Eine lange Geschichte der Menschheit

Anders als es der Erfolgshistoriker Yuval Noah Harari erzählt, muss es mit dem Menschen kein schlimmes Ende nehmen.

„Der Mensch ist etwas, das überwunden werden muss“, sagte Friedrich Nietzsche. Aber vom wem? Und wer oder was kommt nach dem Menschen? Glaubt man den Prophezeiungen der Konstrukteure der schönen neuen Technikwelt, ist es mit der Menschheit im herkömmlichen Sinn demnächst vorbei. Künstliche Intelligenz (KI) und synthetische Biologie sorgen dafür, dass aus einer Fehlkonstruktion am Ende doch noch etwas Anständiges wird. Doch wir müssen so nicht enden. Unsere Geschichte kann anders weitergehen. Hierfür müssen wir uns auf Wurzeln besinnen, von denen uns bisher kaum jemand etwas erzählt.

Das Erzählen hat eine lange Tradition. Seit Menschengedenken sitzen wir am Lagerfeuer und erzählen uns Geschichten, wahr oder erfunden. Bevor das Erzählte schriftlich festgehalten wurde, wanderten die alten Mythen, Sagen, Legenden und Märchen, das Fundament der Zivilisationen, über Jahrtausende mündlich von Generation zu Generation. Immer und immer wieder wurden sie detailgetreu nacherzählt. Wie Kinder vorm Einschlafen wollten wir sie immer wieder hören und prägten sie uns ganz genau ein.

Storytelling, den meisten vor allem aus Marketing, PR und Werbung bekannt, heißt heute die Möglichkeit, Wissen und Erfahrungen in lebendiger Form weiterzugeben. Was wir in Storys erzählt bekommen, können wir uns generell besser als trocken logisch-sachlich dargestellte Fakten merken. Es werden nicht einfach Produkte verkauft, sondern Inhalte, mit denen wir uns identifizieren können. Das Erzählte kann sowohl auf wahren Tatsachen beruhen, vollständig erfunden sein oder wahre Tatsachen und fiktive Elemente miteinander kombinieren.

Ähnlich wie Mindmapping arbeitet Storytelling mit Assoziationen, Bildern und Symbolen und spricht alle Sinne an. Es ist der Struktur der Synapsenbildung in unserem Gehirn nachempfunden, das nicht in linearen Listen erfolgt, sondern in einem fein sich verzweigenden Geäst, in dem alles aufeinander Bezug nimmt. Nichts befindet sich isoliert im leeren Raum. Alles ist miteinander verbunden. In der Mitte der Mindmap steht, möglichst knapp und präzise formuliert, der Hauptbegriff, um den es geht. Aktuell steht dort zum Beispiel Impfen schützt die Gesundheit, Die Ukraine muss Russland besiegen, Das Klima ist in Gefahr oder Endlich Urlaub!

Um die Kernaussagen herum bilden sich Gedankenbäume. Jeder Ast, jeder Zweig wird vom Mittelpunkt aus gelesen. Die Inhalte werden möglichst kreativ und anschaulich gestaltet, damit sie sich gut im Gedächtnis verankern. So generieren Mindmapping und Storytelling Erinnerungen und fördern das Lernen. Storytelling erzeugt zudem eine Metaebene, die eine bestimmte übergeordnete Bedeutung oder soziokulturelle Zusammengehörigkeit vermittelt. Über eine gezielte Provokation von Gefühlen wie Angst, Begierde, Wut oder Freude steigt derjenige, der eine Geschichte erzählt bekommt, auf virtuelle Weise in sie ein.

In Trance

Der Zuhörer muss nicht jede Einzelheit verstehen, um den Kern der Geschichte zu begreifen. Um in die Geschichte hineinzukommen, muss er nicht wissen, was in den Substanzen, die er gespritzt bekommt, tatsächlich enthalten ist oder wo sich die Ukraine auf der Landkarte befindet. Über das Zuhören, das ständige Wiederholen und das Triggern bestimmter Gefühle gelangen wir in eine Art Trancezustand, in dem wir die Inhalte noch tiefer aufnehmen können. So wirkt die Geschichte auch im Unbewussten weiter und reift dort noch nach.

Das Grundmuster der Geschichte muss einen Bezug zur Lebenswelt der Zuhörer haben, damit er mit ihr etwas anfangen kann. Der zu Belehrende muss stets dort abgeholt werden, wo er sich befindet. Über Gestik, Mimik, Stimme und Sprache erreichen es geschickte Storyteller, ihre Zuhörer beziehungsweise ihre Kundschaft in ihren Bann zu ziehen. So können über bloße Erzähltechnik nicht nur Informationen vermittelt werden, Problemlösungen aufgezeigt, Rollen definiert, Verhaltensveränderungen angeregt und Werte und Normen vermittelt. Dem Leben kann ein ganz neuer Sinn, eine neue Richtung gegeben werden.

Entwurzelt

Hier sind der Fantasie keine Grenzen gesetzt. Im Storytelling ist alles möglich. Was virtuell erzeugt wird, das kann Wirklichkeit werden. Das menschliche Gehirn ist so geartet, dass unabhängig davon, ob wir gerade tatsächlich etwas erleben oder es uns nur vorstellen, dieselben Areale aktiviert werden. Wohl jeder hat zumindest als Kind erlebt, wie gut es funktioniert, sich selbst mit Geschichten zum Gruseln zu bringen. Auch wissenschaftlich ist heute hinlänglich nachgewiesen, dass Gedanken Realitäten erschaffen und jeder Form eine Idee vorausgeht.

Dieses Phänomen machen sich nicht nur Märchentanten zunutze. Mit der Fähigkeit des menschlichen Gehirns, Realitäten zu erzeugen, wird auch Politik betrieben.

Menschen, denen man zum Beispiel erzählt, sie seien, je nach Epoche, arme Sünderlein, Wölfe für ihren Nächsten, defekte Maschinen, unnütze Esser, Virenschleudern, die Endprodukte einer Affenevolution, die ausgedient hat, sind besonders für Storys empfänglich, in denen sie sich bereitwillig auch das nehmen lassen, was ihnen an Freiheit, Rechten und Würde noch bleibt, wenn sie dafür als Trost ein paar Privilegien bekommen.

Was immer schon so war, wird auch immer so sein. Im Falle Deutschland kommt neben einem über Jahrtausende zementierten negativen Menschenbild zur Erbsünde noch die Geschichtssünde hinzu. Zwölf Jahre der deutschen Vergangenheit wirken wie ein Graben, der nur schwer überwunden werden kann. Die Schuld hindert uns daran, uns in unserer eigenen Geschichte zu verankern. Wir sind wie wurzellose Bäume, die keinen Stamm mehr bilden können, kein Astwerk und keine Krone. Dort, wo die Wurzeln ins Leere reichen, verkümmert die Pflanze. So hat, wer ohne Wurzeln lebt, weder Vergangenheit noch Zukunft.

Verspielt

Der israelische Spezialist in Militärgeschichte und gern gesehener Gast beim Weltwirtschaftsforum (WEF) Yuval Noah Harari macht sich in seinen Büchern die Kunst des Storytelling zunutze. Eine kurze Geschichte der Menschheit, das dystopische, in die Zukunft zielende Homo Deus — eine Geschichte von Morgen und 21 Lektionen für das 21. Jahrhundert zeigen, wo es bisher für die Menschheit langging und künftig langgehen wird.

Hararis Bücher sind Bestseller, spannend, teils humorvoll geschrieben und werden von einer breiten Leserschaft angenommen. Als jüdischer, veganer, meditierender und mit einem Mann verheirateter Philanthrop, der wie Bill Gates mit seinen Unternehmen „die Probleme dieser Welt lösen will“, erscheint er mehr als nur politisch korrekt. Er ist unkritisierbar. Barack Obama schätzt ihn als Inspirationsquelle. Angela Merkel, Emmanuel Macron und Sebastian Kurz trafen sich mit ihm zum Gedankenaustausch. Was Harari sagt, das hat Impact.

Hararis Position ist eindeutig. Als „hackable animal“— ein Tier, das wie ein Computer gehackt werden kann — hat der Mensch als Mensch sozusagen ausgedient (1). Zwar spricht er wie Elon Musk auch von den Gefahren der durch KI, Nanotechnologie, Bio- und Geoengeneering ermöglichten Superüberwachung, doch für ihn hat die Menschheit ihre Chance verspielt. Es geht zu Ende mit den Mangelwesen, die wir sind. Haben wir in der Vergangenheit nicht zu Genüge unsere Fehlerhaftigkeit bewiesen? So bleibt uns heute nichts anderes übrig, als uns dem Fortschritt zu beugen und der rettenden Technik das Feld zu überlassen.

Der große Flop

Was heute dem Posthumanismus die Tür öffnet, wurde in einem Ägypten angelegt, in dem Pharao sich mehr für irdische Macht als für himmlische Weisheit interessierte und die Pyramiden zur Grabstätte seines persönlichen Kults degradierte. Es ist ebenfalls in der griechischen Antike zu erkennen, in der die männlichen die weiblichen Gottheiten verdrängten, vor allem aber in der jüdisch-christlichen Kosmologie einer unnatürlichen Schöpfung durch einen alleingebärenden und alleinherrschenden Gottvater, der einmal eine unbefleckte Empfängnis zulässt.

Schon in der Genesis ist angelegt, was heute in der Abschaffung des Menschen mündet. Was von Anfang an als verdorben geglaubt wird, aus dem kann nichts werden.

Doch unsere Geschichte begann viel früher. Über zweieinhalb Millionen Jahre ist der Mensch. Unsere Wiege steht, so heißt es, in Ostafrika. Hier entstanden der Urmensch Homo habilis und der das Feuer beherrschende Homo erectus. Nachdem wir, so erzählt die Wikipedia, mehr als zwei Millionen Jahre damit verbracht haben, auf Höhlenwänden herumzukritzeln, ging plötzlich alles ganz schnell.

Als vor rund 11.700 Jahren die jüngste Eiszeit endete, wurden wir sesshaft und erfanden Viehzucht und Landwirtschaft. Seitdem sind wir an unser Hab und Gut gebunden. Vor gut 5.000 Jahren erfanden wir Rad und Wagen und etwas später Zahlen und Schrift. Es entstanden komplexe Gesellschaften und erste Städte und Staaten. In Mesopotamien und Ägypten gab es erste Hochkulturen. Im fruchtbaren Halbmond, dem Winterregengebiet am nördlichen Rand der Syrischen Wüste, entstand alles, was unsere heutige Zeit ausmacht: Bürokratie, Theokratie, die Anfänge von Wissenschaft und Technik, Kalender und Zeiteinteilung, Geldwirtschaft, komplexe Handelsbeziehungen, Kriegsführung und Reichsbildung.

Kaum hatten wir uns erhoben, gab es erste Zerfallserscheinungen: Völkerwanderungen, Klimawandel, Hungerkatastrophen, rivalisierende Großmächte, Niedergang des Römischen Reiches, Christenverfolgungen, Religionskriege, Kreuzzüge, Sklaverei, Inquisition, Pest, Genozide, Industrialisierung, Umweltzerstörung, Klassenkampf, Massenvernichtungslager, Atombombe, Weltwirtschaftskrise, Globalisierung, globale Erwärmung, Apokalypse.

Und dann, endlich, nach zahllosen Schlachten, Aufständen, Kriegen, Revolutionen, Epidemien, Elend, Flüchtlingskrisen, das Licht am Ende des Tunnels: Künstliche Intelligenz und Metaversum! Dank des technischen Fortschrittes kann nun doch noch etwas aus uns werden! Die Maschine wird richten, was wir nicht hinbekommen haben. Das Smartphone ist unser zweites Gehirn, unser Gedächtnis eine Cloud, unser Körper ein Baukasten. Wir sind gerettet! Wo der Mensch fehlt, greift die Technik, die so viel zuverlässiger arbeitet als wir. Mit eiserner Kralle hat sie uns im Griff und lässt uns nicht mehr los.

Selbsterfüllende Prophezeiung

Wie heute Harari ebnete der kurz vor Hitlers Machtergreifung erschienene dystopische Roman von Aldous Huxley, Bruder des Eugenikers Julian Huxley, einer schönen neuen Welt den Weg. Seitdem macht uns einer der meistgelesenen Romane des 20. Jahrhunderts mit einer Existenz vertraut, in der das Leben durch Manipulation von Embryonen und Föten entsteht und die Menschen durch Indoktrination, Konsum, Drogen und Sex von Alpha-Plus bis Epsilon-Minus in ein strenges Kastensystem eingeordnet werden, aus dem es kein Entkommen gibt.

Wie kaum ein anderes Buch hat Schöne neue Welt zahlreiche Autoren und Cineasten inspiriert, es ihm nachzutun und damit die Wahrscheinlichkeit gesteigert, dass sich die Prophezeiung schließlich selbst erfüllt.

Blockbuster wie Armageddon, Contagion, The Day After Tomorrow oder die postapokalyptischen Endzeitfilme auf Amazon und Netflix sorgen dafür, dass wir am Ball bleiben und nicht auf die Idee kommen, dass unsere Zukunft ganz anders aussehen könnte, wenn wir sie uns nur anders vorstellen.

Es sind nur unsere Köpfe, die von eingeprägten Gedankenbildern und fixen Ideen besetzt sind. Wenn andere Geschichten in unser Denken einziehen, dann kann sich auch unsere Realität ändern. Es muss nicht so weitergehen, wie Klaus Schwab, Chairman des WEF und einer der einflussreichsten Männer der Welt, fabuliert. Die synthetische Biologie und die genetische Revolution müssen nicht die Kontrolle über das Lebendige übernehmen. Es muss keine Global Governance geben, keine Zusammenarbeit zwischen Politik, Wirtschaft und Medien, keinen planetaren Faschismus.

Das große Narrativ (3), das darauf vorbereiten will, die Biologie umzuprogrammieren, Körper in personalisierte Produktionsstätten zu verwandeln und den Code des Lebens in den Zellen zu ändern, ist der feuchte Traum eines tief gestörten alten Mannes. Wir müssen diese Fantasien nicht bedienen, auch wenn es heute möglich ist, genau das zu realisieren. Wir müssen nicht etwas tun, nur weil wir es können. Wir können zerstören. Wir können töten. Wir können dem Leben auf diesem Planeten ein Ende setzen. Doch niemand kann uns zwingen, es auch tatsächlich zu tun.

Open end

Narrative haben ein offenes Ende. Sie können verändert werden. Sie sind nicht wie abgeschlossene Geschichten. In einem Narrativ spielen wir selbst eine Rolle. Welche, das liegt an uns. Das „Window of Opportunity“ ist auch für uns offen. Wir müssen Harari nicht glauben, wenn er uns erzählt, die vergangenen 20 Jahre seien die besten in der Geschichte der Menschheit gewesen. Wir müssen nicht dadurch relevant werden, dass wir die neue Moral bedienen und unsere sogenannte Pflicht erfüllen. Wir können zum Helden unserer eigenen Story werden, indem wir kreativ werden und eigene Geschichten erfinden.

Gehen wir im Geiste bis dorthin zurück, wo etwas anfängt, nicht in Ordnung zu sein. Wo stimmt etwas nicht? Wo läuft etwas falsch? Wo beginnt es zu schmerzen? Fassen wir Mut und nehmen wir hier den Faden in die Hand, um eine neue Geschichte zu spinnen, die nicht auf die totale Kontrolle und letztlich die Auslöschung des Lebens ausgerichtet ist, sondern auf ein unendliches Happy End.

Hinter uns stehen die Generationen, die lebten, bevor die Gruselgeschichte der Kriege, Kämpfe und Schlachten begann, bevor Pharao nach persönlicher Macht griff, bevor die weiblichen Gottheiten von den männlichen verdrängt wurden, bevor die Frau dem Manne untertan war. Während des matriarchal geprägten Neolithikums gab es keine Kriege, keine Waffen, keine Befestigungsanlagen. Die Menschen lebten friedlich zusammen (4). Sie hatten Besseres zu tun, als danach zu trachten, einander die Köpfe einzuschlagen. Sie verehrten die große Mutter Erde, ernährten sich von Früchten und Wassertieren und interessierten sich nicht dafür, wer den Größten hatte, sondern wer geschickt, kreativ, fantasievoll war.

Das Nährende und nicht das Kriegerische stand im Mittelpunkt der Gesellschaft. Um das Feuer herum saßen die Menschen nicht, um Waffen zu schmieden, sondern um sich Geschichten von den Zyklen des Lebens zu erzählen, seinen Herausforderungen und Schönheiten und der kosmischen Eingebundenheit, von Geburt, Kindheit, Pubertät, Wandlung und Tod, von Frauen und Männern, die zu Helden wurden. Als Archetypen begegnen sie uns bis heute in symbolischer Form. Wir kennen sie als Rebellen und Zauberer, Narren und Herrscher, Unschuldige und Weise, Entdecker und Beschützer, Liebende und Schöpfer.

Die Form der Geschichten hat sich geändert, doch das, was die menschliche Psyche bewegt, ist noch da. Es gibt sie noch, die große Mutter, die große Göttin, und ihre Helden (5). Auch der Baum ist noch da, der Weltenbaum, der Lebensbaum, der heilige Baum. An seinem Fuße können wir uns niederlassen. An seinen starken Stamm können wir uns lehnen und dem lauschen, was uns die Blätter im Wind zu erzählen haben. Ganz sicher ist es eine andere Geschichte als die, die uns Harari, Schwab und all die anderen vorgaukeln.


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Quellen und Anmerkungen:

(1) https://edition.cnn.com/videos/world/2019/11/26/yuval-noah-harari-interview-anderson-vpx.cnn
(2) https://kaisertv.de/2022/02/27/klaus-schwab-das-grose-narrativ/
(3) Klaus Schwab: Das große Narrativ: Für eine bessere Zukunft, Forum Publishing 2022.
(4) Doris Wolf: Es reicht — 5.000 Jahre Patriarchat sind genug, Dewe 2019, https://www.rubikon.news/artikel/zuruck-in-die-steinzeit
(5) Heide Göttner-Abendroth: Die Göttin und ihr Heros: Die matriarchalen Religionen in Mythen, Märchen, Dichtung, Kohlhammer 2011, https://www.rubikon.news/artikel/es-war-einmal