Endlich Atommacht!
Einflussreiche Kräfte wollen erreichen, dass Deutschland in den Kreis der Atommächte „aufsteigt“.
Das Massaker von Kundus in Afghanistan und ungezählte Tote im Zusammenhang mit deutschen Kriegseinsätzen sind nicht genug. Jetzt muss es die „eigene“ Atombombe sein. Als Konsequenz aus der wenig ruhmreichen deutschen Kriegsgeschichte, wollen deutsche Vordenker wie der Chef der Münchner Sicherheitskonferenz, Wolfgang Ischinger, noch eins draufsetzen. Deutschland soll mehr „Verantwortung“ in der Welt übernehmen. Durch Millionen ausgelöschte Leben von Kindern, Frauen und Männern, verstümmelte und verstrahlte Menschen — oder durch die Drohnung mit einem solchen Inferno? Durch den radikalen Bruch mit einer Nachkriegsordnung, in der nicht umsonst der Atomwaffensperrvertrag zu den wichtigsten Säulen gehörte? Mit einer solchen Kamikaze-Politik werden vor allem Vernunft und Menschlichkeit atomisiert.
Völkerrechtlich scheinen die Dinge klar: Deutschland hat den Atomwaffensperrvertrag (NVV) unterschrieben. Laut Artikel 2 dieses Vertrags hat es sich dazu verpflichtet,
„… Kernwaffen oder sonstige Kernsprengkörper oder die Verfügungsgewalt darüber von niemandem unmittelbar oder mittelbar anzunehmen, Kernwaffen oder sonstige Kernsprengkörper weder herzustellen noch sonst wie zu erwerben und keine Unterstützung zur Herstellung von Kernwaffen oder sonstigen Kernsprengkörpern zu suchen oder anzunehmen.“
Und in Artikel 3 des „2 + 4 –Vertrags“, der Voraussetzung und Grundlage für den Beitritt der DDR zur BRD war, ist festgeschrieben:
*„(1) Die Regierungen der Bundesrepublik Deutschland und der Deutschen Demokratischen Republik bekräftigen ihren Verzicht auf Herstellung und Besitz von und auf Verfügungsgewalt über atomare, biologische und chemische Waffen. Sie erklären, dass auch das vereinte Deutschland sich an diese Verpflichtungen halten wird. Insbesondere gelten die Rechte und Verpflichtungen aus dem Vertrag über die Nichtverbreitung von Kernwaffen vom 1. Juli 1968 für das vereinte Deutschland fort.“
Damit, so sollte man meinen, ist der Verzicht Deutschlands auf Massenvernichtungswaffen wie auch die mittelbare Verfügungsgewalt über diese klar, eindeutig und für immer geregelt. Ist daher die „atomare Teilhabe“ nicht ein eindeutiger Verstoß gegen diese beiden Verträge?
Der deutschen diplomatischen Akrobatik gelingt ein genialer Spagat: Man verweist nicht auf die gültigen Verträge, sondern betont unverbindlich den Willen zur Abrüstung, erst recht der nuklearen, aber es sind die Verhältnisse, die das verhindern. So heißt es im Koalitionsvertrag der aktuellen GroKo:
„Solange Kernwaffen als Instrument der Abschreckung im Strategischen Konzept der NATO eine Rolle spielen, hat Deutschland ein Interesse daran, an den strategischen Diskussionen und Planungsprozessen teilzuhaben. Erfolgreiche Abrüstungsgespräche schaffen die Voraussetzung für einen Abzug der in Deutschland und Europa stationierten taktischen Nuklearwaffen.“
Aber nach Abrüstung sieht es ja nun wirklich nicht aus! Und im Schatten der derzeitigen Aufrüstung, der Kündigung des INF-Vertrags, der Osterweiterung der NATO, der US-amerikanischen Nuklearplanung und der vor allem von Deutschland und Frankreich vorangetriebenen Militarisierung der EU kommt im Verständnis der Herrschenden Deutschland eine Führungsrolle zu. Was aber wäre eine Großmacht ohne die nukleare Massenvernichtungswaffe?
Da ist es kein Wunder, wenn unter dem beschönigenden Begriff der „neuen Verantwortung“, die Deutschland im internationalen System zugewachsen sei, in den Kreisen der maßgeblichen Politikberatung und der Leitmedien offen die Forderung nach atomarer deutscher Atombewaffnung das Wort geredet wird. So schrieb schon am 15. November 2017 der Politologe Maximilian Terhalle in der FAZ:
„Zur glaubwürdigen Stärkung der Nato und zur eigenen strategischen Sicherheit muss Berlin deshalb jetzt Verantwortung zeigen, indem es die Aufstellung einer europäischen Atommacht zu seiner Priorität macht. (…) Deutschland (muss) hierin mit Nachdruck Mitentscheidungsrechte für sich verhandeln.“
In einem von Wolfgang Ischinger und Dirk Messner herausgegebenen großformatigen und goldgeprägten Prachtband mit dem Titel „Deutschlands NEUE Verantwortung“ wird gleich in zwei Beiträgen (1) mehr oder weniger offen die Notwendigkeit einer deutschen Atombewaffnung angesprochen.
Aber wie kommt man dahin? Zwei Wege scheint es zu geben:
Der eine ist die NATO und die atomare Teilhabe: Die geplante Modernisierung der deutschen Flugzeuge, die für das Verbringen der hier in Büchel stationierten Atombomben ins Ziel zuständig sind, kann dazu genutzt werden, die deutsche Beteiligung an der Zielplanung, heißt: an der Führung eines Atomschlags zu erweitern. Diese Ausweitung der Teilhabe führt auch zu mehr Mitsprache an den politischen Entscheidungen, der deutsche Anteil an der „Verantwortung“ wird erhöht, Schritt für Schritt wird die Verfügungsgewalt erhöht.
Der zweite Weg ist die Militarisierung der EU und die Erringung einer Teilhabe an den Entscheidungen über die französischen Atomwaffen. Dem scheint sich Frankreich derzeit noch zu widersetzen. Doch die Militarisierung der EU, die Schaffung europäischer Streitkräfte entwickeln eine Eigendynamik:
Wenn die EU eine (auch militärische) Großmacht sein will, kann sie — so diese Logik — auf die nukleare Dimension nicht verzichten.
Aus dieser Perspektive ist der Brexit geradezu ein Glücksfall für die deutsche Politik: Großbritannien, das den militärischen Aufstieg Deutschlands immer zu bremsen versuchte, ist nicht mehr da. Frankreich ist zum Erhalt seines neokolonialen Imperiums auf deutsches Militär angewiesen.
Nun schließen sich diese beiden Wege zur verstärkten nuklearen Teilhabe bis hin zur Verfügungsgewalt keineswegs aus, sondern sie ergänzen sich: Der Zugewinn von Gewicht und Einfluss in der NATO wird genutzt, um Gewicht und Einfluss in der EU zu steigern — und umgekehrt. Das ist es, was Außenminister Heiko Maas meint, wenn er von „balancierter Partnerschaft“ spricht.
Und Deutschland spielt eine wachsende Rolle auch in den Vereinten Nationen (VN), wie die mehrfache Wahl auf einen nichtständigen Sitz im Sicherheitsrat belegt.
Genau dort könnte Deutschland „Verantwortung“ übernehmen. Doch: Warum unterstützt die Bundesrepublik Deutschland nicht den Atomwaffenverbotsvertrag, der vom EU-Mitglied Österreich mitinitiiert wurde und mittlerweile von rund Zwei Dritteln der Mitgliedstaaten der VN unterzeichnet wurde?
Welche Prioritäten hat sich die Bundesregierung in der Weltorganisation gesetzt? Diese können nachgelesen werden auf der Homepage der deutschen Vertretung im bei den Vereinten Nationen. Dort werden die Arbeitsschwerpunkte Deutschlands während seiner Zeit als nicht-ständiges Mitglied im Sicherheitsrat aufgeführt. Es sind: Klimawandel und Sicherheit; Frauen‚ Frieden und Sicherheit; Stärkung des humanitären Systems; Abrüstung und Rüstungskontrolle.
Dies sind löbliche, wichtige Anliegen! Warum aber fehlt die Unterstützung des Atomwaffenverbotsvertrags? Hier könnte das erklärte Ziel der Abrüstung konkretisiert und konstruktiv auf die Tagesordnung des Sicherheitsrats gesetzt werden! Deutschland ist der zweitgrößte Geldgeber der VN, und es hat als Auslöser des Zweiten Weltkriegs eine Mitverantwortung für den Abwurf der bisher einzigen Atombomben auf Hiroshima und Nagasaki. Müsste sich solche Verantwortung nicht niederschlagen im konsequenten Kampf gegen diese fürchterliche, völkerrechtswidrige Waffe — die Atomwaffe — wenn Deutschland Verantwortung tragen will?
Der Atomwaffenverbotsvertrag gehört also offensichtlich nicht zu den Prioritäten deutscher Politik im Sicherheitsrat. Dies lässt nur einen Schluss zu: Deutsche Politik zielt darauf ab, in den Kreis der Atommächte aufzusteigen.
Das aber dient weder der Sicherheit noch der Verantwortung, es ist verantwortungslos. Der Kampf gegen die „atomare Teilhabe“ ist daher der Kampf gegen den Einstieg in die atomare Verfügungsgewalt. Gelingt dieser Kampf, ist er ein entscheidender Beitrag gegen die deutsche und die weltweite Atomrüstung: Hier liegt die deutsche Verantwortung!
Quellen und Anmerkungen:
(1) Ischinger, Wolfgang; Messner, Dirk: Deutschlands neue Verantwortung: die Zukunft der deutschen und europäischen Außen-, Entwicklungs- und Sicherheitspolitik. Berlin: Econ-Verlag 2017 (Techau 2017, S. 22 — 25) und Major/Mölling 2017, S. 259-263),