Ein stumpfes Schwert
Aus Angst, berechtigterweise auf der Anklagebank zu landen, behindern die USA den Internationalen Strafgerichtshof mit allen Mitteln.
Seit der Internationale Strafgerichtshof 2002 seine Arbeit aufgenommen hat, wird er von den USA in seiner Arbeit behindert und, dies zeigten unlängst die Ausfälle von Trumps Sicherheitsberater John Bolton, immer unverhohlener bedroht. Vor wenigen Tagen sind die Ermittler des Gerichtshofes eingeknickt. Zu möglichen Kriegsverbrechen in Afghanistan wird vorerst nicht ermittelt.
von James O'Neill
Der Internationale Strafgerichtshof (IStGH) ist ein internationales Tribunal mit Sitz im niederländischen Den Haag. Nachdem das Römische Statut, die Gründungsurkunde des IStGH, in Kraft getreten war, nahm er am 1. Juli 2002 seine Arbeit auf. Aktuell gibt es insgesamt 124 Mitgliedsstaaten. Dazu gehören sämtliche Staaten Südamerikas, die meisten Länder Europas, außerdem etwa die Hälfte der afrikanischen Staaten sowie Ozeanien inklusive Australien und Neuseeland. Zu den Nichtmitgliedern gehören namhafte Länder wie China, Israel, Russland und die USA.
Das Römische Statut ist ein wichtiger Baustein des internationalen Rechts, weil es die Untersuchung und strafrechtliche Verfolgung von Völkermord, Verbrechen gegen die Menschlichkeit und von Verletzungen der Genfer Konvention im Hinblick auf bewaffnete Konflikte ermöglicht. Allerdings steht es nicht in der Macht des Strafgerichtshofs, Verbrechen der Aggression zu verfolgen.
Zweierlei Maß?
Eine weitere Einschränkung besteht darin, dass die strafrechtliche Verfolgung einer Person nur dann möglich ist, wenn der Staat, dem der oder die Betreffende angehört, nicht in der Lage oder willens ist, die Verfolgung selbst aufzunehmen. Im Fall einer Nichtmitgliedschaft ist dieser Staat dann in manchen Fällen dennoch nicht von der Verpflichtung entbunden, mit dem Strafgerichtshof zu kooperieren. Wenn zum Beispiel der UN-Sicherheitsrat den Strafgerichtshof mit einem Fall beauftragt, sind alle UN-Mitgliedsstaaten zur Zusammenarbeit verpflichtet. Zudem gibt es die Verpflichtung zur Kooperation im Hinblick auf die allgemeinen Grundsätze der Menschenrechte, wie sie sich aus den Genfer Konventionen und ihren Zusatzprotokollen ergeben.
Eine Kritik am Strafgerichtshof besteht darin, dass er seine Untersuchungen und Strafverfolgungen bisher vor allem auf Individuen aus den ärmeren Ländern, insbesondere in Afrika, gerichtet hat, während die Verbrechen von Individuen aus mächtigeren Staaten kaum untersucht und zur Anklage gebracht wurden. In den letzten Jahren hat es in dieser Hinsicht jedoch ein wenig Bewegung gegeben, weg vom Fokus auf afrikanische Diktatoren, hin zu einem breiteren Länderspektrum.
Offen feindselige Haltung
Obwohl es, wie oben angemerkt, eine Handvoll mächtiger Staaten gibt, die nicht Mitglied beim IStGH sind, verfügen die meisten von ihnen über die entsprechenden gesetzlichen Mittel, um jene zu bestrafen, die das internationale Recht brechen. Allerdings haben sich nur wenige Länder so offen feindselig gegenüber dem Strafgerichtshof gezeigt wie die USA.
Im Jahr 2002 verabschiedete der US-Kongress den American Service Members Protection Act (ASPA, deutsch: „Schutzgesetz für Amerikanische Dienstangehörige“). Man hat es auch als „Den-Haag-Invasionsgesetz“ bezeichnet, weil es den Präsidenten der USA ermächtigt, „alle notwendigen Mittel“ anzuwenden, um die Freilassung jedes „Mitarbeiters der USA oder ihrer Verbündeten zu erwirken, der auf Anweisung des Strafgerichtshofs festgehalten oder inhaftiert wurde“. Die Formulierung „alle notwendigen Mittel“ impliziert dabei auch die Anwendung militärischer Gewalt.
Diese Feindseligkeit wurde noch deutlicher, als John Bolton, der amtierende Nationale Sicherheitsberater der USA, den Strafgerichtshof während seiner ersten großen Rede als Sicherheitsberater am 10. September 2018 als „überflüssig“ bezeichnete. Er fügte hinzu, die USA würden alles tun, um ihre Soldaten zu schützen, sollte der Strafgerichtshof jemals versuchen, US-Soldaten wegen begangener Kriegsverbrechen im Afghanistaneinsatz anzuklagen.
Afghanistan hat seinen Beitritt zum Römischen Statut im Jahre 2002 ratifiziert, das heißt, nach der Invasion im Oktober 2001 und der anschließenden Besetzung des Landes durch die USA und ihre Verbündeten. Angeblich war diese Invasion die Antwort auf die Anschläge vom 11. September 2001, obwohl inzwischen bekannt ist, dass die Entscheidung, Afghanistan zu überfallen, bereits im Juli jenes Jahres getroffen worden war.
Bezeugte Kriegsverbrechen
Der IStGH hatte 2017 angekündigt, die Anschuldigungen in Bezug auf Kriegsverbrechen zu untersuchen, so dass Boltons Rede als eine Antwort auf diese Entscheidung verstanden werden kann. Beim IStGH sind bislang mehr als eine Million Aussagen von afghanischen Staatsbürgern und im Land tätigen Organisationen eingegangen, die den Verdacht auf begangene Kriegsverbrechen erhärten. Diese Beschuldigungen bezogen sich nicht allein auf die Taten amerikanischer Staatsbürger, sondern betrafen gleichfalls amerikanische Verbündete, afghanische Regierungstruppen sowie die Taliban. Keine andere Gruppe oder kein anderes Land, das von der Entscheidung des IStGH, die Vorfälle zu untersuchen, betroffen ist, hat auch nur annähernd so reagiert wie die USA.
Die australische Bundespolizei hat eine separate Untersuchung eingeleitet, nachdem sie im Juni 2018 Anschuldigungen über Kriegsverbrechen erhalten hatte, in die australisches Militär verwickelt gewesen sein soll. Die Details dieser Untersuchung sind bislang nicht publik geworden. Allerdings gibt es einen Verdacht: Der Grund für die Ermittlungen könnte darin bestehen, dass Australien zeigen will, dass es selber „willens und fähig“ ist, die von seinem Militär mutmaßlich begangenen Kriegsverbrechen aufzuklären. Damit will man die Möglichkeit des IStGH, zu anderen Schlüssen zu gelangen, von vornherein vereiteln.
Im März 2019 wurde ein früherer australischer Anwalt beschuldigt, der ABC Dokumente zugespielt zu haben, in denen es um Kriegsverbrechen geht, die angeblich von Spezialkräften der australischen Armee zwischen 2009 und 2013 begangen worden waren. Die Untersuchungen der australischen Bundespolizei sind noch im Gange. Dass die Regierung den mutmaßlichen Informanten derart verfolgt, könnte ein Hinweis darauf sein, dass man angesichts dieser Anschuldigungen recht empfindlich reagiert.
Bedrohte Ermittler
Es gibt kaum Zweifel daran, dass in Afghanistan Verbrechen begangen worden sind, die im Zuständigkeitsbereich des IStGH liegen. Genauso wenig kann bezweifelt werden, dass sämtliche am Kampf beteiligte Verbände irgendwann für Kriegsverbrechen verantwortlich waren. Dies alles ist gut dokumentiert. Es ist allerdings bemerkenswert, dass die Vereinigten Staaten gegen den IStGH zusätzlichen Druck ausüben, weil der es wagt, seine Untersuchungen trotz der Drohungen durch das ASPA-Gesetz und Bolton im September 2018 fortzusetzen.
Im März 2019 kündigte US-Außenminister Mike Pompeo an, dass die USA die Ermittler des IStGH mit Visabeschränkungen belegt hätten, um deren Einreise in die Vereinigten Staaten zu erschweren. Damit jedoch nicht genug. Wie Pompeo hinzufügte, seien die Amerikaner „willens, alle notwendigen Maßnahmen zu ergreifen, darunter auch wirtschaftliche Sanktionen, sollte der IStGH seine Untersuchungen nicht einstellen“.
Pompeos Ankündigung ist vielerorts kritisiert worden. Die Amerikanische Bürgerrechtsunion nannte sie „einen beispiellosen Versuch, der internationalen Verantwortung für gut dokumentierte Kriegsverbrechen auszuweichen“. Amnesty International erklärte, dass „die Behinderung der Arbeit der IStGH-Ermittler die Hauptfunktion des Strafgerichtshofs stören und damit ein gefährlicher Präzedenzfall geschaffen wird“. Und wie der Leiter der Open Society Justice Initiative (OSJI) meinte, spiegele Pompeos Erklärung die Sicht der Trump-Administration wider, der zufolge „internationales Recht nur dann von Belang ist, wenn es sich mit den nationalen Interessen der USA verbinden lässt“.
Der IStGH selbst reagierte im vergangenen September auf Boltons Drohungen mit der Erklärung, dass „der IStGH als Gerichtshof seine unabhängige Arbeit unbeirrt und im Einklang mit seinem Mandat unter den übergeordneten Prinzipien der rechtlichen Grundsätze weiterführen wird“.
Blanke Heuchelei
Diese Zitate bringen es ziemlich genau auf den Punkt. Die Vereinigten Staaten gehören zu den lautesten Verkündern ihrer selbsternannten Rolle als Hüter der „auf der internationalen Ordnung basierenden Regeln“. Wie der OSJI-Chef jedoch feststellte, werden diese „Regeln“ und diese „Ordnung“ nur dann hochgehalten, wenn sie sich am nationalen Interesse der USA ausrichten. Die Heuchelei der US-Position ist demzufolge mehr als offensichtlich.
Eine große Mehrheit der Staaten dieser Welt akzeptiert trotz aller Mängel den IStGH als ein wichtiges Mittel, um die Verursacher der schlimmsten Verletzungen internationaler Standards von Recht und Gesetz zur Verantwortung zu ziehen.
Wenn es den mächtigen Staaten dieser Welt freisteht, die Arbeit des IStGH und seine Ergebnisse zu ignorieren, wenn sie seine Mitarbeiter bei der Ausübung ihrer Arbeit bedrohen beziehungsweise ihre Möglichkeiten behindern, diese überhaupt erst zu erledigen, dann ist jede Behauptung, man halte sich an die Standards der internationalen Rechtsordnung, nur eine hohle Phrase.
James O'Neill ist Rechtsanwalt und Jurist, sein Spezialgebiet ist das Internationale Recht, Schwerpunkt Geopolitik. Er hat an der Universität von Bergen (Norwegen) und der Universität von Waikato (Neuseeland) gelehrt und war außerdem Gastprofessor an der Louvain la Neuve (Belgien). Er hat zwei Bücher und viele Artikel verfasst sowie Bewertungen in Fachzeitschriften und Kommentare in Publikationen in den USA, Europa und Australien geschrieben. Außerdem war er Berater bei der UN-Kommission für Wirtschaft in Europa in Genf. Er ist zu erreichen unter joneill@qldbar.asn.au.
Redaktionelle Anmerkung: Dieser Text erschien zuerst unter dem Titel „Accountability for War Crimes — USA vs ICC“. Er wurde von Ronald Zieger aus dem ehrenamtlichen Rubikon-Übersetzungsteam übersetzt und vom ehrenamtlichen Rubikon-Korrektoratsteam lektoriert.