Erinnerungen an Gaza
Eine deutsche Autorin schreibt an ihre Bekannten in der umkämpften Zone. Ob sie die Adressaten erreicht, bleibt unklar — vielleicht sind diese schon nicht mehr am Leben. Teil 2/2.
„Die Palästinenser“ oder „die Bewohner von Gaza“. Viel wird über sie geschrieben, aber nur als ein vages Kollektiv, von dem man sich meist keine Vorstellung machen kann. Es wird Zeit, diesen Menschen Gesichter und Namen zu geben, sie als Einzelpersonen anzusprechen, die Familien haben und Berufe, Träume, Hoffnungen und Ängste. Die Autorin war „dort“ und hat viele interessante, liebenswerte Menschen kennengelernt. Heute ist es ihr nicht mehr möglich, nach Gaza zu reisen. Wie wird es ihren Bekannten ergangen sein — den Frauen, Männern und Kindern? Haben sie ihre Heimat, haben sie Angehörige verloren? Leben sie in Todesangst? Leben sie überhaupt noch? Es bleibt die Möglichkeit, in Gedanken zu ihnen zu sprechen, mit wenig Hoffnung auf eine Antwort.
Opferfest in Gaza? — Haltet ein!
Heute sagen die Nachrichten: 600.000 Menschen in Gaza vom Hungertod bedroht // Siedler planen erste Projekte in Gaza „A house on the beach is not a dream“ (1).
Gibt es sie noch, diese uralten Bäume, die in der Zeit um Weihnachten in Gaza gegen alle Widrigkeiten jedes Jahr erneut erblühten und ihren unerhörten Duft von Orangen- und Zitronenblüten überallhin verströmten?
Wie im Winter 1997, als ich durch das CIM-Programm der Bundesrepublik (2) für zweieinhalb Jahre im „Ministry of Housing“ (MOH) der Palästinensischen Autonomiebehörde zu arbeiten begann. Mein 80 Jahre alter Vater, der nicht allein in Berlin bleiben wollte, war ein paar Monate mit mir in Gaza.
Der Minister Abu Hamad kam aus Gaza, deshalb war hier die Zentrale.
Wonach hat es an diesem Weihnachten gerochen — nach Tod?
Gaza Streiflichter — Hoffnungen?
Weihnachten 1997
Reema, meine christliche Kollegin im MOH empfahl uns die katholische „Holy Family Church“. Damals lebten noch ein paar Tausend Christen im Gazastreifen. Heute sind es vielleicht noch 1.000 in Gaza, sagt Mitri Raheb, Pastor in der Weihnachtskirche in Bethlehem in einer jüngsten Botschaft (3).
Wir waren etwas früh, fast die ersten Besucher der Weihnachtsmesse. Wir wurden wie Ehrengäste behandelt und wurden in die erste Reihe platziert. Nach und nach füllte sich die Kirche. Ein riesiger Weihnachtsbaum vor uns und eine große, fast begehbare Krippe schmückten den Altarraum. Kinder schauten neugierig hinein und schlüpften hindurch – eine fröhliche Festtagsstimmung. Es begann damit, dass die Honoratioren der Gemeinde zusammen mit dem Priester Hand in Hand den Christbaum im Licht erstrahlen ließen. Ein überraschtes „Aaah!“ ging durch den Raum.
Eine Predigt in Arabisch, Lieder in Arabisch — die wir mitsingen konnten, denn es wurden die gleichen uns bekannten Weihnachtsmelodien gesungen. Der Höhepunkt: eine österreichische Theater-Gruppe trug Erzählungen und Lieder vor, begleitet durch ein Harmonium.
Die Weihnachtsgeschichte im Steierischen Dialekt! Da ist Josef droben auf der Alm und Maria ruft ihn herunter zum Stadl — es war, als ob die Geburt Christi in einem fernen Alpental geschehen sei — vorgetragen in Gaza, im Heiligen Land. Unvergesslich!
Steht sie noch die Holy Family? Wie sicher ist es noch in den wenigen verbliebenen Kirchen, in die sich die vielen Flüchtenden, ob Christen oder Muslime gleichermaßen zu retten versuchen?
Freunde brachten uns dann am ersten Weihnachtstag nach Jericho. Dort war es ebenso. In der Shepherd, der Hirten Kirche, wurde genauso schön gesungen und trotz des Sommerklimas, der überall den Markt beherrschenden Südfrüchte, Bananen, Datteln, Grapefruits und Orangen, war es doch auch für uns einfach Weihnachten und wir sangen mit wie zuhause.
Weihnachten 2023?
In Bethlehem steht kein Weihnachtsbaum, keine Lichter brennen, auch Touristen sind nicht gekommen. Auf dem großen Platz vor der Geburtskirche, der um diese Zeit normalerweise einen festlichen Anblick bietet, ist alles dunkel und stumm. In der Mitte des Platzes ist ein großes Kunstwerk, eine Skulptur errichtet worden: umgeben von Stacheldrahtzaun, auf Trümmern der nachgebauten Geburtshöhle in der Geburtskirche sitzend sucht die Heilige Familie Schutz; die vier Hirten sitzen auf gepackten Koffern, die Heiligen Drei Könige halten ein weißes Totentuch hoch; um die Gruppe symbolisieren Engel die Seelen der gemordeten Kinder — und um all dies fordern Schilder in allen Sprachen der Welt:
„Waffenstillstand! Solidarity with Palestine “. In der Not steht Palästina zusammen (4).
Frühjahr 1998
Gedanken an Issa — Deir El Balah — an eine andere Welt
Issa stammt aus einer alten einheimischen Familie mit großem Landbesitz, sie wurde reich durch den Dattel-Handel. Hier schien die Welt in Ordnung — wenn man alles andere, die Wachttürme und die besetzten israelischen Enklaven um sich herum vergaß. Ein großes Haus, das Reichtum ausstrahlte. Wir übernachteten in dem Schlafzimmer der Großeltern, ein Hochzeitsgeschenk aus den 1920er Jahren: schwarzes Ebenholz mit Perlmutteinlagen im Art Deko Stil. Unglaublich!
Wir waren zum Grillen in den Palmengarten eingeladen. Ein Paradies: hohe Dattelpalmen, darunter Zitrusbäume, darunter Gemüse, und über allem der Sternenhimmel. Geschichten wurden erzählt, es wurde viel gelacht.
„Abu Lahme“, ein Verwandter aus Majdal/Asqalon, der vor 1948 dort der zentrale Vieh- und Fleischhändler gewesen war, brachte das reichhaltige Fleisch. Er fütterte mich und meinen Vater mit der Hand — wir waren Ehrengäste!
Abu Lahme hatte sich im Gazastreifen erneut eine große Farm aufgebaut und sorgte vor allem für die Herden zum Opferfest.
Man saß auf weichen Kissen, es gab Obst, Humus, gegrillte Auberginen und Salate — was das Herz begehrte und natürlich viel Fleisch.
Aber auch dieses Idyll war trügerisch. Eine von Issa’s Schwestern, Nur, trauerte um ihren Mann, den sie zum letzten Mal auf ihrer Hochzeit gesehen hatte. Er saß seit Monaten ohne Anklage und Urteil in sogenannter Administrativhaft in einem israelischen Gefängnis im Negev. Warum? Sie wusste es nicht und auch nicht, wie es weitergehen würde. Sie konnte ihn nicht besuchen, nur Briefe gingen hin und her und manchmal konnten sie am Telefon miteinander sprechen.
Ist nun alles zerstört? Der Palmengarten, das schöne Haus? Issa, Nur, wo seid Ihr jetzt? Issa, Du warst Vertreter des WUS (5), in Gaza — hat Dich das vor der Vertreibung bewahren können?
Erinnerungen an den Sommer 1988, Fahrt nach Ramallah und Jerusalem
Nachdem mein Vater wieder nach Berlin geflogen und ich „alleinstehend“ war, musste ich manchmal, vielleicht einmal im Monat, einfach raus aus Gaza! Es gab ja immer etwas im MOH in Ramallah mit meiner Kollegin Afnan zu tun und ich hatte inzwischen eine kleine Wohnung gegenüber der Altstadt in der Nähe des Auguste-Viktoria-Krankenhauses am Ölberg gemietet.
Jede Fahrt war ein Abenteuer — kommt man überhaupt durch die Grenze in Erez? Wie lange muss man warten, bis man „durch“ ist? Warten dort genügend Taxen? Diese extralangen großen Mercedes-Wagen mit drei Sitzreihen — nur für den Orient gebaut. Mit wem ist man unterwegs?
Einmal saß ich ziemlich dicht gedrängt neben alten Herren in ihren langen Jalabijas mit dem weißen Tuch um den Kopf, sie drängten sich gern allzu dicht an mich. Manchmal kaufte ich lieber zwei Sitze. Aber auch wenn man zu lange auf den letzten Gast warten musste, eh das Taxi losfuhr, kaufte man schon einmal einen zweiten Sitz, damit es losgehen konnte.
Während der ganzen Fahrt durch israelisches Gebiet waren alle brav angeschnallt, zumeist in Gedanken vertieft. Nur an bestimmten Stellen wurden die alten Herren ganz wach und zeigten lebhaft auf Steinhaufen und Ansammlungen von Kakteen „Das sind die Spuren des Dorfes ...“. Sie kannten jeden Winkel.
Danach blieb die Stimmung zumeist gedrückt und es war leise. Dann passierten wir die Grenze zur Westbank — natürlich nach Kontrollen. Schnapp!!! Die Gürtel wurden aufgeklickt, „Alhamdu’illalah! Baladna!“ „Gott sei dank! Wir sind in unserem Land!“ Und nun wurde geschnattert: über die Familie, die Verwandten in Amerika, das neue Enkelchen und so weiter ... „Alhamdu’illalah!“
Schon damals brauchten die Menschen aus Gaza eine Genehmigung von Israel, um in die Westbank zu gelangen. Denn seit 2000, dem Beginn der letzten Intifada (6), war der freie Verkehr schon nicht mehr ohne Weiteres möglich. Aber seit den Wahlen 2006 und dem Einzug der Hamas in die Regierung in Gaza unterlag der Gazastreifen einer fast durchgängigen Blockade durch Israel zu Land, Luft und Wasser. Die Einheit der Palästinenser, von Ost-Jerusalem, Westbank und Gaza wurde seit dem Wahlerfolg der Hamas zerstört.
Solche Fahrten wird es jetzt gar nicht mehr geben. Sowieso bekamen nur Arbeitskräfte für die israelische Bauindustrie noch Arbeits- und Einreisegenehmigungen.
Und später nach 2000?
Nach meinem Aufenthalt im MOH trug ich die Verantwortung für die Partnerschaft meiner Fakultät Raumplanung an der Universität Dortmund mit der Universität Birzeit bei Ramallah. Die dortige Ingenieurfakultät wollte mit unserer Unterstützung Raumplanung als neuen Schwerpunkt aufbauen. Mehrfach war ich dort für Projektleitung und Lehrveranstaltungen.
2004 hielt ich mich mit einer Gruppe Dortmunder Studierender für drei Wochen im Gazastreifen auf. Die Einreise war erst einmal dramatisch. Nach einem Attentat — man sagte von Al-Aksa-Brigaden — war die Grenze in Erez mal wieder geschlossen worden. Zunächst wollte uns am Flughafen in Tel Aviv kein Taxifahrer nach Gaza mitnehmen. Schließlich fanden wir einen Minibus mit einem israelischen Palästinenser, der uns nach Erez fuhr. In Erez kamen wir mit unseren Papieren, die unsere offizielle Mission im Rahmen akademischer Zusammenarbeiten auswiesen, nach reichlich peinlicher Kontrolle durch.
Dann aber mussten wir mit unseren Koffern die lange Strecke bis zum offiziellen Beginn von Gaza zu Fuß laufen, entlang endloser Schlangen wartender LKWs, die Waren nach Gaza bringen sollten. Am Ende erwartete uns Issa mit einem Bus, der uns glücklich in unser Hotel brachte.
Unser Programm war durch WUS in Kooperation mit der Al Azhar University und dem MOH abgestimmt. Die Studierenden sollten im Rahmen unserer Studienprojekte Perspektiven der Verbesserung der Wohnungssituation in den Flüchtlingslagern erforschen und es sollten wohnungspolitische und Planungs-Ideen entworfen werden. Wir führten mit Studierenden der Al-Azhar zusammen Befragungen durch, sprachen mit Vertretern der UNWRA und im MOH. Am Ende trugen die Studierenden ihre Ideen vor — sie wurden freundlich aufgenommen.
Am 22. März 2004 besorgte Issa der ganzen Gruppe als Vertreter des WUS einen Termin bei Präsident Arafat. Wir warteten mit einigen älteren Männern, Muhktaren, Bürgermeistern, die Probleme ihrer Gemeinde persönlich mit Arafat besprechen wollten — es war seine wöchentliche Sprechstunde — aber irgendetwas war geschehen. Wir warteten lange.
Viele Autos fuhren vor. Es war ein hin und her, rein und raus. Ich erkannte Hannan Ashrauwi, eine bekannte Journalistin aus Ramallah.
Es wurde von einem Attentat gemunkelt. Irgendwann wurden wir zu Arafat vorgeladen und konnten uns bei ihm vorstellen. Er freute sich, als wäre nichts geschehen, erinnerte sich an seine kurze Zeit in Deutschland, schwärmte von dem deutschen Ingenieurwesen und fand unser Anliegen lobenswert. „One by one“ ließ er sich mit jedem Studenten und jeder Studentin ablichten. Der immer gleiche Bodyguard im Hintergrund, Erinnerungsfotos.
Erst später erfuhren wir, dass an diesem Tag Israel den Gründer der Hamas und ihren geistigen und religiösen Führer, den fast blinden und an einen Rollstuhl gefesselten Scheich Ahmad Yasin, durch Drohnen gezielt ermordet hatte.
Israel kannte wohl damals schon jede Bewegung der Hamas.
1998 wurden die israelischen Staatsarchive offiziell zugänglich — 50 Jahre nach der Staatsgründung.
Professor Ilan Pappé, einer der „Neuen Historiker“, lernte durch die Durchsicht dieser Dokumente ein anderes Narrativ zur Entstehungsgeschichte des Staates Israels kennen. Die Dokumente brachten ihn dazu, die „Geburtsphase Israels“ nicht mehr nach dem in Israel allgemein gültigen Narrativ als „Befreiungskrieg“ zu bezeichnen, sondern als einen Prozess planmäßiger Vertreibung und Landnahme, „The Ethnic Cleansing of Palestine“, „Die Ethnische Säuberung Palästinas“, wie er den Titel seines 2007 daraus entstandenen Buches nannte (7). Die Palästinenser nennen diese dramatische Epoche ihrer Geschichte im Zusammenhang mit der Gründung Israels die „Naqbe“, die Katastrophe. Damals wurden etwa 700.000 Menschen, fast die Hälfte der im Palästina der Mandatszeit lebende arabische Bevölkerung durch zionistische Milizen verfolgt und mussten durch Waffengewalt ihr Land und Eigentum verlassen.
Wenn also heute unter den Palästinensern von einer 2. Naqbe gesprochen wird, dann ist damit die Wiederholung eines Traumas gemeint, das bis heute in allen Generationen seit 1948, ob in Israel, der Westbank, Jerusalem, Gaza oder im Exil, tief im Bewusstsein jeder palästinensischen Familie sitzt (8).
In Jerusalem wurden zur Zeit der Öffnung der Archive zwei sehr zu denken gebende Schicksale bekannt. Meine Nachbarn in Jerusalem waren empört und erzählten mir, was sie im israelischen Radio oder gar Fernsehen erfahren hatten. Die ganze Altstadt sprach davon. Zwei Personen „outeten“ sich: eine „Sister“ des Klosters „Les Soers de Zion“ auf der Via Dolorosa. Mit „Sister“ werden die Frauen und Nonnen aus den Klöstern und Kirchen angesprochen. „Sister“ fordert Respekt und Ehrfurcht – egal ob man Muslim oder Christ ist.
Diese französische „Sister“ war seit 1948 im Auftrag des Geheimdienstes im christlichen Viertel der Altstadt tätig gewesen, „unglaublich, wir haben sie alle gekannt, sie war beliebt und man ging herzlich mit ihr um. Und eigentlich hat sie uns alle nur ausspioniert? Unfassbar“, sagte mein Jerusalemer Nachbar Bassem, als er in seinem Shop in der Via Dolorosa von dieser Nachricht hörte. Er war geschockt. Eine weitere total irre erscheinende Geschichte kam heraus und wurde damals öffentlich: Mit den Flüchtenden von 1948 in Richtung Gaza war auch ein Mann geschickt worden, der bis zu seinem Tod für den Israelischen Geheimdienst gearbeitet hatte; verdeckt und perfekt getarnt als Gaza-Flüchtling hatte er dort geheiratet, Kinder bekommen, eine Familie gegründet!
Kann man das alles glauben?
Warum gab es das? Und warum geht das Unfassbare weiter?
Die bisherige Bilanz des Terrorangriffs der Hamas Milizen am 7. Oktober 2023
Die israelische Bilanz: Etwa 1.200 Israelis und Ausländer, darunter viele Soldaten, fanden ihren Tod und etwa 5.500 wurden verletzt und mehr als 100 Menschen, darunter Kinder, Frauen und Alte, wurden entführt und sind teilweise noch immer Geiseln der Hamas (9).
Die palästinensische Bilanz: Nach Schätzungen der UN sind möglicherweise 1,9 bis 2 Millionen Menschen in Gaza, fast 80 Prozent der Bevölkerung auf der Flucht, leben in Zelten und Notunterkünften unter den widrigsten Bedingungen. 18 bis 20.000 Menschen sind getötet worden, mehrheitlich Zivilisten, 7.500 Kinder und 5.000 Frauen wurden unter den Bomben begraben. Viele Menschen sind vermisst und konnten noch nicht einmal geborgen und identifiziert werden. Das Gesundheitsministerium in Gaza meldet etwa 50.000 Verletzte (10).
Die Bilanz zeigt die Unverhältnismäßigkeit dieses Krieges, in dem auch nicht annähernd Waffengleichheit herrscht.
Nach der Zerstörung der Abwassernetze fließen die Abwässer in die Straßen von Gaza. Feste Abfälle stapeln sich, da die Gemeinden aufgrund von Treibstoffmangel und Mobilitätsrisiken nicht in der Lage sind, sie einzusammeln. Krankheiten beginnen sich zu verbreiten.
Übergriffe in der Westbank
In der Westbank und Ost-Jerusalem nehmen seit dem 7. Oktober 2023 militante Übergriffe der Siedler zu. 20 Prozent der Olivenernte konnte nicht eingeholt werden oder wurde mutwillig zerstört.
Arbeitslosigkeit auf dem Höchststand
Mehr als 120.000 palästinensische Arbeiter bekommen keine Arbeitsgenehmigung mehr und sind von ihren Jobs in Israel oder in den Kolonien in der Westbank ausgesperrt. 18.000 Arbeiter waren es allein aus Gaza. 4.000 von ihnen sind seitdem in der Westbank gestrandet, können nicht zurück nach Gaza, haben keine Kontakte zu ihren Familien und übernachten auf öffentlichen Plätzen in Ramalla. Man schätzt, dass bis jetzt ungefähr 350 Millionen Euro an Lohn fehlen, die die Familien in allen Teilen, ob in Jerusalem, Gaza oder der Westbank, bitter benötigen. Da Israel die Zoll- und Steuergelder zurückhält, die der Autonomieregierung zustehen, wird es auch bei den Verwaltungsangestellten ernst (11).
Kann man ein ganzes Volk so bestrafen, weil es die Hamas gewählt hat, wie Gilad Sharon, der Sohn von Ariel Sharon, Likud-Mitglied, es begründet und schon 2012 eine „endgültige Lösung“ forderte? „Alles platt machen, kein Strom, kein Benzin, nichts mehr ... dann werden sie um Waffenstillstand betteln“ (12).
Was ist das Ziel? Abschiebung in die Wüste? Ins Meer? Transfer?
Noch einmal — Haltet Ein!
Epilog
„Transfer“ oder auch die „Arabische Frage“ ist im Denken der Zionistischen Gründungsväter von Anbeginn des Projektes „Aufbau eines Jüdischen Staates in Palästina“ ein immer wiederkehrendes Thema. Man wusste, dass es sich nicht „Um ein Land ohne Volk für ein Volk ohne Land“ handeln würde.
Erinnern wir an die Denkweise derer, die die Idee eines Staates Israel als „Jüdische Heimstätte in Palästina“ maßgeblich beeinflusst haben und was sie über ihr Verhältnis zu den „Einheimischen“ gedacht haben. Ist diese Idee im Kern immer noch relevant?
Theodor Herzl, der Begründer und Veranstalter des 1. Zionisten-Kongresses 1897 in Basel, schrieb am 12. Juni 1895 in sein Tagebuch:
*„Die arme Bevölkerung trachten wir unbemerkt über die Grenze zu schaffen, indem wir ihr in den Durchzugsländern Arbeit verschaffen, aber in unserm eigenen Lande jegliche Arbeit verweigern. // Die besitzende Bevölkerung wird zu uns übergehen. Das Expropriationswerk muß ebenso wie die Fortschaffung der Armen mit Zartheit und Behutsamkeit erfolgen“ *(13).
und weiter:
„Ziehen wir in eine Gegend, wo es für die Juden ungewöhnliche wilde Tiere gibt — große Schlangen usw. — so benütze ich die Eingeborenen, bevor ich sie in den Durchzugsländern beschäftige, dazu, diese Tiere auszurotten. Hohe Prämien für Schlangenhäute usw. und für die Brut“ (14).
Die „arabische Frage“ war für die Real-Planer der „Jüdischen Heimstätte in Palästina“ immer wieder ein Thema und wurde heftig und unterschiedlich diskutiert.
Jüdische Persönlichkeiten wie der Philosoph und Sozialpsychologe Martin Buber, die sich als „religiöse Zionisten“ verstanden und den Staat zwar befürworteten, aber sich ein friedliches Einvernehmen und Nebeneinander mit den „Einheimischen“, wünschten, konnten sich gegen die „Macht-Politiker“ nicht durchsetzen. Buber verfasste mit anderen auf dem XII. Zionistischen Kongress in Karlsbad 1921 zum Zionismus und der arabischen Frage folgenden Aufruf, den er zur Grundlage der weiteren Politik verstanden wissen wollte:
„An diesem historischen Scheideweg, da wir in das Land unserer Väter zurückkehren, verkündet das jüdische Volk seinen Wunsch, mit den Arabern in Frieden und Brüderlichkeit zu leben und das gemeinsame Heimatland zu einer Völkergemeinschaft zu entwickeln, in der sich beide Völker frei entfalten können“ (15).
Diesem Wunsch folgte der Kongress nicht.
Je mehr aber einerseits der Widerstand der Palästinenser gegen die zionistischen Kolonien und nach den Verfolgungen des NS-Regimes die Zahl der jüdischen Einwanderer wuchs und andererseits internationale Teilungspläne eine jüdische Staatsgründung in die Nähe der Verwirklichung rückten, umso klarer sprachen sich die leitenden Personen der WZO und der Jüdischen Agentur in Palästina für einen „Transfer“ der Araber aus.
Ben Gurion, der erste Ministerpräsident Israels, forderte am 7. August 1937 auf einer Dringlichkeitssitzung der WZO:
„Wir müssen die Frage, ob Transfer möglich, notwendig, moralisch und nützlich ist, sorgfältig erörtern. (…) Nun ist ein Transfer in völlig anderen Ausmaßen vonnöten. In weiten Teilen des Landes wird eine fortgesetzte Besiedlung nicht möglich sein, ohne die arabischen Bauern zu transferieren. (…) Dies wird ein umfassendes Siedlungsprogramm ermöglichen. Dankbarerweise verfügen die Araber über riesige menschenleere Gebiete. Jüdische Stärke, die stetig anwächst, wird ebenso unsere Fähigkeit verbessern, einen großformatigen Transfer durchzuführen“ (16).
Also sollte und soll es keinen Platz für die „Einheimischen“ in Israel geben, „vom Meer bis zum Fluss“, wie manche hartgesottene Siedler in der Westbank fordern?
Ist die Zweistaatenlösung, wie es die UN in ihrer Resolution 181 vom 30. November 1947 beschloss, also längst passé?
Angesichts des Dramas im Gazastreifen fordern prominente, kritische Israelis wie Ilan Pappé oder der Ha’aretz-Herausgeber Guideon Levy nicht nur „Sofortige Waffenruhe“, sondern auch die Einhaltung der UN-Forderungen, nämlich das „Ende der Besatzung“, „Rückkehrrecht und Entschädigung der Vertriebenen“ und eine „staatliche Lösung der Palästinafrage“ — wobei Pappé und Levy die Einstaatenlösung als die einzig mögliche befürworten (17).
Warum? Die Macht des Faktischen: Man könne nicht inzwischen fast 700.000 Siedler in der Westbank und in Ost-Jerusalem nach Israel zurücksiedeln.
Dagegen spricht allerdings die Erfahrung Frankreichs, es geht!
Nach dem blutigen Algerienkrieg und Terrorakten gegen Zivilisten auf beiden Seiten, der FLN wie der OAS, wurde Algerien schließlich 1962 in die staatliche Unabhängigkeit entlassen und über eine Million Kolonisten haben Algerien verlassen müssen.
Als umstritten gilt auch die Forderung nach „Rückkehrrecht“, weil befürchtet wird, dass dann jüdische Bürger Israels vertrieben würden. Aber dagegen sprechen die Fakten: Außer in den „binationalen Städten“, also Städten wie Jaffa, Akka oder Haifa, sind die meisten Gebiete der ehemals palästinensischen Dörfer, also der private Landbesitz, heute nicht neu besiedeltes Land, sondern zu „Sperrgebieten“, „militärischen Gebieten“ oder „Naturparks“ erklärt worden.
Weil es so ist, begann die palästinensische Forschungs-Gruppe „plands“ in London seit mehreren Jahren, Wettbewerbe für palästinensische Architektur- und Planungsstudenten auszuloben, in denen diese neue Bebauungsvorschläge für solche Dörfer oder Räume — unter Berücksichtigung der heutigen Situation und dem Recht auf Rückkehr — entwerfen sollten. Dabei kamen fantastische Entwürfe heraus, unter dem Motto „Es ist möglich“, gekennzeichnet durch den festen Willen, sich eine gemeinsame Zukunft in friedlicher Nachbarschaft vorzustellen (18).
Levy und Pappé wären sicher skeptisch. Sie sind sich darin einig, dass ein dauerhafter Frieden und ein Ausweg aus dem blutigen Terror nur durch die Abkehr der israelischen Gesellschaft und Politik von der Apartheid möglich werden könne. Levy sagt in dem oben genannten Interview:
„Eine andere Möglichkeit gibt es nicht, erst wenn den Palästinensern Gerechtigkeit widerfährt, gibt es für beide Seiten Sicherheit.“
Beide glauben, dass dieser Weg nur von außen, von der internationalen Gemeinschaft durchzusetzen sei. In der israelischen Gesellschaft sind sie mit dieser Auffassung allerdings ziemlich allein, vor allem jetzt, nach dem 7. Oktober.
Angesichts der Haltung der NATO-Länder und vor allem der USA und Deutschlands sieht es danach auch überhaupt nicht aus. Dabei hätte Deutschland allen Grund und die Möglichkeit, sich auch dort für den Frieden einzusetzen (19).
Noch einmal: Haltet ein!
Redaktionelle Anmerkung: Nach Veröffentlichung des ersten Teils dieses Artikels erhielt die Autorin einige Zuschriften, die wir hier veröffentlichen:
Rufe, Stimmen, Nachrichten aus der Hölle
„Viele Familien sind vollkommen ausgelöscht! Die einzigen Optiker in Gaza, die in jeder Stadt, Gaza, Deir el Balah, Rafah und Khan Yunis eine Filiale hatten, sie wurden mit einem gezielten Bombenangriff alle ausgelöscht. Es gibt sie nicht mehr.“
„Bekannte und unbekannte Künstler, Journalisten, Maler, Theaterleute — wo sind sie? Immer mehr werden vermisst — steckt Absicht dahinter, die intellektuelle Schicht in Gaza auszulöschen?“
„Ich habe schon bei den ersten Bombardements in Gaza 22 Mitglieder meiner Familie verloren, darunter meine liebste Schwester mit ihrem Mann und ihren acht Kindern. Sie sind noch nicht einmal alle geborgen worden. Eine andere ist früh genug geflüchtet, noch im Lager Nuseirat untergekommen und wurde dann wieder bombardiert und getötet. Nur eine Schwester ist noch bis Khan Yunis gekommen und dort lebt sie noch mit einigen meiner Neffen. Aber sie sagt, dass es so schrecklich ist, dass man nicht einen Fuß vor den anderen setzen kann, weil es so überfüllt ist. Sie leben dort in Zelten. Wir haben Geld geschickt, damit sie Mehl für Brot kaufen können.
Von manchen haben wir seit Oktober gar keine Nachrichten und wissen nicht was mit ihnen geschehen ist.“
„Das dauernde Dröhnen der über uns kreisenden Drohnen macht wahnsinnig. Voller Angst warten wir auf den nächsten Schlag! Niemand kann mehr ruhig schlafen, die Kinder schreien im Schlaf“
„Mein Bruder arbeitet bei der UNWRA und verteilt die nicht mehr ausreichenden Nahrungsmittel. Für je drei Personen einer Familie gibt es eine Dose Thunfisch. Frisches Fleisch gibt es nicht mehr. Auch eine Dose Fleisch gibt es nur für je drei Personen. Es geht nicht mehr darum, satt zu werden, es geht nur noch darum am Leben zu bleiben!“
„Die Kaufleute, die noch etwas anzubieten haben, verkaufen zu überhöhten Preisen. Mehl kostet heute das Zehnfache, es ist wie im Krieg, alles was es noch zu kaufen gibt, ist unerschwinglich!“
„Meine Familie hat schließlich eine kleine Wohnung im Keller eines Hauses in Rafah gefunden — für 600 Dollar pro Monat. Wie lange können wir das noch bezahlen?!“
„Was soll aus den Schülern und Studenten werden? Alle Hochschulen sind dem Erdboden gleichgemacht.“
„Ich bin der einzige Sohn und lebe hier als Arzt in Deutschland. Noch vor zwei Jahren haben wir meine Mutter trotz großer Hindernisse durch die deutsche Botschaft zu uns holen können. Sie wollte nur zu Besuch kommen, unbedingt noch einmal ihre Enkel sehen. Auf keinen Fall wollte sie in Deutschland bleiben, sondern zurück nach Gaza in ihr Haus. In Gaza lebt noch eine Schwester mit ihrer Familie. Die anderen Schwestern leben in Ägypten und Kuweit.
Als es jetzt losging und die Menschen den Norden und die Stadt Gaza verlassen sollten, wollte meine Mutter auf keinen Fall ihr Haus in Ash Shuja’iyeh im Osten von Gaza Stadt verlassen. ‚Ich bleibe, egal was passiert!‘
Alle Kinder haben sie bekniet, nicht allein zurückzubleiben, bis sie endlich einwilligte. Aber das zu bewerkstelligen war eine riesige Kraft-Anstrengung. Sie kann kaum laufen, muss Medikamente einnehmen gegen Blutdruck und was noch alles. Oft musste sie getragen werden, wenn kein Auto fuhr oder die Straßen einfach verstopft waren und sie nicht länger irgendwo in Kälte und Gefahr sitzen und warten konnte. Über mehrere Stationen, zunächst bei Verwandten in Deir el Balah, fand sie mit meiner Schwester und den Kindern eine sichere Bleibe in einer Schule in Rafah. Aber wie unerträglich war es dort. Sie nahm keine Medikamente mehr, damit sie nicht dauernd auf die Toilette musste — eine Schultoilette für Hunderte Menschen!. Sie aß nur noch wenig, um es nicht den Kindern wegzunehmen. Alles ist zum Problem geworden. Drohnen am Himmel, Bomben in der Nachbarschaft — jeder fragt sich bang „Wann bist Du dran? Wann die Kinder?“
Vor zwei Wochen rief sie uns an — das Telefon ging mal wieder für kurze Zeit: ‚Ich halte es nicht mehr aus. Ich kann nicht mehr! Bitte tut etwas!‘
Wir haben es geschafft. Seit einer Woche ist sie über die Grenze nach Ägypten gelangt und in Kairo bei meiner Schwester. Der Preis 6.000 Dollar — an die ägyptische Seite.
Jetzt werden wir versuchen, meine Mutter durch Familienzusammenführung hierher bringen zu können.“