Erinnerung an das Vergessen
Die Aufarbeitung der deutschen Verbrechen beschränkte sich bislang weitestgehend auf rein symbolische Akte der Buße.
Erinnern wir uns an die wundersamen Wege des historischen Gedächtnisses. Im Januar 1979 hatte die amerikanische Serie „Holocaust“ im deutschen Fernsehen Premiere. Erzählt wird in vier Teilen die fiktive Geschichte der kosmopolitischen jüdischen Arztfamilie Weiss von 1935 bis 1945. Aus Sorge um das Gemüt der Zuschauer hatte man die Ausstrahlung in die Dritten Programme verlegt. Der Chefredakteur des WDR, Theo M. Loch, flankierte jede Sendung mit gefühlvollen Einführungen oder hochkarätigen Diskussionen im Anschluss. Später stellte sich allerdings heraus, dass Theo M. Loch ein überzeugter und hochdekorierter SS-Mann gewesen war. Etwa 15 Millionen Zuschauer verfolgten die Serie. Sie wurde zu einem lange nachwirkenden Medienereignis. Die Deutschen schnappten nach Luft. Das Böse war unter ihnen.
Aber es war ein Mythos mit dem Namen Holocaust. Holocaust bedeutet ungefähr Brandopfer — und so nannte man fortan auch im Land der Täter die Vernichtung der europäischen Juden.
„Die Vernichtung der europäischen Juden“ heißt auch das Hauptwerk des 1939 aus Österreich in die USA emigrierten Historikers Raul Hilberg. Die erste Fassung erschien 1961 in den USA. Kein deutscher Verlag wollte das Buch herausbringen. Nach dem überwältigenden „Erfolg“ der „Holocaust“-Serie traute sich 1982 ein kleiner Verlag, das Buch in deutscher Sprache zu veröffentlichen. Es erhielt wohlwollende Kritiken, aber verkaufte sich so gut wie nicht. Ein Jahr später war der Verlag pleite. Hilbergs umfangreiche, fast schon eisig sachlich rekonstruierte Geschichte der Planung und Durchführung der Judenvernichtung verzichtete auf alle mythologischen Wallungen. Die Details des Bösen verliefen sich in der Tiefebene des Gewöhnlichen. Kein Stoff für die Wonnen von Schuld und Schande.
Drei Jahre später institutionalisierte Bundespräsident Richard von Weizsäcker in einer umgehend als historisch eingeordneten Rede die Schuld als Teil der deutschen Identität. Von Weizsäcker war in mehrfacher Weise persönlich verstrickt in diese Schuld. Doch darum ging es nie. In seinen später erschienenen Memoiren widmet er den Jahren des Nationalsozialismus ganze 35 Seiten. Im Alter von 23 Jahren diente er bereits als Hauptmann der Wehrmacht. In seinen Erinnerungen räumt er Fehler ein, doch man sei im guten Glauben, Deutschland zu dienen, in den Krieg gezogen. Und im guten Glauben half er, Dorf für Dorf niederzubrennen, und verschleppte oder erschoss, was zu verschleppen oder zu erschießen sich fand. Man nannte das: Partisanenkampf. Die Ermordung der Juden kursierte allenfalls als verbotenes Gerücht.
In seiner bejubelten Rede vor dem Bundestag 1985 zum 40. Jahrestages der Beendigung des Krieges sprach er nicht von Kapitulation, sondern von Befreiung. Denn im Grunde seien die meisten Deutschen Gefangene des Nationalsozialismus gewesen. Doch sie hatten Furchtbares angerichtet.
Weizsäcker bekennt sich schuldig und macht die Schuld zur nationalen Chefsache. In gewisser Weise vergibt er so auch den Opfern. Schuld sei eine persönliche Sache, donnert er in dürren Worten von der Kanzel.
Doch wie sich am eigenen Beispiel zeigt, hat das keinerlei Konsequenz. Weder muss er ins Gefängnis noch tätige Buße tun. Stattdessen hat er eine neue Religion gestiftet. Fortan existiert die Erinnerung an die deutschen Verbrechen als eine Art „Zivilreligion“, in der die Sakralisierung der Demokratie und der demokratischen Werte in zierlichen Ritualen und kultischen Gesten zelebriert wird. Echte Erinnerung kommt nicht vor. Man reinigt sich von der Geschichte, indem man sich zu ihr bekennt. Und als Kollateralschaden der symbolischen Beichte haben wir sogar mehr bekommen als bloß Ablass: Die Schuld autorisiert uns als moralische Instanz — gewissermaßen weltweit. Man könnte sogar sagen, der Holocaust bildet das Fundament der sogenannten westlichen Werte. Auf der Holocaust-Konferenz 2000 in Stockholm erhielt diese Entwicklung kanonische Weihen.
Das beschrieb bereits vor über 20 Jahren der Historiker Michael Jeismann in seinem Buch „Auf Wiedersehen Gestern“. Jeismann nannte Deutschland deshalb auch den ersten Schurkenstaat der politischen Moderne. Die Last grausamer Verbrechen avancierte in den Mühlen der Vergangenheitsbewältigung zur Geschäftsgrundlage der gegenwärtigen Politik, insbesondere auf dem Minenfeld des Humanitären. Man denke nur an Joschka Fischer, der mit Verweis auf Auschwitz die völkerrechtswidrige Bombardierung Belgrads zur moralischen Pflicht erklärte. Und unsere heutige Außenministerin erinnert nicht von ungefähr an ein strammes BDM-Mädel. Bar jeglichen Gedächtnisses will sie mit Panzern Menschenleben retten und Russland endlich, endlich in die Knie zwingen. Jeder Kranz, den sie irgendwo abwirft, löscht Erinnerung und überschreibt sie mit den Zeichen eines symbolischen und hoch instrumentalisierten Gedächtnisses.