Ein unbekanntes Viertel
Für Menschen aus dem Westen mit russischen Vorfahren ist die Schönheit dieser Kultur etwas, was zur Erschließung ansteht.
Russische Verwandte zu haben ist heutzutage gewiss reizvoll, aber auch schwer. Die Reaktionen der Mitmenschen können von offener Ablehnung — wegen genetisch bedingter Putin-Nähe — bis zu der Annahme reichen, man sei grundsätzlich für alles Russische Experte. Der Autor hat eine russische Großmutter und verbindet mit ihr manch farbenfrohe Erinnerung. Das Land selbst jedoch konnte er bis jetzt nicht besuchen. Vielleicht ist sein „russisches Viertel“ aber auch eher ein Auftrag für die Zukunft als etwas, was ihn in der Vergangenheit geprägt hat. Vielleicht auch ist es ein Startvorsprung, um dem Wesentlichen dieser reichen Kulturnation auf die Spur zu kommen.
Sokolniki ist ein historisches Viertel im nordöstlichen Verwaltungsbezirk der russischen Hauptstadt Moskau. Der Name leitet sich von Sokol, zu Deutsch „Falke“, ab, da das Viertel im 17. Jahrhundert die Falkner — Menschen, die Falken zur Jagd abrichten — des Zaren Alexei Michailowitsch beheimatete. Sokolniki hat eine U-Bahn-Station und einen großen Park, der ein beliebtes Ausflugsziel für Einheimische und Touristen ist. 1959 erlangte der ruhige Bezirk Bekanntheit über die Landesgrenzen hinaus, als er während einer Küchenausstellung der American National Exhibition zum Schauplatz eines verbalen Schlagabtauschs zwischen dem damaligen US-Vizepräsidenten Richard Nixon und dem sowjetischen Premierminister Nikita Chruschtschow wurde. Heute beheimatet Sokolniki in etwa 57.000 Menschen.
Sokolniki ist das Viertel, in dem meine Großmutter aufgewachsen ist. Fast alles, was ich darüber weiß, stammt aus dem Internet. Mit Ausnahme der Falker. Von ihnen hat mir mein Opa erzählt.
In diesen Zeilen schwingt schon eines mit: Ich bin nie dort gewesen. Weder in Sokolniki noch woanders in Russland. Laut ChatGPT ist Sokolniki heutzutage ein lebendiges Viertel mit einigen architektonischen Schmankerln und einer großen Vielfalt an Restaurants und Cafés. Die künstliche Intelligenz empfiehlt mir, im Winter zunächst im großen Park Eislaufen zu gehen, um mich anschließend im „Stolovaya 57“ an einer warmen Rote-Beete-Suppe aufzuwärmen. Das klingt gar nicht mal so schlecht. Vielleicht mache ich das irgendwann einmal.
Ob man das in den 1940er- und 50er-Jahren auch schon so gemacht hat? Ich weiß es nicht. Ich habe absolut keine Vorstellung davon, wie die Moskauer Jugend meiner Oma wohl gewesen sein muss. Es heißt, sie sprach nicht gerne darüber.
Da meine Oma aus Russland kam, macht mich das zu einem Viertelrussen. Doch, ehrlich gesagt, habe ich das Gefühl, über mein russisches Viertel in etwa so viel zu wissen wie über das Viertel Sokolniki. Das ist auch der Grund, warum mich, als ich gefragt wurde, ob ich für das Projekt „Russlandschätze“ einen Beitrag über russische Kultur schreiben möchte, zunächst ein Gefühl von Unbehagen überkam. Russische Kultur? Müsste ich davon nicht zumindest ansatzweise eine Ahnung haben? Na ja, tatsächlich sehe ich mich eher mit einer einzigen Wissenslücke konfrontiert. Und das, obwohl ich Jahr für Jahr meine Sommerferien in einem Haus verbringe, dessen Regale vor lauter russischsprachiger Literatur nur so überquellen.
Von daher ist das Einzige, was ich über russische Kultur schreiben kann, Hypothesen. Hypothesen über ihre Beschaffenheit auf der Grundlage der wenigen Erinnerungen, die ich an die Zeit mit meiner Oma habe.
Die erste Erinnerung, die mir da in den Kopf kommt, ist die, dass ich in der Schule immer komisch angeschaut wurde, als ich von ihr erzählt habe. Denn anstatt von „Opa und Oma“ habe ich immer von „Opa und Babou“ gesprochen. Das deshalb, weil ich es nicht anders kannte und davon ausging, dass Babou wohl das gängige Wort für Oma sein müsse. Zugegeben: Daraus lässt sich jetzt noch nicht besonders viel ableiten, außer vielleicht, dass es meiner Familie wichtig war, sprachlich zu kennzeichnen, wo Babou ursprünglich herkommt.
Die nächste Erinnerung ist da schon etwas ergiebiger: Als ich in der ersten Klasse war und wir gerade das Schreiben lernten, waren meine Großeltern bei uns in Deutschland zu Besuch. Sie hatten sich dazu bereit erklärt, auf meine Schwester und mich aufzupassen, solange unsere Eltern auf Reisen waren. An einem Tag bekamen wir die Hausaufgabe auf, das Schreiben einiger neu gelernter Buchstaben in Schreibschrift einzuüben. Und wenn ich mich richtig erinnere, hatte ich da nicht wirklich Lust drauf. Ich wollte lieber runter in den Hof, um mit den anderen Kindern zu spielen. Meiner Oma gelang es aber, mir in einer zwar strengen, aber auch liebevollen Art klarzumachen, dass das mit dem Spielen nichts wird, solange die Pflichten nicht erledigt sind. So weit, so normal.
Das Entscheidende an dieser Geschichte ist aber das Folgende: Obwohl es schon so lange her ist, habe ich wenige Kindheitserinnerungen, die so lebhaft sind wie das darauffolgende Bearbeiten der besagten Hausaufgabe. Nicht weil dabei etwas besonders Spektakuläres geschehen wäre — das war nicht der Fall —, sondern schlicht aufgrund der Art und Weise, wie meine Oma mir damals bei dieser Aufgabe half. Sie forderte mich auf, mich zu bemühen, zeigte sich aber zugleich überaus geduldig mit mir. Ganz besonders wichtig schien es ihr zu sein, mir zu vermitteln, dass es einen großen Unterschied zwischen Schreiben und schönem Schreiben gibt. Sie sagte, dass man sich zum Schreiben Zeit nehmen solle, und ging dabei selbst mit gutem Beispiel voran. Ihre Schrift war fantastisch.
Von ihrem Aufenthalt damals ist mir zudem noch in Erinnerung geblieben, dass sie sich — es fanden gerade die olympischen Winterspiele statt — sehr häufig Eiskunstlauf im Fernsehen ansah. Sie erklärte mir, worauf es bei dieser Disziplin ankommt, und ich merkte, dass die Sportart ihr viel bedeutete. Zugegeben: Es gelang ihr nicht, mich dafür zu begeistern. Das musste sie aber auch nicht.
Erst Jahre später begriff ich, was sie mir während ihres Aufenthaltes vorgelebt hatte: dass es sich lohnt, das Schöne am Leben wertzuschätzen und zu versuchen, selbst ein wenig Schönheit in die Welt zu tragen.
Darüber, ob nun mein logischer Schluss aus diesem sehr begrenzten Erinnerungsschatz — also der, dass der Wert des Schönen ein zentrales Element in der russischen Kultur darstellt — zutreffend ist, kann sicherlich gestritten werden. In meiner Vorstellungswelt ist es jedenfalls so. Und ich hoffe sehr, dass ich in den kommenden Jahren die Gelegenheit haben werde, diese Hypothese auf den Prüfstand zu stellen: bei einem Spaziergang durch die Gassen Sokolnikis, der Lektüre eines der vielen Meisterwerke von Dostojewski oder vielleicht auch bei den nächsten olympischen Winterspielen. So viel, das ist zumindest mein Empfinden, bin ich meinem russischen Viertel dann doch schuldig.