Ein Vorhang schließt sich
Mit David Lynch ist der bedeutendste Apologet des Geheimnisses „nach Haus“ geflogen.
In alternativen Medienkanälen ist überragende Gegenwartskunst zuweilen inexistent. Das mag sich dadurch erklären, dass sich Künstler als Bürger oder Privatpersonen überwiegend in den Narrativen der Macht eingenistet haben und in einem politischen Sinn nichts Emanzipatorisches leisten. Zuweilen treten sie gar als Systemhunde hervor. Allerdings liegt ein anderer Grund dieser Leerstelle auch darin, dass in der Dissidenz ein künstlerisches Schaffen — abgetrennt vom Künstler als Person — in seinem erhellenden Gehalt zuweilen nicht begriffen wird. David Lynchs Schaffen wäre für jene, die während Corona nicht einfach für ein bisschen Reisefreiheit ihre Stimme erhoben, sondern vielmehr in den propagierten Narrativen den Totaldurchgriff auf den Menschen und seine Würde erkannt haben, von nicht zu unterschätzender Bedeutung gewesen. Eine Würdigung dieses großen humanistischen Werkes blieb in den alternativen Kanälen aus. Das ändert sich mit diesem Beitrag.
Fahrt durch den Nebel der Stadt. Im Ohr und im Auto und also in meiner Welt die Musik aus Twin Peaks: Questions in a World of Blue. Dämmriger Sound, eine sich fortwährend auflösende Stimme, ein elegischer Klangteppich. Links und rechts tauchen Häuser auf. Villen, Institute, Bürokomplexe. Das alles langsam — Dreißiger Zone. Nicht nur die Gebäude, die kahlen Bäume, der Kanal zur Rechten, auch die Radfahrer werden zu Schemen einer anderen Welt. Trotz Dauerdämmerung, trotz Nebel, trotz dunklem Licht: Die Stadt, in diese Musik getaucht, ist mir nah. Es ist nicht die Beamtenstadt Oldenburg, die ich kenne, vielmehr fahre ich tränentrunken durch ein Universum. Das Lynch-Universum.
David Lynch war, nach meinem Urteil, der letzte Künstler unter den Filmenden. Okay, Lars von Trier ist noch da. Also der zweitletzte. Vor allem aber war er einer, der mit seinem Schaffen der Welt eine eigene, eine zusätzliche Welt beifügte. Gewiss, manche haben gute Filme hergestellt. Intelligente, berührende, ästhetische Filme, aber keine eigene Welt. So wie ich eine eigene Welt bei David Lynch auferstehen sehe, die Lynch-Welt eben, so gab es noch die Tarkowskji-Welt und die Fellini-Welt. Diese drei, so mein Urteil, haben ein Universum angelegt mit Gesten, Bildern und eigenen Zeichen. Fast wie Kafka. Und mit einem Geheimnis.
Die dissidente Welt aber, so scheint es, hat mit diesen Welten nichts zu tun. Auf keinem Kanal — RT Deutsch ausgenommen — habe ich zum Tod von David Lynch etwas gelesen.
Trump und Musk, jedes Gähnen, jedes Rülpsen von ihnen, die AfD, immer wieder, und endlos die Impfung, unterbrochenes Gas dazu, Putin, etwas weniger in letzter Zeit, und das Treiben der Eliten konstant: Um diese Themen drehen die Dissidenzgehirne und auch die andern.
Wer wollte dagegen was einwenden? Aber gänzlich an Lynch vorbeizuleben und vorbeizudenken und vorbeizuträumen, das schmälert die Erkenntnis.
Im Kern das Geheimnis
Im Gegensatz zur Dissidenz erkenne ich in Lynchs Schaffen Bezüge zu dem, was gekommen ist und wie es gekommen ist. Ich sehe Schlüssel der Realitätsdeutung darin. Und dies, weil es sich bei Lynchs Schaffen — die Caspar David Friedrich-mäßig kahlen Bäume, in kurzen Sequenzen bei Twin Peaks einmontiert, machen es kenntlich — um eine radikalromantische Konzeption handelt: Verschiedene Welten werden aufeinander abgebildet, Zukunft und Vergangenheit durchdringen sich, Wirklichkeit und Fiktion verschwimmen, Doppelgänger inbegriffen, und alles kreist letzten Endes um die finale anthropologische Konstante der Sehnsucht, die sich im unhintergehbaren Geheimnis verbirgt.
Jacques Derrida hat zu Beginn der Neunzigerjahre gesagt: „Ist das Geheimnis bedroht, dann droht der Totalitarismus. Der Totalitarismus ist das zerstörte Geheimnis.“ In diesem Sinne ist eine digital-transparente Gesellschaft eine totalitäre Struktur, und umgekehrt das Lynch-Universum der dagegen gesetzte Raum der Freiheit.
Und dies selbst da, wo es die Unfreiheit spiegelt (und das ist bei Lynch oft der Fall). Werden in Lost Highway Gewalt- beziehungsweise Kapitalstrukturen in Bilder gewoben, so bleibe ich als Sehender und mit in die Bilder Aufgenommener stets auch ein Ahnender, dem eine Tür noch bleibt. Die Tür zur Trance. Weil er — sei es träumend, delirierend oder analytisch — etwas zu erkennen beginnt.
Lynchs Universum bietet nicht nur Ausgänge in einem fort (EXIT-Leuchten da und dort), es ist der Ausgang aus dem Ausweglosen, aus der Eindimensionalität dieser Welt, welche gerne auch die Dissidenz erfasst. Denn in Eraserhead, Blue Velvet, in Lost Highway, Mulholland Drive und Inland Empire werden alle Bestimmungen dessen, was im Bild erscheint, zum Schweben gebracht, zum Oszillieren. Mit Machtverschleierung hat das nichts zu tun, im Gegenteil. Und wenn am Ende und nach geradezu monströsen Minuten der Zerstörung von Fire Walk With Me ein weißer Engel sich in die Höhe schwingt zum unendlich ausgedehnten Schlussakkord aus Cherubinis Requiem, dann wird, wer Ohren und Augen, vor allem aber eine Seele hat, mit aufgenommen in eine unermessliche Läuterung allen Daseins.
Gegen die Transparenz
Die Ausrottung des Geheimnisses ist das Vorhaben der globalen Technokratur. Die Entleerung der Welt, die Ent-Seelung des Menschen ist das Ziel. Lynch hat mit aller erdenklichen Kraft gegen diese Prozedur gearbeitet. Nicht aus politischem Antrieb, nein, „es“ war so in ihn gelegt. Naturgemäß ist er hierfür in die düsteren Räume der Zivilisation gestiegen. Denn Lynchs Filme zeigen keine netten Oberflächen als solche. Sie zeigen das monströs Brutale und das ungeheuerlich Schöne in fortlaufender Verschränkung.
Wer Twin Peaks wirklich geschaut hat, die alle Normen sprengende Staffel 3, Atombombenzündung inklusive, der weiß unmittelbar und noch bevor die Zeit einsetzt, was mit Figuren wie Schwab, Lauterbach, Gates, Habeck, Biden, Musk und Trump los ist.
Er kennt sie alle schon lange aus dem Lynchen Universum und es ist ihm ganz unmöglich, sie anders denn als Insassen einer bis in alle Verästelungen verdrehten, brutalen und irren Szenerie einzulesen. Gleiches gilt für die Räume der Zivilisation selbst, in denen sie auftauchen.
Geheimnis als Arznei gegen Faschismus
Aber dieser Lynch-Sehende kennt gleichzeitig auch die Kraft der Sehnsucht, und er wird unter keinen Bedingungen bereit sein, das Geheimnis des Seins diesen Figuren zu opfern und selbst auf Jagd umzuschalten. Auf den Punkt gebracht: Wer sein Schauen an Lynchs Filmen geschult hat, wer da eingetaucht ist, der wird eines wohl nie sein: Faschist. Er wird den Faschismus, das Totalitäre, er wird die Repression begreifen. Als anthropologische Konstante angelegt in „uns allen“. Aber er wird sich davon nicht einnehmen lassen, denn er weiß: Das Geheimnis reicht weiter. Und er hält es aus, dieses unbekannte „Weitere“, mehr noch, er sehnt sich danach. Das entzieht ihn jeder Bündelung (Bund = fascis), denn jeder Bund tötet. Jedes Geheimnis, das er nicht selbst ist, zuerst.
Das Geheimnis nicht bloß als Menschenrecht (gegen die Totaltransparenz einer smarten digitaldurchstrahlten Gesellschaft gesetzt), sondern als Inbegriff dessen, was den Menschen ausmacht: Das ist es, was Lynch aufgreift und zu einer eigenen Welt formt.
Die Technik, das Tote, die Gewalt: Das alles ist bei Lynch, so exzessiv vereinzelt auch eingesetzt (allerdings sind seine Filme überwiegend langsam, ruhig, still), nicht Selbstzweck; vielmehr wird das Technokratische Teil einer geistigen Sphäre, einer radikalromantischen Ahnung von Welt und Leben als einem Mysterium.
Bürger und Künstler Lynch
Das alles hat keineswegs mit dem zu tun, was der Bürger David Lynch sagt. Dieser hat vor Trumps erster Amtszeit eine gewisse Sympathie für den damals Störenden ausgedrückt. Die Hollywood-Community reagierte mit Unverständnis, und er ließ es — soweit ich das verfolgte — fortan bleiben. Bei Corona war er still, und nach dem russischen Eingreifen in der Ukraine ließ er ein paar transzendental-meditative Phrasen und eine Putinkritik folgen. Will sagen: Was der private David Lynch — er war kein politisch denkender Mensch — auszugeben hatte, hat mit dem, was ich hier würdige, nichts zu tun, auch wenn er sich — glaubt man den Aussagen verschiedener Schauspieler — im Gegensatz zu anderen berühmten Filmregisseuren wie etwa John Ford oder Alfred Hitchcock im persönlichen Umgang als äußerst liebenswürdig und stets hilfsbereit erwiesen hat.
Es ist nicht Lynch, es ist seine Kunst, die beispielsweise mit Mulholland Drive eine Dekonstruktion nicht bloß der Filmindustrie, nicht bloß von Hollywood, sondern der Gesellschaft, die sich aus dieser Industrie heraus setzt, vollzieht. Und gleichzeitig formt diese Dekonstruktion eine Ahnung von dem, was hinter dem De-Konstruierten liegt. Und wenn es auf der Leinwand schön leuchtet, so ist es nie das Leuchten, das wir sehen. Es ist das Andere, das ungemein viel mit dem zu tun hat, was vor langer Zeit „Seele“ genannt wurde.
Für reaktionäre Dissidenz abartig
Für die politische Bewegung, die sich, aus dem Coronawiderstand hervorgehend, mehr und mehr als „Sieger“ zeigt — eine politisch banale Rechte, reaktionär und wirtschaftslibertär —, wird diese Lynch’sche Dekonstruktion ganz bestimmt abartig sein. Der Zauber, der „Mehrwert“ daraus ist Menschen, die bloß auf Deal aus sind, nicht zugänglich. Wenn in überlebensgroßen Lettern „Roadhouse“ am Gebäude des Nachtklubs der (fiktiven) Provinzstadt Twin Peaks in Montana (dem Geburts-US-Bundesstaat von Lynch) aufleuchtet, dann leuchtet eine Vielschichtigkeit auf, die ein reaktionäres Menschenbild verstört oder aber darin gar nicht abgebildet wird.
Lynchs Vielschichtigkeit ist ein grandioser Beitrag zur Mehrperspektivität, die es gegen die digitale Technokratur, sei es in global-totalitärer, sei es in „trumpistischer“ Fassung, zurückzugewinnen gilt.
Hass ist nur vordergründig das Zeitproblem, im Grunde geht es um den Verlust des Anderen, des Mehrdeutigen, um das verlorene Geheimnis, das es — als Geheimnis! — wieder auf den Thron zu hieven gilt. Lynch war kein Intellektueller, er war ein Meister unheimlicher Bilder und ein Apologet dieses Geheimnisses.
Und meine Seele spannte / weit ihre Flügel aus, / flog durch die stillen Lande, /als flöge sie nach Haus.
Besser als mit Eichendorff ist nicht zu fassen, was mit jenen geschieht, die in das Universum David Lynchs einzutauchen vermögen. Dieses Universum aber bleibt in den Seelen, auch wenn nun David Lynch (diesmal nicht im Konjunktiv!) durch Wälder, Felder und Ähren nach Hause geflogen ist.