muss man unbedingt an den Grenzzaun zu Ägypten gehen, komischerweise mit Namen „Philadelphi-Route“, so benannt im 1979 mit Ägypten geschlossenen Friedensvertrag, beziehungsweise der speziellen „Philadelphi Übereinkunft“ von 2005, die damals, kurz vor dem Abzug der Israelis aus dem Gaza-Streifen, als Pufferzone, demilitarisiert wie der ganze Sinai, unter der Kontrolle einer ägyptischen Spezialeinheit der Sicherheit beider Seiten dienen sollte. Denn die Aufgabe der Besetzung des Gazastreifens beinhaltete auch eine begrenze Militarisierung der Gazaverwaltung (11). Natürlich fuhr Ussama mit uns auch dorthin.
Auf der einen Seite Rafah, Stadt und Flüchtlingslager, der Zaun — auf der anderen Seite Sinai, Ägypten und die benachbarten Orte, die vor 1967 zu Rafah gehörten. Verwandte auf der einen und der anderen Seite des Zaunes. Zu allen Zeiten, vor allem zu den Festtagen wie zum Opferfest – so auch, als wir hinüberschauten — sind Menschen unterwegs, haben sich verabredet, um Neuigkeiten auszutauschen. Mit Megaphon rufen sie herüber: „Um Jamal, kiefkum, wie geht es Euch? Unser Opa ist gestorben, aber Miriam bekommt eine Kind, es wird eine Junge werden ...“ Lachen und Weinen zugleich.
Das alles ist nun lange her; Erinnerungen an Menschen, die ich kennen und schätzen gelernt habe, manche, die mir bis heute wichtig sind.
Menschen! Keine Kämpfer, keine Terroristen, Menschen mit Hoffnungen, Vorlieben, Wünschen, Fehlern ...
Vielleicht sind manche heute von Hass auf Israel getrieben, weil sie durch die israelische Besatzung viel Trauriges erlebt haben; manche sind vielleicht Parteigänger der Hamas; vielleicht haben sich sogar manche der nachfolgenden Generation, die jungen Leute, den Terror-Brigaden der Hamas angeschlossen und waren an dem Terrorangriff am 7. Oktober 2023 auf Israel mit vielen unschuldigen Toten beteiligt.
Sie hofften vielleicht, an einem gerechten Akt des Widerstandes gegen die nun fast hundert Jahre dauernde Demütigung, Missachtung und die Besatzung beteiligt zu sein?
Doch Terror bleibt Terror — von welcher Seite und mit welcher Begründung auch immer – und trifft Unschuldige und Zivilisten. Das palästinensische Volk hat auch durch diesen Terror wie immer — nur verloren.
Aber kann man ein ganzes Volk unter Terrorverdacht stellen, es als „Tiere“ bezeichnen und vielleicht sogar vernichten wollen?
Das langfristige Ziel? In die Wüste, ab ins Meer, Transfer ???
(Dazu mehr in Teil 2)