Eiserne Zeit
Eine Zürcher Quartierstraße verbindet eine Flucht aus der DDR im Jahr 1965 und einen gezielten Kopfschuss von 1983 mit den Verhältnissen heute.
Kürzlich erschien im Suhrkamp Verlag die „Fluchtnovelle“ von Thomas Strässle. Der kurze Text stieß und stößt in den deutschsprachigen Medien auf breite Resonanz. Die Berliner Zeitung beispielsweise spricht in ihrer erst jüngst erschienenen Kritik vom 4. Januar 2025 von „politisch brisant und emotional aufwühlend“. Elke Heidenreich lobt das Buch. Erzählt wird von einer Flucht aus der DDR. Insofern können die Aufnahme ins Verlagsprogramm bei Suhrkamp und das Echo in der Presse nicht erstaunen, was aber nicht gegen den Text spricht. Spannend ist, dass eine zentrale Straße des Geschehens, genannt „Im Eisernen Zeit“, eine Quartierstraße in Zürich, auch Ort eines politischen Geschehens unter ganz anderen Vorzeichen ist. Dieses andere Geschehen, vom Filmemacher Richard Dindo in einem Dokumentarfilm verarbeitet, hat knappe 20 Jahre nach der besagten DDR-Flucht stattgefunden. Noch erhellender ist es aber, die Geschehnisse von damals mit der Zeit jetzt zu verknüpfen, um zu überprüfen, auf welche Weise sich die Metaphorik des Straßennamens „Im Eisernen Zeit“ verändert hätte. In Daniel Sandmanns „Zufallslektüren“ der „Fluchtnovelle“ und des Dokumentarfilms verknüpfen sich die Jahre 1965, 1983 und 2024 zu einer anthropologischen Konstante.
„Sie wohnten ‚Im Eisernen Zeit‘, ihrer ersten gemeinsamen Adresse.“ So steht es in Thomas Strässles „Fluchtnovelle“. Diese „Eiserne Zeit“, der Name von einer eisernen Wanduhr herrührend und nur allzu bald metaphorisch aufgeladen, liegt bloße 300 Meter von meinem früheren Wohnort entfernt, in der Nähe des Schaffhauser Platzes in Zürich. In den Tagen vor Weihnachten 2024, mittlerweile lange Jahre außerhalb der Schweiz lebend, fand ich auf sonderbare Weise dahin zurück, indem sich zwei Ereignisse in meinem Bewusstsein über diese „Eiserne Zeit“ ineinander verkeilten. Zufällig und scheinbar paradox.
Zum einen endet Thomas Strässles „Fluchtnovelle“, 1965 spielend und bei Suhrkamp 2024 verlegt, in dieser Quartierstraße. Der Ort wird zur ersten Station „in der Freiheit“ für eine Frau aus der damaligen DDR und ihrem Schweizer Freund. Auf abenteuerliche und erfinderische, ja äußerst kreative Art und Weise gelingt es ihnen, die staatliche Totalüberwachung durch den damaligen Kommunismus zu überlisten. Davon handelt Thomas Strässles gekonnte Textmontage.
Darin darf der Westen noch einmal — indes durchaus nicht pathetisch abgefeiert, das sei angemerkt — als Topos der Freiheit fungieren. Die Geschichte spielt unbehelligt von Cancel- und Korrektiv-Kulturen in den 1960ern. In derselben Quartierstraße, „Im Eisernen Zeit“ genannt, und 18 Jahre später endet das Leben von Renato. In mir verschränken sich die Dinge, weil ich zufällig Richard Dindos Dokumentarfilm „Dani, Michi, Renato und Max“ aus dem Jahr 1987 anschaue und zwei Tage später Strässles Text lese. Ein Weihnachtsgeschenk, Dezember 2024, irgendwo in Norddeutschland. Also in einem Land, das Menschen durch die Staatsmacht überfallen lässt, weil sie den grünen Wirtschaftsminister als „Schwachkopf“ bezeichnen oder weil sie in einem Social-Media-Eintrag „Deutschland über alles“ schreiben. Bei Letzterem ein vierzehnjähriger Junge als „Täter“ und Überfallziel der Staatsmacht.
Im Dokumentarfilm aus dem Jahre 1987 entwendet Renato, ein Jugendlicher aus dem Umkreis dessen, was damals „Zürcher Jugendunruhen“ genannt wurde, ein Auto. Er wird von der Polizei durch halb Zürich verfolgt und in der besagten „Eisernen Zeit“ mit gezielten Kopfschüssen durch die Heckscheibe ins Koma befördert, aus dem er nicht wieder erwacht. Neun Zeugen hören die Schüsse, nachdem der Lärm von Automotoren verstummt ist.
Für Renato wird das „Eiserne Zeit“ zum finalen Topos andersrum. Hier schlägt die Staatsmacht zu, während für das junge Paar viele Jahre davor in den 1960ern an gleicher Stelle die Staatsmacht von drüben als final abgeschüttelt gelten kann.
Vom Jahrgang des Autors Thomas Strässle her wäre es zwar nicht per se auszuschließen gewesen, es hätte ein Bewusstsein für diese paradoxe Verschränkung in seiner Novelle aufgeleuchtet. Die Jugendunruhen der 1980er stehen nicht ohne Bedeutung in der Schweizer Geschichte. Zu erwarten war dies freilich nicht. Vielmehr wird der Suhrkamp-Verlag, der seit vielen Jahren davon absieht, substantiell Systemkritisches zu publizieren, und vielmehr werden die Systemmedien diese, wie gesagt, äußerst geschickt montierte und in einzelnen Passagen von fast kafkaesker Präzision gezeichnete Novelle in dieser vom „Niedergang des Westens“ (Emmanuel Todd) geprägten Zeit mit Handkuss aufgenommen haben. Bezüglich Präzision übrigens hervorzuheben: die Szene in einer Prager Bierhalle, als der Protagonist den Schock verarbeiten muss, dass sein minutiöser Fluchtplan durch eine Farbänderung des Einreisestempels zu bersten droht.
In diesem Text gilt sie noch, die millionenfach in die DNA eingegangene Gegenüberstellung „freier Westen hier — unfreier Osten drüben“. Und dass der Autor selbst, in den Kulturinstitutionen des Westens sicher gebettet, darauf verzichtet, die in der subjektiven Erfahrungswelt seiner Protagonisten und damit naturgemäß in der Geschichte angelegte Gegenüberstellung innerhalb seines Erzählens zu unterlaufen, das ist ihm nicht vorzuwerfen, zumal sich die Verhältnisse in der Tat so gezeigt haben und es sich bei den damalig Flüchtenden um seine Eltern handelt.
Der Film von Richard Dindo beziehungsweise der in diesem Film ebenso gekonnt de-montierte Topos der Freiheit im Westen allerdings erlangt seine „wahre Bedeutung“ erst, wird er nicht bloß mit Strässles Fluchtgeschichte, sondern auch mit der Lage jetzt in Verbindung gesetzt. Die Staatsmacht, Renato mit gezielten Schüssen aus dem Leben tilgend, war damals eine „bürgerlich“ etikettierte Größe.
Das altbewährte Links-Rechts-Muster kam infolgedessen auch in der Reaktion auf diesen „Ordnungsvollzug“ zum Anschlag. Sogenannte Linke waren es, die damals aufschrien. Und Konservativ-Bürgerliche, welche die Staatsgewalt verteidigten.
Eine Chimäre, dieses Muster, wie diejenigen lernen mussten oder konnten, die nach dem Jahre 2001, verstärkt nach 2008 und nochmals verstärkt nach 2020 aufgewacht sind. Beim Zuschlagen der Staatsmacht nach 2020 — in Deutschland sitzen derzeit Ärzte in Gefängnissen, weil sie den hyprokratischen Eid über den staatlichen Zwang gestellt haben, nur so als Beispiel — waren es vor allem „Links-Etikettierte“, die applaudiert, in nicht seltenen Fällen aber die Repression vorangetrieben haben. Und die Erkenntnis, wie totalitär die Ordnung ist, vollzog sich mitunter auf konservativer Seite. Und einige dieser Konservativen haben gar bemerkt, dass die Ordnung nicht plötzlich so geworden ist, weil „links“ oder „grün“ Etikettierte in exekutiven Instanzen Einsitz genommen haben, sondern dass Macht und Repression grundsätzlich verschränkt sind.
Wenn „Linke und Grüne“, damals ob der Hinrichtung Renatos geschockt und jetzt alles Machtkritische als „Nazis“ stempelnd, mittlerweile in der totalitären Unterdrückung alles Anderen und Abweichenden im Dienste von Konzernen und Staat aufgegangen sind — Habeck das Paradigma —, so wird das anthropologische Urmuster deutlich. Und gerade deshalb ist es notwendig, Geschichten zu erzählen, in denen Menschen mit kreativer List (Über-)Macht torpedieren und abschütteln.
Blendet man den Aspekt aus, dass ein Verlag, Medien und andere Instanzen diese Geschichte zugunsten der Macht, im Rahmen derer sie sich etabliert haben, instrumentalisieren, fungiert Thomas Strässles „Fluchtnovelle“ als eine solche zeitlose und notwendige Parabel, die von subjektiver Freiheit erzählt oder besser noch: von pulsierendem Leben.
Und Dindos Film als Parabel dafür, wie es zerstört wird. Hüben wie drüben.
Ergänzt sei indes, dass die Reizschwelle für das Zuschlagen der Macht — abhängig weniger von ideologischen denn von ressourcentechnischen Faktoren — durchaus variiert. In den 1960ern und vielleicht noch bis beginnende 1990er war dieser Freiheitsraum als Epiphänomen im Westen und also auch in der Schweiz für einen überwiegenden Teil der Menschen bestimmt noch etwas größer als gegenwärtig. Von daher ist es kein Zufall, dass Thomas Strässles Fluchtnovelle „Im Eisernen Zeit“ als Ort der Freiheit endet.
Nachzutragen ist außerdem, dass es sich bei der männlichen Hauptfigur der Geschichte um „meinen ersten Rektor“ handelt, der mich als Philosophie- und Deutschlehrer angestellt hat. Bereits zu jener Zeit griff die Bürokratie verstärkt in die Bildung ein. Dieser Rektor aber, das kann gesagt sein, hat im Rahmen seiner Möglichkeiten versucht, die Freiheit des Unterrichtens und mehr noch: die Freiheit des Geistes gegen diese Bürokratie zu verteidigen. Insofern wusste er, dass es die Freiheit niemals aufgrund eines Urteils über Andere gibt, sondern stets nur als ideenreicher Kampf gegen Macht, gegen Strukturen, gegen Eingriffe von oben. Vielleicht hat er das als Erkenntnis aus dieser gelungenen Flucht mit in die Bildung übernommen. Er war, soweit ich unterrichtet bin, der letzte Rektor mit Rückgrat und Geist. Danach kamen gerade „bei uns im Westen“ nur noch Systemlinge. Nicht bloß an seiner Schule, sondern vielmehr allerorts.