Eine Ausfahrt vor Unna
Werner Köhne poetisiert mit der „Corona-Litanei“ die Welt der Schemen.
Das große Projekt des Philosophen, Filmers und Montagetechnikers Werner Köhne ist die Wieder-Poetisierung der Welt. Sein Buch zu Corona, das kein Buch „über Corona“ ist, erweist sich als eine Totalerfahrung, in der die Abwesenheit der Sprache so sinnlich versprachlicht wird, dass es schmerzt vor Erkenntnis und Schönheit. Die Litanei macht — letzten Endes ganz „unintellektuell“ — bewusst, was wir dabei sind zu verlieren und was allein durch eben diese Bewusstmachung gerettet werden kann. Daniel Sandmann hat die Litanei gelesen und anlässlich einer Aufführung in Köln auch gesehen. Hier seine Besprechung, die nicht be-spricht.
Das Sodenkamp & Lenz Verlagshaus, ein politischer Verlag, entstanden in Coronazeiten aus den Demonstrationen am Rosa-Luxemburg-Platz heraus, hat Werner Köhnes „Die Corona-Litanei“ veröffentlicht. Das ist ihm hoch anzurechnen. Ein politisches, ein ästhetisches Buch, ein literarisches Werk. Ein Buch der Sorgfalt ebenso. Keine Information. Und im Gros der Coronabücher dasjenige, das nicht zu Ende gelesen werden kann. Während ich anderes, gelesen, weitergebe, weil gelesen gelesen ist, nehme ich dieses Buch mit auf den Weg.
Sodenkamp & Lenz hat in der Coronahochblüte bereits „Minima Mortalia“ des gleichen Autors herausgegeben und dabei nicht die Spiegel-Bestsellerliste im Auge gehabt. Und auch jenes Buch war ein Buch für den letzten ungeglätteten Menschen, dem das Menschsein nicht verleidet ist. Oder wäre. Eigentlich. Aber die Corona-Litanei ist vielleicht noch gewaltiger, schärfer, trauriger, poetischer und — auf alle Gefahren hin sei es gesagt — tröstender. Nicht weil es eine Gegenwelt verspricht (oder gar vorgaukelt), ein Heil, eine Abfindung, sondern weil es diese Gegenwelt ist. Oder eher noch: vollzieht. Indem sie die Zerstörung zeigt — mit, durch, in Sprache. Und so ist „Die Corona-Litanei“ absolut kein weiteres Buch über Corona, es ist das Buch, das fragt:
wo werden wir einst untergebracht
Werner Köhne schafft eine Sprachwelt. Paradoxerweise gewonnen aus den Schemen der Untoten, der Dataisten, der Smartophonen und Philanthropen.
Kurz: der Funktionäre. Gewonnen aus der Welt der Sicherheit. Teil 1, die Litanei — und der Begriff ist durchaus mehrdeutig und keine simple Verhöhnung — montiert diese Schemen. Montiert, was das System abwirft bei seinem exekutiven Durchgreifen, seinen Exekutionen.
was ist hier los Franz K
wie willst du den harten Handgriffen der ausführenden Organe
und Ordnungsämter entgehen
Und diese Schemen führen über in das, was — ebenso vieldeutig — als „Stand-by“ überschrieben ist. Teil 2 des Buches. Hier finden wir uns in einer Art Poesie wieder, die auch Anleihen macht. Der Text legt sie mitunter frei, Anleihen aus einer Zeit, die freier war, sollte die Freiheit damals auch bloß ein Epiphänomen gewesen sein. Fünfziger, Sechziger, Siebziger. Köhnes Poesie, aus Resten auferstanden, schwelgt nicht, sie gibt lediglich eine Ahnung der Gegenwart von einem „damals“, die in diesen Tagen dabei ist, in technologischen Bubenträumen, Optimierungen und Speed and Simplicity unwiederbringlich draufzugehen.
so zügeln wir das Leben, das von Haus aus zur Un-Zucht neigt
in Abstimmung mit den Statistiken
Wir haben sie oft gehört: Die Kritik an den Maßnahmen, an den Messungen, am juristischen Versagen, das kein Versagen war, sondern folgerichtig, an Polizeieinsätzen, die ebenso folgerichtig im richtigen Verhältnis standen, im Verhältnis zur Macht, an der Implosion des Geistes, der Kaltstellung der Idioten und der Auferstehung der Irren in Ministerämtern, zuletzt indes bei Hellsichtigen unter den Dissidenten die Kritik am Durchgriff des Kapitals — allerdings: viele der „Kritischen“, es muss gesagt sein, haben bis dato nicht bemerkt, dass Corona eine Endnummer des Kapitals ist und das besungene Miteinander mit dem „Nichts-gehört-mir“-Sozialismus im Schlepptau bloße Folklore — wir haben die Kritik an den Impfungen gehört, am Zahlenhokuspokus, an der Verwaltung des Lebens durch ID-2020 und wir haben dann endlich und viel zu spät vom Faschismus gelesen, der sich smart und digital zurückgemeldet hat, aber am Ende ist das Oberfläche. Auch das, bin ich geneigt zu sagen: Oberfläche.
wird uns bald schon ein Strafbefehl überbracht
Dass du nicht mehr reisen kannst, wie du möchtest, nicht mehr treffen kannst, wen du willst, dass dein Geld nicht mehr dein Geld und dir auch sonst nichts ist, nicht weil der Besitz aufgehört hätte, sondern weil ein paar wenige vor lauter Angst und Panik und Langeweile alles wollen, dass du deine Kreise also eingeschränkt vorfindest — und nicht diejenigen des Kapitals —, Kreise, über deren Bedingungen du zuvor kaum je nachgedacht, nie darüber, wie viele andere Kreise eingeschränkt sein mussten, damit du deine Kreise hattest: Das ist es nicht, was zur Aufregung taugt, obgleich es, zugegeben, beunruhigt.
Vielmehr gilt es zu erkennen, woraus das alles kommt, dieser ungeheure Hang zur Repression, zur Lust daran, zur Sehnsucht nach dem Zwang und seinem Geifer, zum Wunsch geführt zu sein bis zur Auflösung, zur QR-Codisierung allen Lebens: Woher das kam und kommt, dieser ganze Coronastaat und sein untoter Geist.
ihr Lebenserhaltungskunden
ihr Smartphonbesitzer
ihr politisch abtrainierte Wesen
ihr unauffällig fälligen Opfer des Gemein-Sinns
wir bitten dich, erhöre uns
Werner Köhnes Litanei beantwortet die Frage nicht mit einem Satz, nicht mit einer Aussage. Stattdessen zeichnet sie den Prozess der Zerstörung durch das, was mit Corona durchgeschlagen hat, zeigt es in der Sprache, an der Sprache, mit Sprache. Und sie zeigt, der Autor mag mich tadeln für das Wort, am Ende die „Wiederauferstehung“ der Sprache und ihrer Schönheit.
Ein Ausgangspunkt — es gibt mehrere, festlegen möchte ich mich nicht — in Köhnes Montage von Welt und Gegenwelt ist das Erdige, das Sinnliche, das Zeitliche. Ist ein Augenblick da oder dort, ein Nachmittag, eine Stille, das Abblätternde, Welkende, Abfallende, eine Ausfahrt, das Fleischige auf jeden Fall — bisschen carpe diem ist da schon drin, nicht alles war schlecht im Barock! — und der „Zucht“ naturgemäß sich Widersetzende, zur Un-Zucht Neigende — ein Cyborg widersetzt sich nicht, ein Cyborg ist züchtig.
eine Pandemie ist eine Pandemie ist eine Pandemie
Das Prüde und Moralische als Bruder der Repression: Die Litanei spricht nicht davon, sie zeigt es. Mit der Sprache des Schutzes, die keine Sprache ist, sondern Schema. Moral, Zucht und deren Bewirtschaftung: Das läuft ausschließlich über Schemen. Hexen, Juden, jetzt der Mensch. Übrigens: Man trifft Moral auch in Texten, die als dissident abgesetzt sind. Empörungsbewirtschaftung.
Köhnes Montagen — ich bin versucht, von De-Konstruktionen zu sprechen — führen de-maskierend aus dem faschistischen Sumpf des Guten her- oder hinaus, weg von der Zucht. Sie feiern (dezent, leise) das Sinnliche, als Schmerz, als Erinnerung, als ein „du“. Köhne — und das war bereits ein wesentlicher Strang in seiner „Minima mortalia“ — entzieht der Panik das Leben. Oder dem Leben die Panik. Gibt den Tod ins Leben zurück, damit ein Leben auf Erden möglich bleibt. Nicht das Klima bedroht uns ...
fand man sich früher einmal unterm Lindenbaum zusammen
Wenn ich auf dieses Buch verweise — ich möchte nur an einer Stelle sagen, dass ich es ausdrücklich empfehle, mehr als alle anderen Coronabücher zusammen: Ich sage es jetzt — so werde ich es nicht be-sprechen. Es lässt sich kein Rausch berauschen und kein Wasser bewässern. Ich lasse die Litanei in Schnipseln selber sprechen und bette dieses Gesprochene ein in Erinnerungen an Gespräche, die Werner Köhne und ich geführt haben.
Nicht selten habe ich versucht aufzuzeigen, wie Muster dessen, was in der Coronazeit seinen endgültigen Durchbruch vollzogen zu haben scheint, auch da anzutreffen sind, wo vorgeblich gegen diese Muster angegangen wird. Wir haben miterleben müssen, wie ein Wolfgang Wodarg, eine Beate Bahner, ein Sucharit Bhakdi und wie sie alle heißen zersetzt wurden und werden. Diffamiert, auf der persönlichen Ebene getilgt. Empörung wurde erzeugt, mit Schemen gearbeitet, mit der Moral, die zu Ende gedacht immer die Moral der Macht ist. Und ich habe an Orten der Kritik gegen den Coronazugriff die Gegen-Personalisierung, die Gegen-Moralisierung und die Gegen-Empörung vorgefunden und gewusst: Les jeux sont faits. Zuweilen auch eine Prüderie bis hinein ins Denken. Werner Köhne aber war und ist — ich spreche aus meiner Erfahrung — einer der wenigen, der die Implosion des Widerstands in diesen Mustern mit eigenen Denklinien durchdrungen hat. Kernpunkt seiner Diagnose ist das Storytelling und die Corona-Litanei Ausdruck dieser Denklinien und Gegenpol. Sie tellt keine Story.
Und wenn ich in diesem Zusammenhang kurz auf Werner Köhnes Biografie verweise, so nicht im Bestreben, eine Story zu produzieren, sondern um einen politischen Prozess in seiner strukturellen Dimension zu veranschaulichen. Köhne hat die Verheerungen des Storytellings — meines Erachtens mit dem Muster der Personalisierung von Sachverhalten aufs Engste verknüpft — in den Medienanstalten, in denen er tätig war, konkret erfahren. Hat erfahren, wie Sprachwelten durch das Storyschema konsequent ausgehöhlt und am Ende zerstört wurden. Wörtervorgaben, Reduktion, Syntaxvereinfachung: Das ist Voraussetzung für die schnelle Anbindung des Hörers, des Zuschauers, für das einwandfreie „Funktionieren“ des „Medienerzeugnisses“.
Noch bis in die Neunziger hinein konnte Köhne auf Mainstreamkanälen Features montieren, die aus Wörtern, Klängen und Geräuschen Welten formten, verspielt, quer, ver-rückt und zu neuen Einsichten einladend, zu Erkenntnissen, die den Abzug der Kritik von den Zentren der Macht behindern. Diese ver-rückten, der Schnelligkeit widerstehenden Montagen inklusive Gefahr, Hörer, Zuschauer zu fordern, Ansprüche zu stellen und zur Eigenständigkeit zu verführen, wurden sodann konsequent gestutzt zugunsten von Storytelling: einfache Aufmacher, Anbindung, Identifikation. Werner Köhne kann diesen Prozess präzise auf einzelne Etappen hin benennen. Am Ende wurde seine Sprache gecancelt. Stattdessen unterlegte ein fügsamer Schreiberling kurze Minuten vor der Ausstrahlung den Film, den Köhne gedreht hatte, mit leicht konsumierbaren Schemen. Auch und gerade dieser Prozess der Zerstörung, verdeckt, lagert in der Litanei mit ein.
du mich auch
Preist den Herrn und danket ihm. Die Perspektiven wechseln, die Sprechpositionen mit ihnen. Was als Zynismus startet, wird Satire, wird Trauer, wird Erkenntnis und endet in Poesie. Und wenn dem Herrn gedankt wird, so ist das nicht einfach Sarkasmus, denn der Dank ist auch die Gegenrede, ein Sprechen aus der Zeit der Rituale und eines von Nietzsche erst noch als tot zu erklärenden Gottes, eine Erklärung, die diesen am Leben hält. Dem Dank ist Erinnerung eingeschrieben, Erinnerung daran, dass es einmal einen Herrn gegeben hätte, den zu loben mehr Sinnesrausch war denn Zucht und Ordnung.
die Toten machen in ihrem Totsein weiter
bis sie gelöscht werden
die Über-Lebenden machen so lange weiter
bis sie ausgezählt sind
wenn einer uns einst fragen sollte, wer wir waren
wie wir uns austauschten mit den Dahingeschiedenen
dem Geflüster der Blätter
dem Geruch der feuchten Erde
dem Atem einer Fremden
uns zurechtfinden im großen Gerausche unserer Erinnerung
dem fernen Wehen des Einmal nur einmal
gewesen zu sein aber einmal
was sagen wir dann
Ja, was sagen wir dann? Darf man eine Geschichte erzählen? Storytelling ist eine Medientechnik. Eine Systemtechnik. Sie hat mit Geschichtenerzählen nichts zu tun. Sie tötet Geschichten. „Die Gebrüder Karamasow“ ist eine Geschichte, keine Story und schon gar kein Telling. Eine Geschichte von heute: Werner Köhne und ich sitzen in einem Café auf dem Bahnhofplatz beim Kölner Dom. Köhne führt verschiedene Denklinien aus, referiert auf Ernst Bloch, auf Adorno, auf den Bielefelder Verwaltungsbeamten Luhmann. Die Ausrichtung unserer Stühle bringt es mit sich, dass seine Ausführungen nicht nur bei mir, sondern auch bei einer Frau landen, die in meinem Rücken sitzt. Irgendwann steht diese auf, tritt hinzu — ich selbst nehme sie erst jetzt wahr —, richtet sich auf Werner Köhne aus, entschuldigt sich für die Störung, aber sie müsse das einfach sagen: Es sei unerhört schön zuzuhören, mit welcher Sprache er sein Denken formuliere. Eine solche Sprache höre man heute fast nirgendwo mehr. Dass sie ein Haus hat, in der Eifel, das sie verschenken wolle und wofür sie eine Stiftung suche, einen Verband, ein Verein, eine Sache, die sich für etwas einsetze, am besten für die Natur, und dass wir ihr bei dieser Suche vielleicht helfen könnten, das ist die Fortsetzung, die ich hier nicht weiter ausführe, um nicht doch unversehens in einer Story zu landen. Werner Köhne ist auch Filmer. Er denkt in Bildern. Seine Sprache ist voller Bilder. Das hat diese Frau erkannt.
in durchstöberter Nacht
liegt noch ein weißer
wiegender Schmerz:
du
Ein Apparat ist kein Du. Kein Ich. Die Litanei berichtet vom Ende einer dialogischen Welt, indem sie an den Dialog erinnert, an ein Du, und dieses dabei zum Leben erweckt. Ein Apparat ist ein Apparat ist ein Apparat ... es fehlt die Liebe.
wo wir uns trafen
war immer früher Nachmittag
die leeren Stunden
zwischen zwei und vier
mit deinem Namen
sackte die Nacht ins Fleisch
als wir
aus dem Dunkel
unserer Küsse
hinaustraten
um der Zeit zu entreißen
den Rest
beim Sichten aus Versehen zurück
in jene Zeit
der Running Gags
auf dem Monitor
die Gesichter von einst
zu Null-
Linien abgeleitet
was bleibt
ein Pullover,
der über der Stuhllehne liegt
hinter den Böschungen der Gesang der Schneeflecken
auf dem Mittelstreifen
Dunst
es ist Sonntagmorgen
eine Ausfahrt vor Unna
kurz vor
dem
Verschwinden
der Geschichte
Das ist keine Buchbesprechung, ich habe es angekündigt. Es ist ein Verweis, der sich nicht entscheiden kann zu enden.
sind angekommen
wohin niemand wollte
im Stau
der Ver-Schlagenen
auf Spur
gebracht
zwischen
dem aufgegebenen Projekt
Leben
und
dem Stand-by
zu Tode
in Wüsten
aus Beton und Licht
träumen wir
den hart gewordenen
Kurs des Tages
Ich möchte‘ so gern noch einmal ...
Kurzfassung:
Die Corona-Litanei von Werner Köhne ist eine politische Analyse, eine politische Sprachanalyse, eine analytische Sprachmontage, eine Sprachpolitik, eine montierte Meditation, eine Mediation über Macht, Leben und Tod, über Zeit, die Fünfziger, die Sechziger und ihre Restbestände nach 2020. Es gilt die Welt zu poetisieren. So hat Novalis gesagt. Köhne tut es.
Zu Mitternacht
Am Straßenrand stehn
Am Ausgang der Kreisstadt
Die Puppen im Schaufenster
Eines Modegeschäfts
Blicken unentwegt
Ins flackernde Laternenlicht
Bis ein Auto anhält
Ein Citroën
Ein inneres Ja
Über so viel Dasein
Hey Jude,
höre ich
als ich die Tür aufmache ...
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