Endlich gute Nachrichten!
Bis 2035 wird die Arbeitszeit in den Industrieländern halbiert sein.
Die Menschen freuen sich. Endlich weniger Hetze und Stress, ein besseres Leben ist zu erwarten. Die Gewerkschaften sind ebenfalls begeistert, dass ihnen eine so deutliche Arbeitszeitverkürzung in den Schoß fallen soll, und sagen zu, den Prozess durch das bewährte Co-Management zu begleiten, damit er nicht durch zu hohe Lohnforderungen gefährdet wird. Ach nein. Ich habe mich geirrt. Bis 2035 soll etwa die Hälfte der Arbeitsplätze wegfallen und nicht etwa die Arbeitszeit halbiert werden.
Und das geht wieder automatisch. Durch die rasch wachsenden Möglichkeiten der Digitalisierung bis hin zur künstlichen Intelligenz (KI) werden Millionen Jobs — sind das nicht Arbeitsplätze? — wegfallen, einfach so, Menschen tragen dazu weder etwas bei, noch haben sie Verantwortung; sie müssen es einfach erleiden.
Selbstverständlich ist aber der Verlust an Arbeitsplätzen von Menschen gemacht. Wenn man wollte, könnte man die Arbeitsplätze anders verteilen. Das wollen aber weder die Unternehmer noch die Politiker. Sie können aber auch nicht, weil dieses Wirtschaftssystem den Verlust an Arbeitsplätzen erzwingt und Gegenkräfte wie die Gewerkschaften zu schwach sind oder auch nicht den Willen haben, dagegen anzugehen.
Es ist bemerkenswert, dass die Fantasie der Leute, die so etwas Utopisches vorhersagen wie den Upload des Gehirns auf Computer in absehbarer Zukunft, nicht ausreicht, um eine humaner gestaltete Zukunft zu prophezeien.
Das hätte ja auch den Nachteil, dass die Menschen nicht davor bange wären, weil sie beispielsweise Angst vor dem Verlust des Arbeitsplatzes oder der Herrschaft der Roboter haben und sich ducken.
Aber wird es auch so kommen?
Einen Hinweis darauf, dass die Angelegenheit differenzierter zu betrachten ist, findet sich bei Matthias Martin Becker. Er schreibt:
„Der Kardinalfehler der neuen Automatisierungsdebatte besteht darin, technische Möglichkeiten mit tatsächlichen Arbeitsprozessen zu verwechseln.“
Nicht alles, was automatisiert werden kann, wird auch automatisiert. Eine Scheindebatte also.
Rainer Fischbach setzt sich in einem Text differenziert mit der Prophezeiung auseinander. Die folgenden Aussagen stützen sich auf diesen Beitrag (1).
In den nächsten Jahrzehnten wird also etwa die Hälfte der Arbeitsplätze wegfallen. Die künstliche Intelligenz ist noch nicht so weit, dass sie der menschlichen empfiehlt, doch mal zu prüfen, was das für den Zuwachs der Arbeitsproduktivität bedeutet. Also muss die menschliche Intelligenz ran. Wegfall von 50 Prozent der Arbeitsplätze, das ist doch wohl eine Verdoppelung der Arbeitsproduktivität in den nächsten Jahren. Wie hat sie sich denn in den letzten Jahrzehnten entwickelt?
Wenn die Arbeitsproduktivität jährlich um 2 Prozent wachsen würde, würde es etwa 35 Jahre dauern, bis die Verdopplung erreicht ist. Ein derartiges Wachstum hat es allerdings in den letzten 40 Jahren nicht gegeben.
Vielmehr war in allen Industrienationen eine Stagnation der Arbeitsproduktivität zu erleben. Das stellt für alle, „die — und das sind nicht wenige — davon überzeugt sind, dass wir einen rasenden technologischen Fortschritt erleben, der auf den Punkt zuläuft, an dem die Roboter uns alle Arbeit weggenommen haben werden, ein schwer aufzulösendes Rätsel dar, jedoch eines mit Tradition.“
Große Fortschritte
Aber das liegt doch sicher daran, dass der Fortschritt noch nie so groß war wie gegenwärtig. Prüfen wir mal darauf hin die technologischen Fortschritte: Fangen wir mit dem Faustkeil und der Erfindung weiterer Steinwerkzeuge an, springen wir zur Wasserkraft, dann zur Dampfkraft und der Erfindung der Werkzeugmaschinen, dem Wechsel von durch Riemen angetriebenen Maschinen zu elektrisch getriebenen, weiter zu den numerisch gesteuerten (NC) Maschinen, den Industrierobotern, Einführung der Informationstechnik in den Verwaltungen und dann der Industrie. Die Aufzählung ist natürlich unvollständig, aber waren alle diese Veränderungen kleiner als die jetzt anstehenden?
Die genannten Fortschritte hatten teilweise kleinere, teilweise größere Zuwächse in der Arbeitsproduktivität zur Folge.
„Die hundert Jahre ungefähr von 1870 bis 1970 waren singulär, weil die Industrienationen, allen voran die USA, in diesem Zeitraum eine Produktivitätssteigerung erzielten und, dadurch ermöglicht, eine Wohlstandmehrung erfuhren, die es zuvor nicht gegeben hatte und danach nicht mehr gab.“
In den letzten vier Jahrzehnten liegt der Zuwachs aber mehr oder minder deutlich unter 2 Prozent.
„Was, so stellt sich nach einem Vergleich der historischen mit den aktuellen Daten die Frage, ist für den singulären Anstieg der Arbeitsproduktivität in der Mitte des 20. Jahrhunderts verantwortlich und was für den schleichenden oder gar zum Stillstand gekommenen der Gegenwart, in der zahlreiche Stimmen uns einreden, wir lebten in einem Zeitalter unvergleichlicher Innovationen?“
Verantwortlich waren soziale und ökonomische, nicht in erster Linie technische Gründe.
Die Jahre ab Mitte des 20. Jahrhunderts zeichneten sich aus durch eine deutliche Verbesserung der Lebensverhältnisse: die Bildung wurde ausgeweitet. Heute undenkbare Lohnerhöhungen und Arbeitszeitverkürzungen gab es. All das trägt auch zur Steigerung der Arbeitsproduktivität bei. Zudem schufen die steigenden Löhne und die staatlichen Investitionsprogramme die Nachfrage nach dem Mehr der durch höhere Produktivität hergestellten Güter.
Die Zeiten sind nun leider gründlich vorbei. Wir leben in einer Zeit, die durch zu geringe Lohnzuwächse, prekäre Arbeitsverhältnisse, verfallende Infrastruktur, Arbeitskräftemangel in den Sorge- und Bildungsberufen, drohende Kriegsgefahr, Versagen des Journalismus und der Politik gekennzeichnet ist, um nur Einiges aufzuzählen.
Die gesellschaftliche Situation behindert das Wachsen der Arbeitsproduktivität.
Zudem, wer soll bei Eintreffen der Prophezeiung die schönen neuen Waren kaufen, wenn dann die Masse der Arbeitslosen drastisch gestiegen ist? Wie das gehen soll, sollen mal die Propheten erklären. Ich kann es nicht.
Bei Fischbach kann man vertiefter studieren, was ich dringend empfehle, dass die Umsetzung technischer Innovationen in konkrete Fertigungsprozesse sehr schwierig ist; die technische Weiterentwicklung ist kein Selbstläufer.
Zum Beispiel wird der „fahrerlose Pkw [...] als auf die Konsumenten zielende Technik kaum etwas zur Hebung der Produktivität beitragen, jedoch eine Menge Aufwand erfordern und bis zu seiner breiten Durchsetzung Jahrzehnte brauchen. Insbesondere wird es sich als kaum lösbares Problem herausstellen, nicht nur eine klare Grenze zwischen vollautomatisch beherrschbaren und immer noch die Aufmerksamkeit der Fahrer erfordernden Situationen zu ziehen, sondern auch den Übergang zwischen diesen beiden Feldern in der Praxis reibungslos zu vollziehen.“
Dabei ist die Technik des elektrisch getriebenen fahrerlosen Fahrens längst entwickelt. Sie findet sich im öffentlichen Personen-Nahverkehr und ist damit tabu. An dieser Innovation haben insbesondere die Führungskräfte im Lande kein Interesse: Straßenbahn statt Dienstlimousine? Nicht mit mir.
Selbstverständlich wird es wie in der Vergangenheit zu Veränderungen bei den Berufen kommen; einige werden wegfallen, neue werden entstehen.
Das Horrorszenario der Halbierung der Anzahl der Arbeitsplätze ist aber wenigstens auf absehbare Zeit nicht in Sicht. Es dient nur der Ruhigstellung der Beschäftigten und der Gewerkschaften. Die müssten allerdings endlich mal wieder den Kampf um die deutliche Verkürzung der Arbeitszeit aufnehmen.
Quellen und Anmerkungen:
(1) https://www.jungewelmt.de/artikel/297480.schwache-automaten.html?sstr=Rainer%7CFischbach