Eine andere Geschichte
Eine wahre Erzählung für die Zeit zwischen den Jahren. Teil 1/3.
Wie jedes Kind weiß, beginnt die Weihnachtsgeschichte mit einer Reise. Über die Jahrhunderte und Jahrtausende ward darüber gestritten, wer und wie diese Geschichte erzählt werden dürfe. Ganze Kirchen, Prophetenscharen, Massen von Geschichtenschreibern, Historikerinnen, abtrünnigen Sekten, Häretikern, aufsteigenden und wieder verschwindenden Medienkonzernen aller Zeiten gaben sie je ein wenig anders wieder. Es ist ein heilloses Durcheinander gewesen. So ist es nun an der Zeit, die Sache aufzuklären und die Wahrheit zu berichten. Und das geht so.
Das Jahr null
Ein Vagabunden-Pärchen tingelt durch die Stadt auf der Suche nach einer behaglichen Wohnung. Das gestaltet sich schwierig bis unmöglich, denn alles ist belegt und — schlimmer noch — die beiden Runaways, eine Frau und ein Mann, kommen aus einer anderen Gegend. Sie haben kein Vermögen. Überall werden sie abgewiesen, obwohl der Mann behauptet, zurück in seine Heimatstadt gekommen zu sein, um mit seiner Liebsten an der Volkszählung teilzunehmen und hier ganz bestimmt Steuern zu bezahlen. Er sei ein respektabler Zimmermann.
Aber niemand will ihm glauben, denn seine Geschichte ist durchsichtig. Wer würde schon im Winter mit einer Hochschwangeren in seine eigene Heimatstadt reisen, dort offensichtlich keine Verwandten und Freunde haben, nicht einmal eine Herberge bezahlen können? Und all diese Mühe nur, um an der Steuerschätzung eines fernen römischen Machthabers teilzunehmen? Das kann nicht stimmen. Die Stadtbewohner haben sich zurückgezogen und vertilgen die Vorräte lieber unter sich in den eigenen vier Wänden. Sie lassen die beiden in ihrer Not alleine.
Und dann auch das noch: Maria hatte mit einem Unbekannten vorehelichen Sex gehabt. Ein ziemlicher Skandal in einer knallharten Abstammungsgesellschaft, die sich ausschließlich an reichen Patriarchen orientiert und von den Schreibern schier endlose Ahnenreihen notieren lässt. Die beiden Helden haben ganz offensichtlich nicht solcherlei Bande.
Das Kind eines Namenlosen
Das Baby in Mariens Bauch hat bereits zu boxen begonnen. Die Geburt steht kurz bevor. Wer der irdische Erzeuger Mariens Leibesfrucht ist, ist unklar. Womöglich ist es Marias eigener Vater, das wäre finster und unheilvoll; jedenfalls ein guter Grund wegzulaufen.
Wahrscheinlicher aber ist das Baby der Spross einer frühlingshaften Amour Fou mit einem schmucken römischen Leutnant namens Panthera, rund neun Monate zuvor. Vielleicht aber ist der leibliche Papa doch Joseph und die beiden sind verstoßen worden, weil sie noch nicht geheiratet hatten. Wer weiß, vielleicht hatte Maria einfach auch eine unübersichtliche Zeit gehabt.
Es war der Heilige Geist!
Allerlei Gerüchte kursieren in der Stadt, was für ein Lotterleben bei diesen Punks der Antike geherrscht haben mag, die da von Tür zu Tür gehen und um Einlass betteln. Denn Stories über Verfemung, Sex und Kriminalität waren zu allen Zeiten erster Ausdruck sesshafter Lebensverhältnisse, in denen glücklicherweise gerade kein Krieg herrscht. So auch in jenem Jahr, das später das Jahr Null genannt werden wird und eine neue Zeitrechnung begründet, die heute der weltweite Standard ist.
Weil es einfach keine Antwort gibt oder geben soll, verständigen sich die beiden werdenden Eltern darauf, die Sache nicht an die große Glocke zu hängen, sondern den Zeugungsakt einfach zu verschweigen: „Es war eine unbefleckte Empfängnis!“, werden sie sagen, der Vater sei eben „der Heilige Geist!“.
Was soll am Akt der Zeugung auch so wichtig sein, wenn sich die Beziehungen nun einmal anders entwickelt haben und eine neue Stabilität einkehren muss? Der neue Mensch wird — bildlich und biblisch — „der Sohn Gottes“ sein. Denn jedes Kind ist wichtig, jeder Mensch kann Befreiung und Fortschritt in die Gesellschaft bringen, alle Menschen sind gleichwertig. Das verspricht die Religion, also die Überlieferung und dies wird auch der befreiende und befriedende Kern der Weihnachtsgeschichte werden. Aber so schnell geht es nicht, dafür braucht es Zeit.
Abseits des Mainstreams
Die beiden Geflohenen bestehen auf der Einlösung der Verheißung im Hier und Jetzt, das wahre Menschenrecht, doch niemand gewährt ihnen Einlass. Was aber sind schon warme Worte wert, wenn sie nicht gelten, sich nicht positiv auswirken, wenn also politisches Narrativ, in diesem Fall in Form religiöser Überlieferung, und soziale Wirklichkeit auseinander gehen?
Als Maria und Joseph an der letzten Türe Bethlehems kaltherzig und misstrauisch abgelehnt werden, beschließen sie, dass ihr Spross eine neue Gesellschaft begründen wird, in der Vieles anders werden muss. Als Genugtuung für die schamvolle Exklusion aus dem Kreis der Bürgerlichkeit, den Ausschluss von der Teilhabe am Minimum der menschlichen Existenz im Moment deren größter Verletzlichkeit, flüchten sich die beiden werdenden Eltern in das Maximum der Erlösungsgeschichte: „Dieses Kind wird der Messias sein!“
Als die Fruchtblase platzt, die Geburt also beginnt, schaffen es die beiden Outlaws gerade noch von der Straße in einen Stall. Hirten und Stallknechte kommen herbei, schweigsame und räudige Gesellen, die draußen bei den Tieren leben. Sie werden so zu ersten Zeugen der Geburt und deren Ersthelfer. Auch sie leben abseits des Mainstreams. In jenem Kreise von Aussätzigen im Stall wird also der kleine Jesus als Kind des Lumpenproletariats zwischen Ochsen und Eseln geboren, auf Stroh gebettet in einer Futterkrippe.
Vorboten des Sozialstaats
Einige Tage später kommen drei alte Knaben aus dem Osten herbeigewandert. Die drei Männer bringen gutes Essen, Geld, ein paar schöne Geschenke und warme Kleidung für die Familie. Alle freuen sich über das neue Leben in ihrem Kreis der Randständigen und Ausgeschlossenen. Die Letzten werden schließlich die Ersten sein.
Die drei Ossis werden später zu Heiligen erklärt, ja sogar zu „Heiligen Drei Königen“. Die Legende wird besagen, ein Stern habe ihnen den Weg in den Stall geleuchtet und ihnen wird jahrtausendelang in allerlei Gesängen gehuldigt werden. Maria wird zum heiligen Role Model von Milliarden heterosexueller Frauen der letzten zweitausend Jahre, einer Mutterfigur, der allerlei sinnliche und übersinnliche Kräfte zugeschrieben werden.
Tja, und der kleine Jesus wird gewissermaßen zum Superstar, zum emanzipatorischen Ideal der bedrängten Kreatur. Warum noch auf den offiziellen Messias in einer fernen Zukunft warten? Hier, dieser kleine Mensch kann es sein, nein, er ist es!
Sichtbare Wirkungen
Der Held wird der Legende nach überirdische Kräfte entfalten, Blinde sehend machen, über Wasser laufen, Steine ins Rollen bringen, eine neue Erzählung und schließlich eine neue soziale Ordnung begründen und dafür ans Kreuz genagelt werden — und im Moment seiner Hinrichtung noch behaupten, er werde mit seinem Tod die kleinen und großen Sünden aller anderen auf sich nehmen und alle Menschen — wenn schon, denn schon! — aus ihren Schuldverhältnissen befreien.
Sinngemäß predigt er: „Ihr seid frei! Die Herrscher haben ab jetzt keine Macht mehr über Euch! Gott bindet Euch nicht an die Vergangenheit, an Ressentiments und eine falsche Moral, die gegen Euch gerichtet ist, sondern er befreit Euch und gibt Euch eine neue Zukunft frei! Schreibt Eure eigene Geschichte!“ Damit nimmt die Jesusgeschichte eine zukunftsermöglichende Funktion ein. Ein Neustart wird möglich, sowohl für den einzelnen Menschen, als auch für ganze Gesellschaften und schließlich für die Menschheit.
Bruch mit den Etablierten
Mit solchen Ansagen, die die alten Machtverhältnisse aufkündigen, macht sich niemand bei den angesehenen und eingesessenen Leuten seiner Zeit beliebt. Denn die fürchten nachvollziehbarerweise um ihre Privilegien, von denen sie glauben, dass sie diese zutiefst verdient hätten. Denn, wie wir heute wissen, bestimmt das Sein das Bewusstsein. Der Status bedingt weite Teile des Empfindens dessen, was richtig und was falsch sei.
Und mehr noch, die Arrivierten, die Angekommenen also, fürchten um die ganze Story, die Geschichte, die sie sich selbst, ihren Kindern und allen anderen erzählen. Demgegenüber wird Jesus Frieden, Solidarität und sichtbare Wohltaten für alle predigen. Eine andere Geschichte. Ein Skandal, der allerlei Abwehrreflexe auslöst.
Der Mensch, der aus dem Stall kam und zur einflussreichsten Figur der Kulturgeschichte werden wird, kündet durchweg von einer Geschichte des Bruchs mit dem Establishment. In Jesus‘ Namen werden Abermilliarden von Gebeten gesprochen und die stolzesten Kathedralen mit den feinsten Kunstwerken errichtet, die noch jedes politische oder wirtschaftliche Bauwerk überragen.
Story und History
Nicht umsonst wird seit rund zweitausend Jahren durch allerlei Kirchenkonzerne und andere professionelle Unterhaltungsunternehmen versucht, die Jesusgeschichte einzuhegen und beherrschbar zu machen. Am geläufigsten wird sie als einmalig und unwiederholbar dargestellt und ins Aristokratische oder Bürgerliche verlagert.
Denn, wie darzulegen war, ist diese Geschichte eine Geschichte von Tramps and Hobos, von Vagabunden und Aussätzigen. Das wirkt verunsichernd, denn wenn die Geschichte im doppelten Sinne — History und Story, also die jeweils gültige Narration — einmal gekippt ist, dann spült die neue Erzählung ganz andere ProtagonistInnen nach vorn. Dann sagen wir: Nichts ist mächtiger als eine Idee, deren Zeit gekommen ist.
Nach dieser Lesart ist das Weihnachtsfest das Fest derer, die sich gegen die abgeschlossene Bürgergesellschaft durchsetzen und mit deren erstarrter Vernunft brechen. Die also, um an gegenwärtige Diskurssysteme anzuknüpfen, mit dem Feld der relativen Vernunft nach Niklas Luhmann brechen und etwas Fundamentaleres fordern, die Begründung einer neuen, sinnvolleren, sozialeren und friedlichen Vernunft.
2019 Jahre später
Einen göttlichen Wimpernschlag von gerade einmal circa 2019 Sonnenumrundungen des Planeten Erde später ist das Geschichtenerzählen wieder einmal so umkämpft, wie lange nicht mehr. Es sind keine Gute-Nacht-Geschichten, es geht ums Ganze. Wer steht auf der Seite der Guten, wer hat die Wahrheit auf seiner Seite oder nähert sich ihr redlich an?
Wer verteidigt einseitig die MachthaberInnen und wer geht mit den Schwachen? Wer hält die Tür verschlossen und wer gesellt sich im Stall hinzu? Wer reklamiert die Moral für sich und wer die Vernunft? Wer hat womöglich begonnen, die Freiheit des Aufbruchs für sich zu reklamieren und verstellt damit doch nur den Weg? Wer beharrt auf dem Vorrecht der Arrivierten? Es ist unübersichtlich, aber lösbar. Doch die Lösung zu finden, ist schwieriger, als man denkt.
Denn was geschieht, wenn der Gestus der Befreiung, die neue Idee, als bereits stattgefunden dargestellt wird und damit eine neue Unterdrückung begründet worden ist? Oder wenn eine ganze Welle von ErlöserInnen glaubt, jeweils individuell die Lösung parat zu haben, die ganze Dramaturgie aber nicht stimmt, das negative Potenzial gar nicht da ist und die Gesellschaft sich atomisiert? Oder die Reaktion sich die revolutionäre Strategie der Befreiung aneignet?
Umkämpfte Geschichte
Dann werden wir früher oder später bemerken, dass wir betrogen werden. Die Initiative wird wechseln, die große Erzählung sich verändern, die Interpretation der Gegenwart wird Teil einer anderen, größeren Geschichte werden, die die Einzelteile in sich aufnimmt. Die Interpretation der Weltgeschichte, wie wir sie kennen, wird sich verändern. Die Welt ist im Umbruch.
Die andere, erlösende, weil die Fantasien und Hoffnungen freisetzende und schließlich die Welt zum Guten für die einfachen Menschen verbessernde Geschichte kommt immer aus einer ganz anderen Richtung und von anderen Leuten, als es zuvor der Fall gewesen war. Und ob man mit der neuen Story einverstanden ist oder nicht: Für sie gibt es immer Gründe.
Bleibt noch die Frage, ob man selber auf das richtige Pferd gesetzt hat oder lieber dabei bleibt, was man einmal als Wahrheit akzeptiert hat. Das ist immer ein vielschichtiger kommunikativer Prozess. Diese intensive innere und äußere Aushandlung erklärt, warum die neue Geschichte erst mit Worten und nicht selten auch mit Taten und im schlimmsten Fall mit Verfolgungen und Kriegen umkämpft wird.
Die Moral von der Geschicht‘
Die Heiligen Drei Könige sind dabei durchaus als Vorboten eines Gegenmodells zu einer erstarrten Bürgerlichkeit zu betrachten. Sie sind bildlich die Pioniertruppe des Entsatzheeres für die in die Enge Getriebenen, eine Befreiungsarmee für die Leidenden und Ausgeschlossenen. Einem zunächst nahezu autistischen Impuls folgend und ohne direktes Eigeninteresse folgen sie einem Stern zur Geburt des Neuen.
Das Tolle an ihnen ist: Sie kommen nicht mit Waffen, sondern mit nützlichen Geschenken, die jedem Menschen naturrechtlich zustehen. Sie wenden sich nicht gegen das jüdische Erbe, das womöglich durch das Christentum zu ersetzen sei, sondern stehen für jenen Universalismus, der in den jüdischen Texten bereits angelegt ist, die die Grundlage aller drei Schriftreligionen bilden, auch des Islam.
Ende gut, alles gut
Sind die drei alten Knaben womöglich die Vorboten eines bis heute unerreichten demokratischen und fairen Sozialstaates, der alle menschlichen Individuen vom künstlich herbeigeführten Überlebenskampf auf einem fruchtbaren Planeten befreit? Von der Unbehaustheit und Armut der Klassengesellschaft, von der gewollten ökonomischen Ungleichheit und der Erstarrung der Klassengesellschaft? Also jener hemdsärmeligen Erzählung davon, jeder sei in einer bereits im Ansatz schlecht organisierten Wirtschaft seines eigenen Glückes Schmied. Sie sind jedenfalls auch vergessene und zurückgedrängte Weise, deren Erkenntnisse und Lehren in Abrede gestellt worden waren, bis sich keine Tür mehr öffnete.
Und so endet die andere, die wahre Weihnachtsgeschichte, mit einem Lob des Sozialismus in seinem ursprünglichsten Sinne. Ob man diesem eher das Label einer der Schriftreligionen anheftet, die sich anstatt staatskirchlicher Weihesprüche ins Weltliche auswirken könnten, oder das der späteren Sozialdemokratie bis 1914, oder das des Kommunismus in seiner redlichen Form, nicht in dessen Deformationen und Erstarrungen.
Denn — zu dieser These will sich der Autor hier aus rund zwei Jahrzehnte lange abgewogenen Gründen aufmachen — der Sozialstaat ist die größte Errungenschaft der Menschheitsgeschichte. Er markiert den Höhepunkt menschlicher Sozialgeschichte, weil er eine Allmende wiederherstellt, die das von binnenlogisch folgerichtigen Sachzwängen zerquälte Individuum von dessen eigenen archaischen Impulsen entlastet.
Herberge wider die kapitalistische Vernunft
Denn dieser Gedanke wohnt der Logik des Kapitals inne: „Ich würde ja helfen, ich würde ja mitmachen, aber ich kann nicht, ich muss auch rechnen, ich muss auch Gewinn machen, ich bin auch abhängig von mächtigeren Leuten, hier ist auch wenig Platz, was werden die Nachbarn sagen, frag den Nächsten oder die wirklich Reichen oder halt gleich beim lieben Gott, also die etablierte Kirche, wenn sie mal geöffnet hat, meistens nur sonntags, und streng Dich um Himmels Willen an, sodass Du Dir einen guten Namen machst, schreite also bis dahin immer gesenkten Hauptes, bis Dir jemand sagt, dass Du frei reden darfst. Ach so, und nun geh mit Gott, aber geh! Toi, toi, toi!“ Und dann klappt die Tür ins Schloss. Frohe Weihnachten.
Der Sozialstaat nimmt dagegen dem Einzelnen die Last ab, die Entscheidung zu treffen, welcher Mensch der Hilfe wert sei, und welcher Mensch lieber dem Schicksal überlassen werde, sondern stattet den Menschen mit einer grundlegenden Beteiligung aus, die nicht verwehrt werden darf.
Auf einem Planeten, der im Grunde fruchtbar für alle ist und auf dem kein Mangel herrscht, wenn dieser nicht erzeugt wird, könnten wir endlich um die interessanteren menschlichen Qualitäten konkurrieren, also um die Wahrheit, die Güte und die Schönheit. Aber eine sinnvolle Produktionsweise will eben erkämpft, organisiert und erhalten sein. Sie muss offen für umbruchartige Verbesserungen in sich bleiben, wenn sie nicht ihrerseits wieder erkalten und erstarrt absterben soll.
Universalismusprobleme lösbar
Dass in einer kapitalistisch und national organisierten Gesellschaft umkämpft ist, wer in sie hinein darf und unter welchen Bedingungen, liegt bis auf Weiteres in der Natur der Sache. In einem System, das vorgibt, nach dem freien Markt organisiert zu sein, werden immer die düstersten Impulse motiviert, wirtschaftlich tätig zu werden.
Es begrenzt notwendigerweise die ohnehin tendenziell abnehmende Solidarität und diese Begrenzung kann auch nicht durch warme Worte überwunden werden. Mit gewissem Recht werden sich auch jene, die sich innerhalb der Gemeinschaft als Zweit- und Drittklassige in den Schatten gestellt sehen, darum ringen, ihr „Licht nicht unter den Scheffel zu stellen“.
Aber vielleicht hilft ein biblischer Handwerker weiter. Joseph war zum Beispiel nur Zimmermann, oder gab dies vor, also ein Kollege für das gröbste Holz beim Hausbau — im Grunde genommen nichts, was nicht jeder gesunde Mann mit entsprechendem Werkzeug nach kurzer und heftiger Ausbildung irgendwie zu Wege bringe könnte. Und eben doch das, was den Ursprung fast aller entwickelten menschlichen Zivilisationsformen darstellt: Die Sesshaftwerdung des Menschen durch den Hausbau. Ein respektabler Beruf, insbesondere dann, wenn die Architektur nicht nur sparsam, praktisch und kärglich, sondern haltbar, verspielt und schön werden darf. Ein Ansinnen, das die Ultima Ratio des Ultrakapitalismus zunehmend unmöglich gemacht hat.
Hausbau
Am besten ließe man also Joseph gleich einmal damit beginnen, für die bereits länger dort Wohnenden und andere Neuankömmlinge wie ihn selbst neue, schönere Häuser im Gemeineigentum zu errichten. In einer Klassengesellschaft aber, in der einige Wenige, die über die Macht des Kapitals verfügen, die also bestimmen, was produziert wird und alle anderen dazu verdonnert sind, sich zwar frei zu fühlen, aber auf dem engen Korridor des Marktes nur auf die eine oder andere Art und in einem qualvollen Prozess der Anpassung schließlich daran mitarbeiten müssen, was die Oligarchen aller Länder und Zeiten wollen, werden jene, die glauben, dass sie bereits in der besten aller möglichen Welten leben, immer dagegen sein.
Sie hängen einer Erzählung des verdienten Erfolges an, auch wenn ihr eigener Erfolg im Spiegel der Menschheitsgeschichte nicht mehr als ein flauer Furz sein mag. Wer ein Leben lang herumgeschubst wurde, will nicht noch von Leuten ins Stolpern gebracht werden, die beim Herumschubsen bis dato nicht mitgemacht haben. Und wer weiß, vielleicht ist Joseph ja nicht einmal Zimmermann, sondern erzählt diese Geschichte nur wie jene von der Steuerschätzung, um seine eigene Verwertbarkeit in der Fremde zu hinterlegen.
So können wir die Vorgänge, denen Maria, Joseph und der kleine Jesus ausgesetzt waren, in allen ihren Facetten und Varianten auch mit den Begriffen „Gentrifizierung“ und „Migration“ reflektieren. Wem gehört die Stadt? Wer darf wo wohnen? Was müssen Menschen mitbringen, um sich an einer Gesellschaft beteiligen zu dürfen? Wer darf welche Rechte einfordern? Welche Grundeinverständnisse müssen akzeptiert werden? Und was geschieht mit Menschen, wenn sie unproduktiv sind, also kein Geld mitbringen, keine angesehenen und mächtigen Verwandten haben, keine herausragenden Fähigkeiten haben oder schlichtweg nicht gesund sind? Letztlich: Wer sind wir? Das ist wiederum eine andere Geschichte.
(Die beiden weiteren Episoden der Geschichte folgen 2020 und 2021.)