Ein neues Menschenbild

Bis heute gilt der Mensch als von Natur aus egoistisch, dabei ist diese Vorstellung hinlänglich widerlegt. Das exakte Gegenteil ist der Fall. Teil 3 von 4.

In den folgenden Ausführungen kommen grundsätzliche Beobachtungen und Fragen zu Wahrnehmungen der System- und Weltentfremdung zur Sprache. Sie beruhen auf der These, dass diese auch — oder vor allem — durch eine manipulierte und indoktrinierte Selbstentfremdung möglich wurden. Wollen wir nachhaltig an dieser Gesellschaft und unserem Leben etwas ändern, sollten wir uns, so die These dieses Textes, bewusster werden, wer wir im Grund unseres Herzens sind und wie wir dementsprechend leben wollen.

Unsere schwierigen Seiten:

Konformismus

Der Drang, sich an die Gepflogenheiten einer Gemeinschaft anzupassen, wurde zu einem tief verankerten Bestandteil der ersten Natur. Wir nennen das Konformismus.

Konformismus folgt der biologischen Funktion, Menschenliebe und damit soziale Akzeptanz bei den angestammten Gruppenmitgliedern hervorzurufen. Das Konformitätsbedürfnis, unser unbedingter Wille, dazuzugehören, ist eindeutig erste Natur und weit davon entfernt, eine rationale Strategie der dritten Natur zu sein. Lange Zeit war Überleben nur als vollständig integriertes Mitglied einer Gruppe möglich. Und: Wir haben einen „Status-quo-Bias“, das heißt, wir bevorzugen intuitiv den aktuellen Zustand vor jeglicher Veränderung.

In einer sich kaum verändernden Welt war das sinnvoll. In heutigen Gesellschaften, die nicht nur durch raschen Wandel, sondern auch durch Ungleichheiten und Ungerechtigkeiten belastet sind, ist solcher Konformismus bedenklich. Das erklärt vermutlich auch, dass sich die bestehende Ordnung mit ihren Herrschaftsverhältnissen, ihren Bevorzugungen, ihren Privilegien und Ungerechtigkeiten, von einigen historischen Zufällen abgesehen, letzten Endes mit solcher Mühelosigkeit erhält und dass die unerträglichsten Lebensbedingungen so häufig als akzeptabel und sogar natürlich erscheinen können. Deshalb haben sich Menschen nicht nur von entfremdender und destruktiver Herrschaft zu emanzipieren. Sie müssen sich teilweise auch aus den Fängen ihrer eigenen ersten Natur befreien.

Die dunkle Seite

Das Freund-Feind-Denken ist eine der unangenehmsten und gefährlichsten Eigenarten der ersten Natur. Wir waren so sehr auf die Zugehörigkeit zu einer eng verbundenen Gruppe von bedingungslos Kooperierenden angewiesen, dass der Erfolg des Kollektivs den Schlüssel zum Erfolg der Einzelnen darstellte.

Nahmen wir als Gruppe eine existenzielle Bedrohung wahr, vergaßen wir unsere aktuellen Streitigkeiten, schlossen die Reihen und standen Schulter an Schulter, um gemeinsam der Gefahr zu trotzen. Einzelne Mitglieder einer fremden Gruppe konnten unser Vertrauen gewinnen, aber sobald sie als Horde kamen und wir sie als Bedrohung für Leib und Leben wahrnahmen, waren wir bereit, sie allein deshalb zu töten, weil sie der anderen Gruppe angehörten, ganz gleich wie nett und kooperativ sie als Einzelne zu uns gewesen sein mögen.

Das erklärt meiner Meinung nach vieles, was wir in letzter Zeit erleben: beispielsweise wie einfach sich Spaltungen innerhalb von Gesellschaften erzeugen lassen. Grundsätzlich lässt sich vermutlich sagen: Heraufbeschworene Krisen und Kriege sind heutzutage „Meisterstücke“ von Propaganda.

Ein integraler Bestandteil jeder Kriegsführung ist es, ein möglichst überzeugend abstoßendes Feindbild zu entwerfen. Dem Gegner werden die niedrigsten Motive und finstersten Absichten unterstellt. Spricht man Feinden das Menschsein ab, fällt es leichter, ihnen das Menschsein auch physisch zu nehmen.

Die Verteufelung der Gegner zieht sich durch die Menschheitsgeschichte. Der Schulterschluss fällt umso intensiver aus, je größer die äußere Bedrohung. Das binäre, äußerst leicht zu aktivierende Freund-Feind-Denken wird im Kampf gegen das Böse mühelos „getriggert“.

Dieser natürliche „Mechanismus“ hat aber noch eine andere Komponente: Er ist ein Kompensationsmechanismus für den in anonymen Gesellschaften grassierenden Horror Vacui. Indem man ein Außen, einen Feind konstruiert, wird eine Anzahl an sich verbindungsloser Menschen überhaupt erst als Gemeinschaft definiert. Tatsächlich entstehen so kaum mehr als Pseudogemeinschaften. Ihnen fehlt der positive Inhalt! Wie positionieren wir uns als Menschen, damit unsere Menschlichkeit sich auch gesellschaftlich und politisch auswirken wird?

Die adaptive Vorsicht gegenüber Fremden, die in der ersten Natur verankert ist und zuweilen von der zweiten Natur zementiert wwird, kann leicht instrumentalisiert werden, um egoistische, chauvinistische oder totalitäre Ziele zu verfolgen. Was die Zusammenhänge brisant macht: Es ist ausgerechnet das kühle Kalkül der dritten Natur, die diesen Mechanismen eine schreckliche, wenn nicht tödliche Dynamik verleihen kann. Das Unterdrücken des urmenschlichen Impulses, Empathie zu empfinden, geschah in der Geschichte nur allzu oft aus angeblich vernünftigen Gründen.

Totale Religion

Den Ausführungen der Autoren van Schaik und Michel (Buchangabe siehe unten) zur Religion möchte ich vorausschicken, dass ich denke, der aktuellere Diskurs wäre, wie in der heutigen Zeit durch die totalitäre Ideologie des Geldes eine noch radikalere Entmenschlichung auf jeder Ebene stattfindet. Doch die geschichtliche Aufarbeitung einer Religionskritik ist meiner Meinung nach insofern immer noch interessant, weil sie bewusst macht, wie umfassend die Strategien der Machterhaltung schon immer waren.

Die Religionskritik der beiden Autoren ist heftig und meiner Ansicht nach an manchen Stellen etwas vereinfacht, weil sie sich in ihren Ausführungen ausschließlich auf die „offizielle“, institutionalisierte „Religion von oben“ beschränken. Nicht erwähnt werden die vielzähligen mystischen Traditionen oder religiöse Widerstandsbewegungen, die zeigen, wie sich auch in diesem Kontext die Menschlichkeit immer wieder behauptete und andere neue Wege suchte.

Und man sollte nicht ganz aus dem Blick lassen, dass, auch wenn zu Recht, das Christentum durch die Kirchen eine schwer diskreditierte Religion ist, es dennoch die Religion ist, mit der viele von uns sozialisiert wurden. Für viele Menschen stellt sie deshalb vermutlich noch den einzig verbleibenden Pool zur Verfügung, der sie mit letzten Überresten von transzendenten Gefühlen oder religiös-menschlichen Bedürfnissen versorgt.

Die Ideologie des Geldes und der Materialismus haben nichts „Wärmendes“ mehr zu bieten. Sie befördern die Menschen in die totale Selbstentfremdung und eine transzendente Verlorenheit.

Vorstellungen, die sich Menschen von der Sphäre der übersinnlichen Mächte machten, korrespondieren mit den Verhältnissen der irdischen Sphäre. Es gilt: im Himmel wie auf Erden. Dauerhaft funktioniert Herrschaft nur mit Legitimation, um nicht ständig infrage gestellt zu werden und mit massivem Zwang reagieren zu müssen. Die frühen Herrscher inszenierten sich als Günstlinge oder Abkömmlinge der Götter. In deren Auftrag und Namen beanspruchten sie, über das Volk zu herrschen, Gesetze zu erlassen, Kriege zu führen.

Durch einen überwältigenden Staatskult mit institutionalisierten Opfern, Ritualen, Festen und Glaubensinhalten ist eine Religion von oben entstanden, die Herrschaftsgewalt legitimierte. Herrschaft wurde fortan im Namen und im Auftrag der Götter ausgeübt. Und machte sich damit weitgehend unantastbar.

Was aus den Dispositionen unserer ersten Natur erwuchs, war Alltags- oder persönliche Religion: Sie gründet in subjektiven Erfahrungen der Transzendenz. Die Herrschaftsreligion hingegen musste erlernt werden. Von Experten wird vorgegeben, was zu glauben ist, und Herrschaftsreligion dominierte ihre Sichtbarkeit mit grandiosen Tempeln, Kirchen und Heiligtümern.

Die Konsequenz sei ein kolossales Missverständnis, so die Autoren: Die Religion von oben – anstelle der Religion von unten – erschien als einzig wahre, als tatsächliche Religion.

Das spielte lange den Machthabern jeglicher Couleur in die Karten, verschleierte es doch, worum es in dieser Staatsreligion wirklich ging: um die Legitimation von Herrschaft der wenigen über die vielen, um die Rechtfertigung krasser sozialer Ungerechtigkeit durch das angebliche Gottesgnadentum der Eliten.

Die Religion von oben hat den Ausnahmezustand normal gemacht. Sie hat den inneren Protest der ersten Natur über die fehlende Reziprozität auf Erden zum Schweigen gebracht. Der Gedanke, dass die Egoisten, Despoten und Gewalttäter ihrer Gier nach dem Tod von Gott für ihre Prasserei bestraft würden, beruhigte jene, die unter ihnen zu leiden hatten, und trug dazu bei, dass sich die Empörung über diese himmelschreiende Ungerechtigkeit selten in Gewalt entlud. Und das Christentum hat gut 2.000 Jahre lang nicht nur die Unterdrückung des Weiblichen, sondern auch die Heteronormativität und die Ehe auf Lebenszeit als angebliche Normalität im Denken der Menschen verankert.

Für die oben aufgeführten Aussagen braucht es heute offenbar schlicht weder eine „Erklärung“ noch einen Trost. Wo bleibt die Rechtfertigung für Vermögensverhältnisse und Macht, die man nur noch absurd nennen kann? Wo bleibt der Trost, dass solche Widersinnigkeiten irgendwann einmal, vielleicht in einem jenseitigen Leben, aufhören? Wir wurden in eine Welt der abstrusesten Sinnwidrigkeiten befördert.

Vieles ist mit diesem Seitenwechsel ins absolute Gegenteil verkehrt worden. Jesus von Nazareth predigte Gleichheit, Gewalt- und Besitzverzicht und war ein Freund der Frauen. Die Religion von oben hat die Ungleichheit der Lebens- und Reproduktionschancen, die Unterdrückung der Frauen und die Vererbung des Reichtums geadelt. Sie vertagte die Gerechtigkeit auf das Jenseits und erklärte damit die Ungerechtigkeit zur diesseitigen Normalität.

Durch eine Religion von oben entfaltete das Christentum ohne Zweifel auch bei seinen Gläubigen selbst unheilvolle Wirkungen. Schaik und Michel nennen das institutionalisierte Christentum eine „megalomane Indoktrinationsmaschine“. Nicht nur das: Die Verkehrung der Botschaft Jesu und ihre offen zutage liegende Doppelmoral wurden wohl für viele Menschen der Anlass, ganz auf ihre „religiöse Ader“ zu verzichten.

Das sogenannte christliche Abendland, das durch eine unheilige Allianz von Thron und Altar gekennzeichnet war, versuchte die Herrschaft einiger weniger absolut zu verankern und führte fast zweitausend Jahre lang einen Krieg gegen die erste Natur der Menschen. Doch allen Unterdrückungsmaßnahmen zum Trotz hat sich die erste Natur als überaus widerständig erwiesen. Unzählige „Ketzerbewegungen“ sorgten für einen nicht abreißenden Strom von Freiheits- und Widerstandsbekenntnissen. Die erste Natur verlangt nach ihrem Recht!

Anders als es die Säkularisationsthese behauptete, ist die Religion allem wissenschaftlichen Fortschritt zum Trotz nicht verschwunden. Die religiöse Ader der ersten Natur verschwindet nicht. Wir tragen eine animistisch-spiritualistische Basisausstattung in uns. Von Esoterik bis moderne Spiritualität, von Neo-Schamanismus bis Zen-Buddhismus: Wir erleben einen bemerkenswerten Boom alternativer Religionsformen.

Auch die beiden Autoren widmen sich diesem „modernen“ Menschen. Weil er nicht mehr in einer unendlichen Folge von Leben stehe, habe diese eine Existenz im Hier und Jetzt die Last zu tragen, „alles“ zu sein; damit dränge sich automatisch die Fragen nach dem Warum und Wozu auf. Insbesondere wenn nicht nur dem Körper, sondern auch der Seele das ewige Nichts drohen. Wozu also das Ganze? Die Mühen des Alltags, die Plackerei, das Streben nach Glück – ist das nicht alles absurd? Morgen könnte schon das Ende sein. Was also ist der Sinn des Lebens?

Forciert wird die Sinnsuche durch die zunehmende Isolation der Menschen und das, was man in marxistischer Tradition Entfremdung nennt. Wo die nachhaltigen Verbindungen zu anderen knapp werden, wo man nur noch ein beliebiges und jederzeit ersetzbares Rädchen in abstrakten Produktionsprozessen ist, tritt unweigerlich das Gefühl eigener Nutzlosigkeit auf, erscheint die eigene begrenzte Existenz als sinnlos.

Aufarbeitung der Schäden durch die Herrschaftsreligion

Die Schäden durch die Herrschaftsreligion sind ein düsteres Kapitel, allerdings. Die Schäden durch ein hyperkapitalistisches System, in welchem alle menschlichen Werte entwertet und verdreht werden, verschwinden oder untergehen und einzig materielle Werte existieren (dürfen), sind wohl mindestens ebenso schwerwiegend.

Die Autoren lassen zwar auch die Kritik an diesem System nicht außen vor. Doch die Gewichtung der beiden Themen erscheint mir nicht wirklich verhältnismäßig.

Die Menschen laufen den Kirchen in Scharen davon. Das liegt nicht zuletzt an den demokratischen Zeiten, in denen wir leben: Eine Herrschaftsreligion hat den Menschen nichts mehr zu sagen.
Der christliche Gott hat erst die Welt entzaubert und entgeistert; mit seinem eigenen Verschwinden wird die unsichtbare Welt endgültig stumm. Unsere erste Natur aber verlangt nach Resonanz auch in übersinnlichen Belangen. Entsprechend sollte der aktuelle Boom alternativer Glaubensformen nicht verwundern. Wir wurden zu verzweifelten Sinnsuchern.

Andererseits ist der alternative „Glaubensmarkt“ – nicht nur, aber auch – ein ziemlich konsumistischer Markt, der zum großen Teil denselben „Marktgesetzen“ unterliegt wie alles andere. Das heißt: Inwiefern ist es uns bewusst, wie sehr wir in einer Welt leben, die vollständig vom Materialismus durchdrungen ist? Wir zwar von Transzendenz sprechen, aber dennoch sehr materiell funktionieren?

Es gibt Anthropologen, die für einen modernen Animismus plädieren, der den Anthropozentrismus überwindet und nicht allein Menschen einen Personenstatus zugesteht. Das erleichtere, so die Autoren, eine dringend notwendige artenübergreifende Solidarität, die alle Lebewesen umfasst. Der Abschied vom unbedingten Hegemonialanspruch der Menschen würde zu einem verantwortungsvollen Umgang mit unserem Planeten führen. Zumindest unsere erste Natur hätte damit keine Probleme.

An dieser Stelle die Ausführungen der Autoren zur Demokratie

Die Idee der Demokratie ist uralt, mindestens so alt wie die Menschheit. Die Gemeinschaften der mobilen Jäger und Sammler waren egalitär und demokratisch. Die erste Natur ist ein ständiges Unruhemoment, das Emanzipation vorantreibt, zumindest immer dann, wenn die jeweilige Herrschaft schwächelt. Die Vorliebe für Gleichberechtigung und Fairness liegt buchstäblich in unseren Genen. Die Gleichberechtigung aller ist nun mal, evolutionär betrachtet, der tatsächliche Normalzustand des Homo sapiens.

Die erste Natur ist ein ständiges Unruhemoment, das Emanzipation vorantreibt, zumindest immer dann, wenn die jeweilige Herrschaft schwächelt. Die Gleichberechtigung aller ist nun mal, evolutionär betrachtet, der tatsächliche Normalzustand des Homo sapiens. Selbst Kinder reagieren höchst emotional auf Unfairness. Die Jäger-und-Sammler-Demokratie sei in gewisser Weise das Produkt der gebündelten Macht der weniger Mächtigen gewesen. Gemeinsam saßen sie am längeren Hebel, um tyrannische Anwandlungen talentierterer Kollegen in Schach zu halten.

In unserer Natur gibt es jedoch auch Haken: Wir mögen im Herzen Demokraten sein, doch wir neigen auch zur Heuchelei und behalten unser eigenes Interesse durchaus im Blick. Sind die Umstände dafür günstig, bricht unser altes Primatenerbe durch. Das wurde zum Problem, als die Gruppen verschwanden und die neuen Spielregeln den alten Egoismus zur „Gewinner“-Strategie beförderten.

Man brauchte die anderen nicht mehr als Versicherung für Notzeiten. Entsprechend schwand die Bereitschaft zu teilen. Eigentum erzeugte Reichtum – und Armut. Mit der Erfindung des Geldes konnte dieses System über Land und Nahrung hinaus ausgedehnt werden. All dies bedeutete das Ende demokratischer Verhältnisse: Die Reichen wurden mächtig, denn sie konnten sich Gefolgschaft kaufen. Sie veränderten die Spielregeln und produzierten soziale Ungleichheit.

Auf der einen Seite differenzierte sich eine Elite aus. Neben den real Mächtigen gab es jene, die auf Basis ihrer Funktonen sekundäre Macht, Status, erhielten. Sie alle profitierten und begehrten deshalb eher selten auf. Den Armen auf der anderen Seite mangelte es an Möglichkeiten und Waffen. Diese Elite etablierte eine einlullende Herrschaftsideologie, welche die Bevölkerung zum Schweigen brachte, obwohl sie ausgebeutet wurde. Sie appellierten an uralte Instinkte der inneren Solidarität gegen böse Feinde und schürten – bewusst oder unbewusst – die Furcht vor den „Göttern“, um Dissens zu unterdrücken.

Insofern haben die Aufklärung und die mit ihr einhergehenden bürgerlichen Evolutionen nur versucht, die eine Hälfte der Ungerechtigkeitsfaktoren aus dem Weg zu räumen: die undemokratische Herrschaft. Die andere Hälfte aber, die undemokratische Vermögens- und Machtverteilung, blieb unangetastet. Die Revolutionen haben zwar zur Abschaffung der Adelsprivilegien geführt, aber konservierten die Eigentumsprivilegien. Sie wurden sogar zum unantastbaren Menschenrecht geadelt. Seither kann man sich eine Welt ohne sie kaum mehr vorstellen.

Indem Besitz zum Menschenrecht erklärt wurde, wurde die Enteignung der Besitzlosen zementiert. Einmal mehr ist das mächtigste Legitimationsinstrument der Ungleichheit zu beobachten: die Normalität des Eigentums. Dem Besitz sei es gelungen, sich selbst als historische Ausnahmeerscheinung unsichtbar zu machen – und so zu tun, als sei er Teil der Conditio humana, sagen die Autoren.

Man war blind für die daraus erwachsende Unfairness der Lebenschancen, die über Generationen hinweg vererbt wurde.

Die Aristokratie wechselte also nur das Medium: Nicht mehr das Blut, nicht die Verwandtschaftslinie waren entscheidend, sondern das Geld, das Erbe. Es entschied über die Fitness der Individuen. Eine rein kulturelle Erfindung übernahm das Ruder. Die Aristokratie wurde zu einer Plutokratie. Chancengleichheit bleibt unter diesen Bedingungen eine Farce.

Zurück zur ersten Natur: Demokratie vollenden

Die eigentliche Erbsünde ist dementsprechend die Erfindung des Eigentums gewesen.

Den Kardinalfehler für das Entstehen einer unzureichenden Demokratie sehen die Autoren darin, dass zwar die traditionellen – sichtbaren – Herrschaften beseitigt worden seien, nicht aber die unsichtbaren des Eigentums. Insofern sei das Spiel des Lebens weiterhin eines mit gezinkten Karten geblieben. Einige wenige haben qua Zufall der Geburt alle Trümpfe in der Hand; den vielen dagegen bleibt nur das Nachsehen. Eine Welt, die keine Chancengleichheit ermöglicht, kann auch nicht demokratisch sein. Ein faires Spiel setzt voraus, dass alle die gleiche Ausgangsposition haben. Für unsere erste Natur und die edlen Worte in den Präambeln von Verfassungen und Menschenrechtserklärungen ist das eine Selbstverständlichkeit.

Die neue Aristokratie ist eine Plutokratie. Im Zeichen von Turbokapitalismus und unkontrollierten globalen Finanzströmen werden jegliche Gleichheitsprinzipien ad absurdum geführt. Mit dem Besitz von Medien, Thinktanks und Heerscharen an Lobbyisten haben die Reichsten heute einen absolutistischen Einfluss auf die Entscheidungen in Demokratien.

Der evolutionistische Sozialdarwinismus, der behauptete, dass das unbedingte Recht des Stärkeren den Fortschritt voranbrachte, avancierte zur Ideologie des Kapitalismus. Die Propagierung solch unsinniger Aussagen wie „Dominanzhierarchien“ stellt das „ewige Funktionsprinzip“ der Evolution dar, dem wir uns unterwerfen müssen. Oder Armut ist eine brutale und unabänderliche Naturgegebenheit.

Die Botschaft solcher Apologeten des Kapitalismus ist deutlich: Die Natur erteilt dem hemmungslosen Egoismus und der daraus resultierenden Unterteilung der Welt in Arm und Reich die Absolution. Doch solche Behauptungen entbehren jeder wissenschaftlichen Grundlage. Auch die evolutionäre Aufklärung entlarvt solche Narrative als das, was sie sind: nackte Ideologie des Kapitalismus, um anormale Zustände massiver sozialer Ungleichheit zu legitimieren. Die materielle Ungleichheit ist eine historische Fehlentwicklung, die endlich korrigiert werden muss. Es gilt: Alle sollen gleiche Chancen haben, unabhängig vom finanziellen, sozialen und kulturellen Kapital ihrer Vorfahren. Alles andere ist indiskutabel – und evolutionär betrachtet unmenschlich.

Unsere Art, der Homo sapiens, machte Karriere durch die Entdeckung des Wir. Wir wurden zur erfolgreichsten Spezies, weil unsere Vorfahren es vor Abertausenden Jahren lernten, das alte Primatenerbe, den Hang zum Alpha- und Bullytum, zu unterdrücken und den Egoismus so weit zu sublimieren, dass Individuen ihren kompetitiven Drang zur Besonderheit in den Dienst der Gruppe stellten. Die größte Reputation verdankte sich dem Einsatz für alle.

Unsere Jäger- und Sammler-Vorfahren waren frei in dem Sinne, dass sie keine Herrschaft über sich duldeten und sich vor niemandem verbeugen mussten. Das sollte unser Ziel sein.

Sie waren aber nicht frei in dem Sinne, dass jeder Einzelne tun konnte, was er oder sie wollte, ohne Rücksicht auf die Allgemeinheit. Diese Art von Freiheit, die das Individuum isoliert über alles stellt, ist eine Erfindung des Kapitalismus und die Grundvoraussetzung der grenzenlosen Bereicherung. Viel zu lange berief man sich dabei auf das angeblich in der Evolution begründete Recht des Stärkeren. Doch da würden unsere hypersozialen Vorfahren aus dem Staunen nicht herauskommen. Das Wissen, dass niemand allein überleben kann, war die Grundessenz ihrer Existenz.

Niemand schreibt den demokratischen Gesellschaften vor, sich international agierenden Konzernen, Oligarchen und freien Finanzströmen auszuliefern, die jene globalen Ungerechtigkeiten befördern, gegen die unsere erste Natur aufbegehrt. Wer also die Demokratie verteidigen will, muss sich zuallererst für ihre Gerechtigkeit und Fairness einsetzen!

Weder Privatbesitz noch Ungleichheit sind in absehbarer Zeit aus der Welt zu schaffen. Demokratische Gesellschaften können jedoch die Ungleichheit durch eine progressive Besteuerung von Einkommen, Kapital und Erbschaften – alles Produkte des Patriarchats – begrenzen.

Die Autoren weisen allerdings auch darauf hin, dass sich nicht alle Schwierigkeiten mit Rückgriffen auf unsere erste Natur oder unsere dritte Natur (Vernunft) lösen lassen. Wir brauchen eine Moral, verbindliche Werte, an welchen wir uns für unser Handeln orientieren können. Seit der Aufklärung werde die Frage nach dem Wesen des Menschen zu einer politischen Demarkationslinie: Ist der Mensch nun gut oder böse?

Alles eine Frage der Moral?

Protagonisten des Neoliberalismus wie der Ökonom und Nobelpreisträger Friedrich August Hayek werfen dem Marxismus vor, auf der falschen Maxime zu gründen, dass der Mensch gut sei, und der kapitalistische Westen in der Systemkonkurrenz den sozialistischen Mächten des Ostens überlegen sei, weil er auf einem realistischeren, nämlich egoistischen Menschenbild basiere. Menschen seien selbstsüchtige Wesen, die in erster Linie an der Verwirklichung ihres Eigennutzes arbeiten (Homo oeconomicus).

Das Gegenteil ist der Fall. Wir sind eine hypersoziale Spezies, und unser Überleben hängt seit jeher davon ab, dass wir zuverlässige von unzuverlässigen Mitstreitern unterscheiden können. Wir haben eine intuitive Moral, die als eine Anpassung an unsere steinzeitliche Jäger-und-Sammler-Existenz entstanden ist. Wir verfügen über ein Set an moralischen Präferenzen, die fester Bestandteil unserer ersten Natur sind. Wir waren seit jeher höchst moralische Lebewesen – und sind es noch heute. Der Sinn für Fairness ist uns tief eingebrannt. Er ist unser moralisches Substrat. Wir erwarten bloß, fair behandelt zu werden und für unsere guten Taten auch eine entsprechende Gegenleistung zu erhalten.

Aus der evolutionären Warte ist die Frage nach Moral erstaunlich simpel. Bei Moral geht es darum, das Funktionieren sozialer Einheiten wie Paare, Freunde, Gruppen und Gesellschaften zu gewährleisten. Dazu braucht es Verhaltensregeln, die man sich selbst auferlegt und von denen erwartet wird, dass auch die anderen ihr Handeln danach ausrichten. Es geht darum, die Stabilität sozialer Arrangements zu gewährleisten, die auf gegenseitiger Abhängigkeit basieren. Das Ziel ist, die Kooperation zu sichern und sie vor Ausbeutern zu schützen.

Ein Teil der Lehren, für die Jesus von Nazareth bis heute selbst von Gegnern des Christentums verehrt wird, stellt schlicht eine Aktualisierung der empathischen Jäger- und Sammler-Seele dar. Das ist der Grund, warum Geschichten wie die vom verlorenen Sohn oder der Ehebrecherin – „Wer ohne Sünde ist, werfe den ersten Stein“ – auch Agnostiker in den Bann ziehen. Das auf Empathie basierende Verzeihen rührt unsere erste Natur – und das noch in jenen großen, anonymen Gesellschaften, die dafür nur wenig Raum bieten.

Evolutionsbiologen hatten lange ein Problem mit dem prosozialen Kern der Moral, unserem Hang zum Altruismus: also der Bereitschaft, anderen zu helfen, auch wenn es uns selbst etwas kostet. Wir sind keine Egoisten. Wir sind zutiefst empathische Lebewesen. Unsere konkurrenzbasierte Gesellschaft ist eine Welt, die allein die eine Seite der Empathie, jene im schlechten Sinn, kultiviert hat: nämlich diejenige Schwächen anderer zu erkennen, die zum eigenen Vorteil ausgenutzt werden können. In anonymen Gesellschaften, mit durchrationalisierten und institutionalisierten Beziehungen, erleben wir die Empathie nicht mehr als die menschliche Gabe, die sie einst war. Wir sind nur noch Finanziers oder Empfänger von abstrakten Leistungen – Geld statt Taten. Auch das ist Entfremdung.

Die Sache mit der Moral habe aber einen Haken: Unsere Moral ist eine Kleingruppen-Moral. Sie ist keine Moral für große Gesellschaften und schon gar nicht für die ganze Menschheit. Und sie hat einen Hang zur Doppelmoral.

Menschen differenzieren ihre moralischen Urteile nach Verwandtschaft oder Zugehörigkeit zur gleichen Gruppe, was die praktischen Grenzen der Solidarität aufzeigt. Deshalb braucht es heute von Moralphilosophen entwickelte präskriptive Regeln, um in der modernen Welt ethisch akzeptable Normen aufzustellen, die keine Schlagseite haben. Wir benötigen also aktuell nicht allein eine Moral, deren Solidaritätsbegriff über unseren eigenen Kreis hinausgeht. Sie muss auch der Welt nach uns gerecht werden. Da wartet harte Arbeit auf unsere dritte Natur; es gilt, eine ebenso globale wie übergenerationelle Moral zu entwickeln.

Andere moralische Gewissheiten spiegeln nur die zweite Natur wider. Sie sind das Produkt spezifischer Interessen jener, welche die Macht besaßen, sie überhaupt zu etablieren – und die notwendigen Einschränkungen der Empathie mit den jeweiligen Opfern durchzusetzen. Das Problem mit der Moral ist ihre Verpflichtung auf Pragmatismus. Es sind zuweilen bewusste Versuche, unsere angeborene Empathie mit Menschen in Not zu unterdrücken. Das können wir, doch brauchen wir ein starkes Motiv dazu, etwa Rache, oder ein überzeugendes Narrativ, demzufolge die eigentlich erbarmungswürdigen Wesen unser Mitleid nicht verdienen.

Einige sind schlechter als andere darin, das Fühlen, ihr inneres Flüstern zu ignorieren. Viele Menschen haben Schwierigkeiten, das angeborene Mitgefühl zu überwinden, mögen die rechtfertigenden Erzählungen oder der Zwang noch so groß sein. Dennoch geschah das Negieren des urmenschlichen Impulses, Empathie zu empfinden, in der jüngeren Geschichte nur allzu oft. Und nur allzu oft aus angeblich vernünftigen Gründen. Es wurden Gründe erfunden, wieso in den entsprechenden Fällen die Grundregeln der Fairness und der Empathie außer Acht zu lassen sind. Das war immer dann der Fall, wenn die Herrschaftsinteressen oder Profite so groß waren, dass Handlungen aus dieser Perspektive zu unbequem oder kostspielig erschienen. Es ist kein Zufall, dass die Sklaverei endete, als Verbrennungsmotoren billig genug waren, menschliche Arbeit kostengünstig zu ersetzen.

Da zumindest dem Anspruch nach heute alle Menschengruppen erfasst sind – die Würde eines jeden Menschen ist unantastbar –, stellt sich die Frage, ob der Kreis jener nicht weiter zu expandieren wäre, denen wir Achtung und Verantwortung gegenüber tragen sollten. Tier, Pflanzen und sogar Flüsse, Meere und Landschaften könnten auch „unsere Nächsten“ sein. Wir bilden auf diesem Planeten eine einzige Schicksalsgemeinschaft. Unsere erste Natur stünde dem nicht im Weg. Die nicht menschliche Umwelt stellte die längste Zeit keine einfach auszubeutende Ressource dar. Sie stand in einer auf gegenseitiger Abhängigkeit beruhenden engen Verbindung zu den Menschen und war damit selbstverständlicher Gegenstand unserer Empathie.

Meiner Meinung nach geht es um eine Moral, die nicht relativierbar ist, im Sinne von Werten, die wir als „heilig“ empfinden, weil sie menschlich sind. Es sollte von einer Menschlichkeit die Rede sein, die alles Lebende umfasst und nicht dogmatisch ist, die sich weder korrumpieren noch missbrauchen lässt.

Auf den letzten hundert Seiten des Buches befassen sich die Autoren auf originelle und anregende Weise mit Themen wie „Sex und Liebe“, „das Geheimnis unseres Erfolges“, „den Kult der Arbeit“ oder „das Familienleben“.