Eine Nation im Krankenstand
Nach Jahren der psychischen Misshandlung durch ihre „Eliten“ sind die Deutschen zu einem eingeschüchterten, ausgebrannten, zutiefst gespaltenen Volk geworden.
Man kann einem Menschen immer noch weitere Lasten aufladen — irgendwann trägt er sie nicht mehr und das Rückgrat bricht. Dies gilt für Kollektive und Völker ebenso. Die Deutschen wurden in den letzten Jahren mehrfach traumatisiert — von der Last, den die Erinnerung an die Nazi-Diktatur darstellt, ganz zu schweigen. Warnungen, Moralpredigten und Aufforderungen, gegen Feindbilder bis zum Äußersten zu kämpfen, prasseln aus den Medien in immer schnellerem Takt auf uns ein. Die Mächtigen halten uns in Atem, bedrängen uns, rauben uns unser Geld und zunehmend auch unsere Selbstachtung. Man könnte auch sagen: Wir lassen sie uns rauben. Der alte Ausspruch, Deutschland sei der „kranke Mann Europas“, erlangt nun ungeahnte Aktualität. Wie ist Heilung möglich? Zuerst brauchte es eine gründliche Diagnose, die der Autor hier liefert.
Orthopädisch bleibt die Lage anhaltend bedenklich, psychologisch indes scheint sie gar aussichtslos, und auch Hals-Nasen-Ohren-Ärzte verzeichnen einen massiven Patientenansturm. „Es ist ernst. Nehmen Sie es auch ernst“, warnte länger schon eine inzwischen abgetauchte ehemalige Frau Bundeskanzler Angela Merkel. Denn in den Ohren vieler klingelte es ununterbrochen, wenn man 2021 den Einschaltknopf des Radios betätigte: „Lauterbach mahnt …“, „Lauterbach fordert …“, „Lauterbach warnt …“ — 40-mal war Karl Lauterbach allein 2021 in den sogenannten Talkshows von ARD und ZDF zu Gast — und klingelt nun verstärkt: „Demokratie, Demokratie, Demoooookratie und Rechts, Rechts, Rääääächz.“
Keine Verschnaufpause mehr, kein Tag mehr, an dem nicht der Bundespräsident warnend den Zeigefinger hebt oder der Bundeskanzler es ihm gleichtut; an dem sich politisches Personal aus Reihe eins bis drei findet, um eindringlich dem Medienvolk einzuträufeln, die zweite deutsche Demokratie sei um jeden Preis zu erhalten.
Die Sekundanten aus Medien, Kirchen und weiteren staatstragenden Institutionen bieten sich bereitwilligst zum Dienst. Unwilliges Kopfschütteln dann, wenn ein Unbelehrbarer darauf verweist: Opposition und Regierung, da war doch einmal was, wenigstens auf dem Papier. Dieser Dauerklingelton und Nachhall zermürbt, und mancher vermutet, er könnte längst einen Hörschaden davongetragen haben. Nachklang und Erlebtes wollen nicht recht zusammenpassen. Denn wurde nicht durch staatliche Organe vor ein paar Monaten noch derjenige verfolgt, natürlich „zur Eindämmung des Virus“, der das Grundgesetz mit sich führte und gelegentlich seinen Mitmenschen daraus öffentlich vortrug? Wurden nicht Schlittenfahrer per Hubschrauber verfolgt, Liebespaare auf Parkbänken mit Bußgeldern belegt? Sah man nicht Polizisten mit Abstandshölzern auf den Straßen und allerorts das Geplärr: „Maske auf!“?
Eigenverantwortung und Risikoabwägung wurden zum dekadenten Privileg erklärt. Wer sich weiters darauf berief, der spürte nun die neue „Solidargemeinschaft“ und wurde geziehen, „Aasgeier der Pandemie“ (Winfried Kretschmann, Grüne) zu sein. „Antisolidarische Arschlöcher“, meint der Comedian André Herrmann, der Kabarettist Dieter Wischmeyer tituliert „asoziale Arschlöcher“, „Covidioten“ wird Saskia Esken (SPD) rufen, und der Journalist Hendrik Wieduwilt zwitschert „dämliche und menschenfeindliche Arschgeigen“.
Musikmanager Andreas Läsker kennt „ultra-asoziale Vollidioten“. Alt-Bundespräsident Joachim Gauck wittert „Bildungsunwillige“ und „hinreichende Zahlen von Bekloppten“. „Gefährlicher Sozialschädling“, weiß Rainer Stinner (FDP), ZDF-Clown Jan Böhmermann sieht allenthalben „Halbmenschen“. Für den Journalisten der Thüringer Allgemeinen Zeitung, Henryk Goldberg, sind Kritiker „intellektuell unterprivilegierte, asoziale Mitbürger“. Für Österreichs Vizekanzler Werner Kogler sind die Eigenverantwortlichen und Abwägenden „Staatsverweigerer“ oder gleich „Neofaschisten“. Die Welt des Grundgesetzes war von einem Tag auf den anderen zerstört. Aber „da haben wir es schon, das kleine Problem“, meint der CDU-Bundestagsabgeordnete Carsten Körber, es gibt „ganz offensichtlich (…) Menschen, die ernsthaft der Ansicht sind, dass Grundrechte nicht mit Verantwortung einhergehen und dass sie auch schrankenlos zu gelten haben. Sorry, das ist leider falsch“.
Rückendeckung bot für solche Unbotmäßigkeit die damalige Bundeskanzlerin Angela Merkel, schärfte sie dem Bürger — wenngleich geschichtsklitternd — am 18. März 2020 ein:
„Unsere Vorstellung von Normalität, von öffentlichem Leben, von sozialem Miteinander — all das wird auf die Probe gestellt wie nie zuvor.“
Sollte das Grundgesetz aber nicht das eigentliche Rückgrat und Schutzschild des Bürgers sein? Sein Abwehrrecht gegen einen extrem übergriffigen Staat?
Das Recht auf Privatsphäre, Meinungsfreiheit, Pressefreiheit, Freiheit der Kunst, Versammlungsfreiheit, das Recht auf Unversehrtheit der Person etwa sind solche Grundrechte. Erwies sich in den Jahren der Pandemie alles Gerede von der Demokratie nicht bestenfalls als „eine zynische Geste (…), mit der eine zutiefst manipulative Politik getarnt werden soll“? (Sheldon S. Wolin).
Der scharfsichtige Journalist und Historiker Sebastian Haffner gab bereits im Jahre 1967 zu bedenken:
„Nominell leben wir in einer Demokratie. Das heißt: Das Volk regiert sich selbst. Tatsächlich hat, wie jeder weiß, das Volk nicht den geringsten Einfluss auf die Regierung, weder in der großen Politik noch auch nur in solchen administrativen Alltagsfragen wie Mehrwertsteuer und Fahrpreiserhöhungen.“
Bitter konstatierte Haffner deshalb bereits vor knapp sechzig Jahren:
„Das entmachtete Volk hat seine Entmachtung nicht nur hingenommen — es hat sie geradezu liebgewonnen.“
„Wir sind ein Rechtsstaat“, betont(e) die Bundesregierung immer wieder, und nun jüngst auch eine Bundesinnenministerin Nancy Faeser.
Das große „Aber“ folgte auf dem Fuße. In diesem Aber sahen Vorzeigedemokraten vom Schlage eines Winfried Kretschmann oder eines Karl Lauterbach ihre Stunde gekommen: „Wir sollten also einmal grundsätzlich erwägen, ob wir nicht das Regime [sic!] ändern müssen, sodass harte Eingriffe in die Bürgerfreiheiten möglich werden“, betonte der grüne Ministerpräsident am 26. Juni 2021 unverblümt, und schon im Oktober 2020 forderte der damalige SPD-Gesundheitsexperte Lauterbach: „Die Unverletzbarkeit der Wohnung darf kein Argument mehr für ausbleibende Kontrollen sein.“
Nur randständig sei erinnert: Es ist derselbe „Gesundheitsexperte“, der im April 2020 bei Markus Lanz meinte, Staubsaugerbeutel ließen sich zu Schutzmasken umgestalten, der auf Twitter (inzwischen X) zwitscherte, dass sich Corona über die Toilettenspülung verbreite, der betonte, dass Gehirne infolge einer Infektion um zehn Jahre alterten, der sogenannte Impfstoffe als „nebenwirkungsfrei“ bewarb. Die „absolute Killervariante“ hob er im April 2022 aus der Taufe; da ist dieser Mann bereits Bundesgesundheitsminister. Es ist nun freilich Osterzeit, und ein anderer Ruf wird laut: Mein Name ist Hase …
Verkrümmungen
Mussten und müssen sich die Orthopäden vor allem der Schleudertraumata annehmen, die durch anhaltendes und immer heftiger ausfallendes Kopfschütteln beim Staatsbürger verursacht werden, so sind in den letzten Monaten seltsame Rückgratverkrümmungen der einst „Unbeugsamen“ zu behandeln. Vor einiger Zeit schon fragte die Schriftstellerin Cora Stephan sehr besorgt:
„Was geht im Kopf eines Politikers wie Friedrich Merz vor, der die Grünen erst zum Hauptgegner erklärt und dann eine Koalition mit ihnen nicht mehr ausschließt?“
„Alles halb so schlimm mit der Verkrümmung“, wiegelt der ehemalige CDU-Generalsekretär Ruprecht Polenz ab und betonte im Deutschlandfunk, Merz habe sich „semantisch etwas vertan“. Verzerrungen und Verrenkungen der jüngsten politischen Übungen auf den Feldern Migration, Energie, Gender, Corona, Landwirtschaft, Klima, Altparteien, AfD, Öffentlich-Rechtliche, Justiz und so fort bedürfen zudem erhöhter Aufmerksamkeit, der Schmerz ist gewaltig und vernebelt die Sinne.
Angst- und Schulderzählungen werden ausgegraben, demokratisch ausgehandelte nationale stabile Positionen zugunsten supranationaler Agenden durch UN, EU, IWF, WHO überschrieben, deren vermeintlich altruistischer Charakter durch den Einfluss privater Investoren längst verloren ging.
Deutsche Politiker und Journalisten üben sich im Dehnen und Winden und wollen Klassenbester werden oder bleiben. Der Jurist Heribert Prantl ruft in der Süddeutschen Zeitung zur „demokratischen Mobilmachung“ auf und zum „Widerstand gegen die Neonazis“, und überhaupt wäre die Sache mit der „Wählbarkeit“ zu prüfen. Die Transformation der Sozialen Marktwirtschaft in eine planmäßige Kriegswirtschaft fordert Ulrike Herrmann in der taz, nicht zuletzt, um dem Klimawandel zu trotzen. Beispiele einer sich immer weiter steigernden Hysterie. Vorauseilender Gehorsam und Übererfüllung der Planvorgaben als Übungsziel. Und allerorten wird gerettet und gewendet. Banken-, Klima-, Eurorettung, Verkehrs- und Energiewende sind die O-Töne der Dauerbeschallung.
Das Kollabieren des Bankensystems im Jahre 2008 stemmte vor allem der deutsche Steuerzahler, trug er schließlich auf seinen Schultern die Hauptlast der europäischen Bürgschaften. 2011 ging Deutschland erneut voran und verkündete nach dem nuklearen Zwischenfall in Fukushima das Aus für die deutschen Atomkraftwerke — das Ende für die Kohlekraftwerke wurde gleichzeitig beschlossen. Wen interessierten in Deutschland im Jahre 2015 die Belastungen des Sozialstaates, des Gesundheitssystems oder gar die Lage des Sicherheitssystems, als Millionen Flüchtlinge über die Grenzen kamen?
Die Grenzen jedenfalls könnten nicht geschlossen werden, erklärte die Bundeskanzlerin. Die damalige CDU-Chefin grummelte hinsichtlich ihrer Linie in der Flüchtlingspolitik:
„Ich muss ganz ehrlich sagen, wenn wir jetzt anfangen, uns noch entschuldigen zu müssen dafür, dass wir in Notsituationen ein freundliches Gesicht zeigen, dann ist das nicht mein Land.“
Merkels eigenes freundliches Gesicht bemerkte man ohnehin selten, den Wirbeldefekt hingegen sehr. Im März 2020 hieß es dann:
„Deswegen sind seit Anfang der Woche die verschärften Grenzkontrollen und Einreisebeschränkungen zu einigen unserer wichtigsten Nachbarländer in Kraft.“
Wen scherte in Deutschland sozialer und ökonomischer Frieden, als 2020 und in den Folgejahren rigorose Gesetze zur sogenannten Pandemiebekämpfung erlassen wurden?
Deutsche Politiker erwiesen sich hier geradezu als Musterschüler der Weltgesundheitsorganisation. Überhaupt wusste der Mann der Wissenschaft, Lothar Wieler: „Diese Regeln (…) dürfen überhaupt nie hinterfragt werden.“ „Deswegen bitte ich Sie: Glauben Sie keinen Gerüchten, sondern nur den offiziellen Mitteilungen“, wird Angela Merkel verlautbaren und die Leerformel hinzuzusetzen: „Wir sind eine Demokratie.“ Am 30. Januar 2020 wusste die Journalistin Stephanie Probst vom Bayerischen Rundfunk noch zu berichten:
„In den sozialen Medien häufen sich Fake News, Verschwörungstheorien und Gerüchte, die Angst vor dem Coronavirus machen sollen (…). Die Bevölkerung soll beunruhigt werden, was das Vertrauen in den Staat und dessen Glaubwürdigkeit erschüttern soll.“
Doch Gewicht auf Gewicht zu legen ist nur begrenzt möglich. Noch die stärkste Wirbelsäule muss irgendwann nachgeben und brechen. Manische Gestimmtheit ist eben kein Knochenzement, und selbst dieser bricht unter unerträglicher Last.
„Dass es so spalterisch wird, hätte ich nicht gedacht“, so Lothar Wieler in der Rückschau. Es bleibt ihm immerhin das Bundesverdienstkreuz. Es ist nun freilich Osterzeit, und ein anderer Ruf wird laut: Mein Name ist Hase …
Geisteskrankheiten
Psychiater und Psychologen hingegen kämpfen gegen eine sich pandemisch ausbreitende Geisteskrankheit, sie wird als Wokeness bezeichnet. Die Befallenen befinden sich im Zustand von Wachheit und hysterischer Erregtheit, hinzu tritt ein eigenartiges Gestammel, das an die deutsche Sprache maximal marginal erinnert. Das sprachliche Gewimmer wird von den Erkrankten als gendergerechte Sprache bezeichnet.
Verhaspelungen und Verschluckungen beim Gestammel sollen auf Frauen verweisen, die nun endlich „sichtbar“ werden, doch so sichtbar sollte die Frau auch nicht sein, denn da lauert dann schließlich der unausrottbare Sexismus. Da nun aber jeder Mann sich unumwunden zur Frau erklären kann, wird die sprachliche Verwirrung immer grotesker. Und warum sollte überhaupt auf die Frau verwiesen werden, wenn sie doch zugleich abgeschafft, entsorgt, ausgelöscht wird? Aber was fragt man — eine Geisteskrankheit folgt eigener Gesetzlichkeit. Permanenter Schlafmangel führt eben innerhalb kurzer Zeit zu Stressreaktionen und Reizzuständen des Körpers sowie zur Bewusstseinstrübung: Systematisches und logisches Denken werden unmöglich. Nüchternheit wird von den Infizierten als Provokation empfunden. Diese eigenartige und offenbar regelmäßig wiederkehrende Erkrankung, für die besonders Deutsche — „Deutschland erwache“ hallte es unablässig länger schon — anfällig sind, weckte inmitten des Zweiten Weltkrieges bereits die Neugier des ungarischen Staats- und Verwaltungsjuristen István Bibó.
Seiner kritischen Analyse zur deutschen Geschichte gab er den Titel Die deutsche Hysterie und konstatierte als Ausgangspunkt einer politischen Hysterie eine „erschütternde historische Erfahrung der Gemeinschaft. Und zwar eine Erschütterung, die die Belastbarkeit einer Gemeinschaft übersteigt und die daraus resultierenden Probleme unlösbar macht“. Solch erschütternde Erfahrungen sind für den Juristen etwa die Auflösung des Heiligen Römischen Reiches Deutscher Nation im Jahre 1806 und die damit einhergehende Belastung der deutschen Nationalidee.
Auch der Schriftsteller Günter Kunert verweist in seinen Aufzeichnungen aus dem Jahre 1999 auf mannigfache „Orientierungslosigkeiten“:
„Keine andere Nation hat derart viele Umbrüche und Umschwünge erlebt und erlitten wie die deutsche (…). Die Brüche sind bekannt genug: Kaiserreich, erster verlorener Weltkrieg, Weimarer Republik, Hitlers Drittes Reich, Zweiter Weltkrieg, Zerstörung weithin, Spaltung des Landes in zwei Staaten und deren Integration in rivalisierende Machtblöcke. Was soll man da von den Menschen anderes erwarten als Verdrängung, Vergessenssucht, Hinwendung ins Private.“
Eine politische Ernüchterung und der damit beginnende Genesungsprozess wollte und will sich nicht einstellen, die Diskrepanz zur Realität wurde und wird immer stärker und manifester. Nicht das Vorliegende oder das Mögliche rück(t)en in den Fokus, sondern Wunschträume und Phantasmen bestimm(t)en das politische Feld. Hoffnung auf Katharsis und Erlösung stell(t)en sich ein. Sind aber die Feststellungen des István Bibó nicht sehr aktuell?
„Lossagung der Gemeinschaft von den Realitäten, Unfähigkeit zur Lösung der vom Leben aufgegebenen Probleme, unsichere und überdimensionierte Selbsteinschätzung, sowie irreale und unverhältnismäßige Reaktion auf die Einflüsse der Außenwelt.“
„Endphase humaner Gemeinschaftlichkeit“?
Ist also eine historische Kontinuität der politischen Hysterie in Deutschland ausgemacht? In den Ereignissen, die im September 2015 ihren Ausgang nahmen, lässt sich jedenfalls ohne Mühe eine „Lossagung der Gemeinschaft von den Realitäten“ erkennen und als eine „unsichere und überdimensionierte Selbsteinschätzung“ interpretieren. Über allem wabert ein moralischer Rigorismus, die eigene Position wird als einzig richtige wahrgenommen; deshalb deutsche Sonderwege, wohin das Auge reicht, auch wenn diese an den Rand der ökonomischen und sozialen Leistungsfähigkeit führen. 2008 wähnte sich so mancher Zeitgenosse noch „im besten Deutschland aller Zeiten“, doch hellsichtige Beobachter bemerkten schon damals:
„Energie wird von Tag zu Tag teurer. Der Moment ist abzusehen, da die Leute nur noch für die Heizung, das Benzin und das warme Essen arbeiten, vorausgesetzt sie haben überhaupt Arbeit. Mit dem stillen Ableben der Alten ist zu rechnen (…). Aber womit die Energie bezahlen, die man für anderes, eben Kochen und Beleuchtung und warmes Wasser, benötigt? Das Gespenst der Verelendung geht um, die selbsternannten Exorzisten versuchen, dem ‚Gesellschaftskörper‘ die bösen Geister auszutreiben, freilich ohne Erfolg. Das System klappert vor sich hin, eine Maschinerie, deren Bewegung langsamer und mühsamer wird, bis sie kollabiert und gänzlich stehenbleibt. Danach setzt die Rückwärtsbewegung ein (…), die Endphase humaner Gemeinschaftlichkeit.“ (Günter Kunert)
Die pädagogische Intention — und sei sie noch so schwarz — muss uns doch aber wenigstens bleiben! So konnte István Bibó ausführen:
„Weil sie (die Deutschen) sich in den eigenen Belangen nicht zurecht fanden, wollten sie andere belehren. Den eigenen Missständen konnten sie nicht abhelfen, deshalb verkündeten sie, dass die Genesung der Welt von ihnen komme.“
Volkserzieher Nikolaus Blome (Ressortchef Politik bei RTL) geiferte im Dezember 2020:
„Ich hingegen möchte an dieser Stelle ausdrücklich um gesellschaftliche Nachteile für all jene ersuchen, die freiwillig auf eine Impfung verzichten. Möge die gesamte Republik mit dem Finger auf sie zeigen.”
Und er weiß nun auch im Ukrainekonflikt, wo der Schuh noch nicht passt:
„Es mehren sich die Hinweise, dass es stets dieselben sind, die da am lautesten krakeelen, nicht nur im Osten des Landes. Das macht es einfacher und schwerer zugleich. Einfacher, weil man die Pappenheimer inzwischen kennt und ihr Weltbild nicht neu kartografieren muss. Schwerer, weil die Betroffenen nach eigenen Angaben zunächst Sorge hatten, ‚umgevolkt’, dann beim Impfen ‚gechipped’ und jetzt enteignet zu werden, obwohl die Ukraine doch Russland angegriffen habe. Wie viel Verfolgungswahn geht in einen einzelnen Kopf? Sollte man es also nicht gleich lassen mit der Ansprache? ‚Bürger‘ ist kein geschützter Begriff, das ist mir klar. Jeder kann sich ‚Bürger‘ nennen, auch wenn er mit einem schiedlich-friedlichen Gemeinwesen, Toleranz, Mehrheitsfindung oder sonstigen Gepflogenheiten einer bürgerlich-zivilen Gesellschaft absolut nichts am Aluhut hat. Aber es gibt eben auch eine Grenze, jenseits derer sind bestimmte Bürger nicht mehr besorgt, sondern bescheuert, und es wäre an der Zeit, das einmal laut auszusprechen.“
Doch vielleicht sollte endlich angesichts der tief eingegrabenen kollektiven Angst eher laut an einen alten Text erinnert werden:
„Was hilft es dem Menschen, wenn er die Gesundheit der ganzen Welt gewönne und nähme doch Schaden an seiner Seele?“ (Matthäus 16,26).
Träumerische Hoffnung
Der Schriftsteller Günter Kunert hielt einen „obskuren“ Traum fest:
„Viele Menschen, offenkundig verängstigt, unter Diktatur stehend, unsicher, furchtsam, doch plötzlich, vielleicht durch mein Auftreten, aufrührerisch, plötzlich aggressiv, wild um sich schlagend, ja, alles Erreichbare zerschlagend, Gegenstände zerbrechend, ein wüstes Tohuwabohu, mittendrin ich, ebenfalls ein rasender Roland, ein überquellender Vulkan von Gestalten, eine Befreiungsorgie, eine Erleichterung (…). Große Ereignisse lassen ihre Schatten zurück — bis in die Träume.“
Doch vielleicht bleibt angesichts der verfestigten Traumata lediglich der Rat des Angstforschers und Psychiaters Borwin Bandelow übrig: „In solchen Fällen rate ich unbedingt, einen Facharzt aufzusuchen.“
Doch ob diesem noch Vertrauen entgegengebracht wird oder überhaupt ein Termin erhältlich ist, steht freilich auf einem ganz anderen Blatt.