Eiskalt gesund
Anders als vielfach angenommen ist die Kälte nicht zum Frieren da. Im Gegenteil: In Form von Eisbaden kann sie vitalisierend wirken.
„Ins kalte Wasser springen“ ist eine gebräuchliche Redewendung, die besagt, dass wir manchmal Dinge tun müssen, die große Überwindung kosten, an die wir uns aber nach einiger Zeit gewöhnen. Buchstäblich gesprochen, vermeiden die meisten Menschen eiskaltes Wasser immer noch in den meisten Fällen. Allenfalls, wenn Wassertemperatur und Außentemperatur moderat sind, sucht man — wie im Hochsommer — gern Abkühlung. Schon das kalte Tauchbecken in Saunen ist nicht jedermanns Sache. Man setzt sich dem höchstens für einige Sekunden aus, weil man sich gesundheitlich positive Effekte davon erhofft, wie sie zum Beispiel der „Wasserdoktor“ Pfarrer Sebastian Kneipp beschrieben hat. Wer im Winter bei Minustemperaturen Löcher in die Eisdecke schneidet und hineinspringt, der gilt vielfach als Exzentriker mit Hang zur Selbstschädigung. Die Autorin erzählt in diesem Beitrag, warum sie zu einer passionierten Eisbadenden geworden ist und dies bewusst in den Wintermonaten praktiziert. Gerade die länger andauernden und „härteren“ Aktion stärken nicht nur die Gesundheit, sie können tiefgreifende spirituelle Erfahrung anstoßen. Ein Text zum #Wasserspezial.
Die Zeit der sommerlichen Erfrischungsbäder ist nun vorbei. Klares Wasser in den Seen, das die bunte Schar der Badegäste wieder ganz den Wasservögeln überlässt. Herbstblätter fallen auf die Wasseroberfläche und lassen sich treiben. Sie schwimmen, wie im Sommer die Seerosen, auf dem mehr oder weniger bewegten Spiegel, der uns den Himmel zeigt, verhangen oder luftig mit Wolken und flimmernden Lichtreflexionen. Die Bäume scheinen in umgekehrter Richtung zu fließen, mitunter gebogen im Wellenspiel. Fließen oder Stille, Strömen oder Ruhe in beständigem Wechsel. Hin und wieder ist — erstaunlich laut — der Aufprall von Eicheln zu hören, die schnell versinken und wieder verebbende Wellenkreise erzeugen. Am Ufer schimmert der Grund hindurch, der Spiegelgrund, vielleicht liegen Muscheln dort, Steine oder Hölzer. Die drei beschriebenen Ebenen verbinden sich in der Wahrnehmung. Das Wasser als primäres Element auf unserem Planeten vermittelt eine ganz eigene Anziehungskraft.
„Es wird durchgebadet!“ — so lautet das derzeit angesagte Motto, wobei das herbstliche Baden bei immer noch moderaten Temperaturen für die passionierten Eisbader lediglich eine Form der Angewöhnung und der Vorfreude auf knackige Frostgrade und Eislöcher darstellt, da bei Minusgraden die einsetzenden psychophysiologischen Wirkungen wesentlich effektiver werden. Während der warmen Jahreszeit habe ich manche Menschen auch schon von Entzugserscheinungen sprechen hören.
Von Johann Wolfgang von Goethe ist überliefert, dass er gemeinsam mit Freunden das Eis der Weimarer Ilm aufhackte, um darin zu baden. Über das Angenehme des Eisbadens berichtet er in den folgenden Briefzeilen von 1775:
„... daß beym Aufstehen mich eine Lust wieder ankam, ins Wasser zu gehen, die ich denn auch sogleich stilte und wie sie ein gutes Zeichen ist, also auch ist die gute Würckung nicht ausgeblieben.“
Heute wird das Erlebnis gern mit einem „Rausch der Kälte“ verglichen, der einen Energieschub vermittelt.
Während wir im kalten Wasser baden, badet unser Inneres gleichsam in einem wahren Hormoncocktail, hergestellt in unserer körpereigenen Chemiefabrik.
Susanna Søberg, eine promovierte Stoffwechselforscherin und Autorin, befasste sich im Rahmen ihrer Dissertation mit dem braunen Fettgewebe als Heizorgan, das sich durch Kältereize bildet, und beschreibt die damit einhergehenden Vorzüge für die menschliche Gesundheit. Sie beschreibt es als Privileg, „die glücklichsten Menschen der Welt studieren zu dürfen“.
Für Einsteiger ist es ideal, sich allmählich an die Kälte zu gewöhnen. Schon nach 30 Sekunden kalter Dusche beginnen die positiven Effekte. Beim Schwimmen bereits ab Herbst stellt sich der Körper nach kurzer Zeit auf die Kälte ein und empfindet sie als angenehm. Man wird ruhig und von einem Glücksgefühl durchrieselt. Langsam wird einem dann doch kalt und man freut sich auf warme Woll- und Thermokleidung. Nicht übertreiben, auf das individuell angemessene Maß und ruhigen besonnenen Atem achten, den eigenen Körper spüren, nicht allein baden und in Ufernähe zu bleiben. Das sind kurz zusammengefasst die wichtigsten Vorsichtsmaßregeln. Gesundheitliche Einschränkungen sind unbehandelte Herzkreislaufstörungen, Schmerzen in der Brust (Angina pectoris), schwere Herzrhythmusstörungen, unbehandelter Bluthochdruck. Alles andere kann eigentlich nur besser werden. Allgemeine Fitness stellt eine gute Voraussetzung dar. Gesunde Ernährung gibt dem Körper alle wichtigen Grundbausteine, die er für die Transformation benötigt. Letztlich muss jeder selbst verantworten, wann er sich was zumutet.
Ich persönlich kam überraschend zum Eisbaden, als ich mit meiner Fotokamera im Gepäck bei herrlichem Winterwetter den Berliner Schlachtensee umrundete. Eis, Schnee, Sonnenglitzer. Unter einer Erle wurde für ein Badeloch das Eis aufgehackt. Es war ungefähr acht Zentimeter dick. Ich fragte, ob ich diese Situation fotografieren dürfe, und es entspann sich ein freundliches Gespräch. Schließlich wurde mir einladend und strahlend-freundlich eine kurze Einweisung ins Eisbaden gegeben. Auf diese Weise ermuntert und gleichzeitig beschützend angesprochen, ließ ich mich darauf ein. Das eigentliche Bad dauerte nur wenige Minuten und hatte erstaunliche Auswirkungen, wie ich bald feststellte. Die persönliche Ebene der eigenen unmittelbaren Erfahrung ist schließlich ausschlaggebend.
Der Körper reagiert spürbar. Ich atme ruhig und gleichmäßig weiter. Dadurch legen sich innerer Aufruhr, etwaige Aufpeitschungen und Panik schnell. Dann melden sich die Wahrnehmungen meines Seelenlebens so intensiv, dass sie mich ganz in ihren Bann ziehen und ich sie später als Gedankenprotokoll notiere.
„Es ist wie ein Feuer in meiner Mitte angezündet“ — dies notierte ich nach meinem ersten Eisbad vielleicht etwas schwärmerisch in einer Handymessage an einen alten Schulfreund, der Mediziner für Inneres und Psychologe ist.
Später wird er mir antworten, er finde es interessant, wie ich im Vorbewussten taste, und hebt die spirituelle Komponente meines Erlebens heraus.
Nun weiter im Gedankenprotokoll: Glück, Seligkeit, Friede, Bliss breiten sich aus. Das Körperliche scheint von etwas Höherem durchstrahlt und getragen zu werden. Die Naturempfindung wird so unsagbar schön wie beim Betrachten klassischer Landschaftsbilder. Schimmernd bricht eine andere Sphäre hindurch wie auf den Gemälden Caspar David Friedrichs. Licht, Stimmung, Natur schaffen einen Seelenraum, der eingehängt ist in ein größeres Geschehen, eine höhere Dimension, die allem eine Bedeutung verleiht, auch der eigenen Ichformation. Tiefes inneres Verstehen. Entgrenzung. Der innere Raum weitet sich in den äußeren Raum. Eine spirituelle Komponente wird deutlich. Ein herrliches Gefühl, im Wasser den Körper so leicht und wie nicht vorhanden zu spüren.
Die Quintessenz von Gesundheit ist es, wenn der Körper nicht schmerzt. Er wird durchströmt, seine Energien fließen auch zwischen Himmel und Erde. Was ich erlebte, möchte ich als Unisonogefühl beschreiben: die lebendige Wahrnehmung, im Einklang zu sein.
Es ist, als würden alle Beteiligten des Klangkörpers, in diesem Fall mein Leib, meine Seele, der See, das Wasser, die Luft, der Wald, die Tiere und Pflanzen von derselben Melodie durchzogen. Innenwelt und Außenwelt verbinden sich, die Natur in uns, die Natur um uns, die Natur des Leibes mit der Natur der Seelenkräfte. Ein Sinngefühl offenbart sich, Göttliches, Heiliges. Wo berühren sich Körper und Geist? Gibt es hier eine markante Zone? Wie spielen sie ineinander? Die Verbindung beider Sphären wird ganz augenscheinlich. Wir berühren hier einen sensiblen Bereich, den man psychedelisch nennen kann. Die rationale Kontrolle wird zugunsten eines mentalen Gleichgewichts zweitrangig. „Vielleicht suchen wir nach Echtem als Gegenpol zum digitalen Dasein“, schreibt Susanna Søberg im 2. Kapitel ihres Buches „Winterschwimmen“. Auch dies mag ein Grund sein, warum die Kultur des Eisbadens in den letzten Jahren so ungeheuer populär und beliebt wurde. Ein kollektiver Heilungsversuch von innen her, induziert in Form einer Laienbewegung. Wir wollen uns wieder richtig spüren, vom inneren Ich aus agieren, vom inneren Erleben her in Balance mit den äußeren sozialen, gesellschaftlichen und gestalterischen Faktoren kommen.
Krebsrot ist die Haut, wenn man nach wenigen Minuten wieder aus dem Wasser geht. Die Haut zieht sich zusammen und wirkt wie geglättet. Ich habe manchmal das Gefühl, als würde mir mein Körper neu geschenkt. Man lässt sich von Wind und Sonne trocknen, steht nackt oder spärlich bekleidet im Schnee, ohne zu frieren, und freut sich, dass man es geschafft hat, sich selbst zu überwinden. Dadurch steigt das Selbstwertgefühl. Dieser Zusammenhang überträgt sich innerlich auch auf Lebensaufgaben in unterschiedlichen Bereichen, die leichter und schwereloser mit mehr Durchsetzungskraft gelingen. Ich- und Willenskräfte wachsen, innere Blockaden lösen sich, und lang gehegte Träume können erfolgreich verwirklicht werden. Man wird gelassener, ruhiger.
Wieder warm angezogen, empfiehlt sich moderate Bewegung, kein anstrengender Sport. Wenn man Zeit hat, ist ein Spaziergang oder eine kleine Wanderung sehr angenehm. Eine gewisse Nachwirkung ist noch zu spüren. Erschütternd klar und echt erklingt der Vogelruf, laut und mitteilsam, ausgewogen und ausdrucksstark in seinen Tönen. Heimat ist es, wenn ich entlang der Buchen, Erlen und Eichen am Seeufer entlanggehe. Leibgebunden. Der Körper ist mein Freund. Ich spüre verstärkt durch die Herausforderung des Kaltwasserbades und die damit einhergehende Sensibilisierung, wie der Körper arbeitet.
Ich spüre, wie die Lunge unter den Rippen atmen will. Dagegen ist mein üblicher Atem kümmerlich und hastig. Ich habe das Gefühl, überall im Körper wird gezerrt und gezurrt, die Extremitäten balancieren sich über das Kreuz hin aus. Die Mitte stabilisiert sich. Gleichermaßen wird mir bewusst, wie herrlich die Welt ist. Die Bäume schauen mich lebendig an. Die Landschaft zieht mich zauberhaft in ihren Bann. Beim Umschreiten des Sees gleitet mein Blick über die weiße Schnee-Ebene.
In Anbetracht der Manifestation der Natur, ihrer Schönheit und kraftvollen Schwingung, ihres geheimnisvollen, unauslotbaren Zaubers und der Gegenwart der eigenen tiefen Seelenexistenz, die in die Verkörperung gefunden hat, kommt mir manches Gebaren, auch aus dem politisch-öffentlichen Raum, einfach lächerlich vor.
Laut wiederhole ich diese Worte, weil das Gefühl erneut in mir aufsteigt: „Einfach lächerlich, einfach lächerlich.“ Wenn ich nach einer Weile ein Zittern spüre, ist es so, als würde dadurch alte Angst und schlechte Erfahrungen aus mir weichen. Durch das Wandern in moderatem Tempo wird mir bald warm. Wärme und Glück steigen aus dem Bauchraum auf. Hin und wieder werde ich noch von einem bebenden Zittern erfasst. Dann gehe ich einfach ein bisschen schneller und beherzter, und es löst sich schnell auf. Mein Körper ist gut trainiert, das kommt mir jetzt zupass.
Ebenso wie ich leibliche Kräfte in mir fließen fühle, die sich taktgenau zu harmonieren suchen, spüre ich, wie das Seelische arbeitet, wie die Seele nirgends kleben bleiben möchte, nicht im Glück, nicht im Unglück, nicht in fremd erscheinenden festgelegten Sätzen und Doktrinen. Auch die Seele ist genau, sprechend, will fließen, leicht sein und über sich lächeln können. Ich spüre, wo Gedanken anhalten und der Atem stockt, wo ich es nicht wage, weiter zu denken. Dann formen sich innere Bilder, die ich ansehe und zulasse. Und in der Ordnung der Psyche geleitet es mich weiter, kreisend geht es an Knäuelstellen. Immer wieder wirkt der Blick in die Landschaft dabei befreiend und lösend, wird auch innerlich zu Gewölben heiliger Haine und fließender Quellen.
Ich habe den Eindruck, es findet eine Art Umbau oder Transformation in Richtung meines Originalzustandes statt.
Das Negative wird eingegliedert in einen umfassenderen positiven Zustand. Glück und Freude scheinen eigentlich Normalzustände zu ein. Die umgangssprachliche Wendung „Dann kannst du baden gehen“ ändert sich sinnbildlich in „Gehe baden, um die Situation zu klären“, also positiv. Die Psyche scheint über eine eigene Gesetzmäßigkeit, eine innere musikalisch-hierarchische Ordnung im Sinne einer Rangordnung zu verfügen, das jeweilige Thema zu konnotieren, das gerade „dran“ ist, bevor es weitergehen kann. Durch die Extremsituation, die in gewisser Weise die eigene Existenz in Frage stellt, werden äußerst starke Vitalkräfte mobilisiert, die die Lebensgeister wecken und sozusagen von einem höheren Raum her Ordnung schaffen.
Als ich später zu Hause meinen Hunger stillen möchte, spüre ich meine Mundhöhle vergrößert wie eine begehbare Höhle.
Automatisch schließe ich meine Augen und merke erst in der Ruhe — und diese gönne ich mir gerade —, wie quellengleich die Speicheldrüsen die Verdauungsenzyme absondern. Ich bin erstaunt, welche Menge gebildet wird. Ich kaue und wundere mich darüber, wie lange es dauert, bis der Speisebrei ausreichend durchfeuchtet und verdünnt ist, bis er durch die Kehle hinabrinnt.
Ich habe gelernt, den Winter neu zu spüren, lebendiger, farbenfreudiger. Die Kälte ist nicht nur zum Frieren da. Sie gebiert neue Kraft. Iceman Wim Hof spricht von „Kraft durch Kälte“. Neben den zahlreichen positiven Effekten des kalten Bades, die medizinisch umfangreich belegt sind, wie Stressresistenz, gestärktes Immunsystem, Rückgang von Entzündungen, Blutdruckregulation, tieferer Schlaf, scheint es ein besonderes Erleben zu sein, das die meisten Menschen fasziniert. In schwierigen Lebenssituationen kann es zum Gamechanger werden. Die sensible Gegenwartsautorin und Journalistin Amy Liptrot (geboren 1981) erzählt in ihrem viel beachteten Buch „Nachtlichter“, wie sie sich im ausschweifenden Londoner Nachtleben fast verloren hätte. Durch regelmäßiges Schwimmen im mitunter nur 4 Grad kalten Ozean kam sie zu starken inneren Erlebnissen und einer besonderen Naturfühligkeit, wodurch sie sich körperlich stärken und mental heilen konnte.
Fotos: Ulrike Kirchhoff
Redaktionelle Anmerkung: Dieser Beitrag erschien zuerst bei info3.