Ein neues Menschenbild

Bis heute gilt der Mensch als von Natur aus egoistisch, dabei ist diese Vorstellung hinlänglich widerlegt. Das exakte Gegenteil ist der Fall. Teil 2 von 4.

In den folgenden Ausführungen kommen grundsätzliche Beobachtungen und Fragen zu Wahrnehmungen der System- und Weltentfremdung zur Sprache. Sie beruhen auf der These, dass diese auch — oder vor allem — durch eine manipulierte und indoktrinierte Selbstentfremdung möglich wurden. Wollen wir nachhaltig an dieser Gesellschaft und unserem Leben etwas ändern, sollten wir uns, so die These dieses Textes, bewusster werden, wer wir im Grund unseres Herzens sind und wie wir dementsprechend leben wollen.

Was gutes Leben ist, können uns die Gene nicht sagen. Dies müssen Menschen in gemeinsamen Suchprozessen immer wieder neu kalibrieren. Das Böse jedoch, das zeigen „die Argumente“ unseres Körpers, tut dem Menschen nicht gut. Eines sei laut Joachim Bauer klar: Humanität und Empathie liegen dem Menschen „im Blut“.

Arbeiten und zur Ruhe kommen kann der Mensch nur, wenn er sich geliebt fühlt und lieben darf. Wer auf Dauer ohne Liebe leben muss, verliert irgendwann die Energie, um gute Arbeit zu leisten. Liebe engt den Menschen nicht ein, sie öffnet die Türen zu allem, was den Menschen ausmacht: zur Kreativität, zu sinnvoller Arbeit, zur Anstrengungsbereitschaft, zum Engagement für das Gute und nicht zuletzt zum Genuss.

Das Gegenteil von „gutem Leben“ ist alles, was dem Menschen Angst macht und ihn in Stress versetzt: ungewollte Einsamkeit, soziale Ausgrenzung oder Isolation, Überforderung oder zu hoher Leistungsdruck, Demütigung oder Bedrohungen, Misshandlungen oder Missbrauch. Aber auch ein Mangel an Nahrung, das Fehlen einer sicheren Unterkunft oder ungewollte Arbeitslosigkeit. Der Prüfstein für uns ist, ob es gelingt, mit Engpässen, Unrecht, negativen Gefühlen und Konflikten umzugehen und in jeder neuen Situation Lösungen zu finden, mit denen alle jeweils Beteiligten ohne Angst und Stress leben können.

Gelingendes Leben misst sich an einer tiefen, inneren Liebe zu einem durch Sinnhaftigkeit und Humanität gekennzeichneten Leben und an einem gelingenden sozialen Zusammenleben.

Motivation, Engagement und Lebenszufriedenheit lassen sich stärken, indem wir uns einander zuwenden und kooperieren. Zu einer Aktivierung des Motivationssystems kommt es bereits dadurch, dass wir einander zuhören und uns gegenseitig die Möglichkeit geben, unsere Gedanken und Gefühle auszudrücken. Zwischenmenschliche Beziehungen schützen vor Schmerzen jeder Art. Soziale Ausgrenzung hat nicht nur eine ökonomische, sondern auch eine psychologische Dimension.

Armut im Angesicht von großem Reichtum ist nicht nur ein sozialpolitischer Missstand; das menschliche Gehirn toleriert zwar Unterschiede, allerdings nur bis zu einem gewissen Grad! Weitere Ausführungen dazu bringen die beiden Autoren, die ich im Anschluss an Bauer vorstelle. Ihr evolutionär-anthropologischer Ansatz attestiert uns ein ständiges Unwohlsein in unserer Kultur beziehungsweise Gesellschaft.

Wenn Menschen, die viel besitzen, zugunsten anderer, die Mangel leiden, Verzicht leisten, dann führt dies, wie eine Untersuchung zeigt, nicht nur bei den Benachteiligten, sondern auch bei denen, die abgeben, zu einer Ausschüttung von Motivations- und Glücksbotenstoffen. Zum guten Leben gehört daher auch ein zureichendes Maß an Gerechtigkeit.

Eine Entfremdung erleidet der moderne Mensch nicht nur gegenüber der Natur, sondern auch gegenüber der eigenen Person, seinem „Selbst“. Versagungen, Schicksalsschläge, soziale Benachteiligungen, aufgedrückte Belastungen und sinnwidrige Pflichten zwingen unzählige Menschen in ein Leben hinein, von dem sie immer deutlicher spüren, dass es nicht ihr Leben ist. Manchmal auch stecken Menschen in Beziehungen fest, die sie sehr stark einschränken, die sie vielleicht gar nicht eingehen wollten, aus denen sie aber nur sehr schwierig herauskommen.

Fazit: Menschen sind sowohl für ein aus persönlicher Sicht sinngeleitetes als auch für ein aus gesellschaftlicher Sicht prosoziales Leben und Zusammenleben bestimmt. Beides miteinander zu vereinen ist „gutes Leben“ oder, anders formuliert, Humanität.

Was können wir tun, damit wir den Weg zu einem „guten Leben“ finden?

Wir können mehr von dem tun, was uns wirklich am Herzen liegt, meint Bauer. Wir sind dazu aufgefordert, in einem bisher als entfremdet empfundenen Leben endlich heimisch zu werden. Wem dies gelinge, so Bauer, erlebe sein Leben als „sinngeleitet“. Wir können eine Neubestimmung machen von dem, was uns im Leben wirklich wichtig ist, gute zwischenmenschlicher Beziehungen vertiefen, bisher nicht gekannte eigene, persönliche Stärken entdecken, Möglichkeiten erkennen, dem eigenen Lebensweg eine neue Richtung zu geben, und schließlich ein neu erwachendes oder vertieftes Interesse an Fragen nach dem Sinn des Lebens finden.

Was die Welt unserer kognitiv-intellektuellen Gesundheit im Innersten zusammenhält, sind unsere zwischenmenschlichen Beziehungen.

Dass wir die Welt verstehen, einen kognitiven Zugang zu ihren Gesetzen finden und sie gestalten wollen, ist kein Selbstzweck. Die tiefe, unbewusste Motivation dafür bildet der Wunsch, im Leben eine sozial bedeutsame Rolle spielen zu können, für andere da zu sein und von anderen anerkannt zu werden. Wenn ihm — warum auch immer — dafür der Boden entzogen wird, wird der Mensch krank.

Eine auf Humanität, auf „gutes Leben“ im Sinne eines guten, prosozialen Zusammenlebens, auf Gemeinsinn, Fairness und Empathie ausgerichtete Lebenshaltung entspricht unserem Wohlbefinden in jeder Beziehung, sowohl psychisch als auch physisch. Sie aktiviert genetische Programme und Körpersysteme, die der menschlichen Gesundheit zuträglich sind und Erkrankungsrisiken vermindern.

Ständige Angst und Aggression und die damit verbundene Aktivierung entsprechender neuronaler Systeme provozieren im menschlichen Körper subakut verlaufende, sozusagen „unter dem Radar fliegende“ chronische Entzündungsprozesse, die Herz-Kreislauf-Erkrankungen, Krebsleiden und Demenzerkrankungen begünstigen.

Der Mensch ist mit körperbasierten, neurobiologischen Systemen ausgestattet, die ihn zu einem empathiebegabten Lebewesen machen. Menschen empfinden ebenfalls Freude, wenn sie anderen eine Freude machen können. Moralische Akte beispielsweise bereiten nicht nur denen, die sie erleben, sondern vor allem denen, die sie ausüben, ein Gefühl des Glücks und lassen sie Lebenssinn erleben. Die Aussage, dass der Mensch ein für faires, gerechtes und empathisches Zusammenleben bestimmtes Lebewesen sei, ist somit keine naive, idealistische Behauptung.

So sehr ihm jedoch die Bestimmung für ein „gutes Leben“ in die Wiege gelegt ist, so wenig lässt sich daraus ableiten, der Mensch sei im moralischen Sinn von Natur aus gut (siehe beispielsweise Angst als Gegenspieler der Empathie). Ebenso entbehrt allerdings auch die Annahme eines naturgegebenen Egoismus jeder Grundlage. Gewalttätigkeit und Delinquenz sind keine anthropologischen Normalvarianten, sondern Ausdruck von psychischen Störungen.
Um menschliches Verhalten möglichst weitgehend in der Bandbreite des Guten zu halten, bedarf es innerer Hilfestellungen und äußerer, auch politischer, Rahmenbedingungen, die Humanität und Empathie fördern.

Noch anzufügen ist: Es geht nicht nur um uns; es geht um alles, das uns umgibt. Menschen brauchen, um gesund zu bleiben, nicht nur mit ihresgleichen resonante, empathische Beziehungen, sondern auch mit der Natur. Auch zwischen den Menschen und der Natur besteht eine Resonanz, die heilsam wirkt. Die medizinische Gesundheit des Menschen, die Qualität unserer zwischenmenschlichen Beziehungen und die Beziehung des Menschen zur Natur stehen in einem Dreiecksverhältnis der Wechselseitigkeit. Das Wiedereintreten des Menschen in eine resonante Beziehung mit der Natur fördert die zwischenmenschliche Prosozialität und Empathiebereitschaft. Und auch andersherum.

Bauers Exkurs zur grundsätzlichen Funktion von Genen soll hier auch noch Erwähnung finden. Es gebe, so seine Aussage, auch keine wissenschaftlichen Daten, die nahelegten oder gar beweisen würden, dass das Prinzip der Konkurrenz bereits beim Entstehen des Lebens auf der Erde eine maßgebliche Rolle gespielt haben könnte. Und die soziobiologische Vorstellung eines egoistischen Gens habe nur von Personen entwickelt werden können, die niemals selbst direkt an Genen gearbeitet haben.

Auch was die Gene betreffe, widerspreche alles der heute in wissenschaftlichen Kreisen weit verbreiteten, wenn nicht dominierenden Meinung, dass Gene die eigentlichen Akteure der biologischen Weltgeschichte seien und uns steuern. Nichts spreche dafür, dass Gene „kämpfen“, nichts deute darauf hin, dass sie uns zu Kampfmaschinen machen. Im Gegenteil: Gene unterliegen einem außerordentlich weitgehenden Maß an Steuerung von außen. Die Umwelt habe einen überragenden Einfluss auf die Gene. Dass Gene für sich um die Vorherrschaft in der Biosphäre „kämpfen“ und Lebewesen diesem Kampf dienen, sei jedoch das zentrale Dogma der Soziobiologie, der heute im Wissenschaftsbereich vorherrschenden Denkschule.

Die zentrale Botschaft Richard Dawkins, eines britischen Biologen und Wissenschaftsphilosophen, vom egoistischen Gen hat Eingang in die meisten Lehrbücher gefunden. Aus Science-Fiction wurde auch hier Science. Ein bemerkenswerter Vorgang, der demjenigen gleicht, der sich bereits zwischen 1860 und 1930 bezüglich Darwins Lehre abgespielt hat. Die ideologischen, durch nichts bewiesenen Thesen der Soziobiologie werden inzwischen auch in Schulbüchern verbreitet: Das Gen sei die Grundlage des Eigennutzes. Gene stünden auch innerhalb des Körpers gegeneinander in Konkurrenz. Wie schon Darwin, interpretiert auch die Soziobiologie die belebte Natur quasi als ein marktradikales System von Wirtschaftsunternehmen. Um eine solche Sicht der Gene zu vertreten, müsse man den klaren Verstand aussetzen lassen, schreibt Bauer.

Nicht nur unser Gehirn, auch unsere Gene haben uns als kooperative Wesen konstruiert. Psychische Erfahrungen — indem sie vom Gehirn in biologische Signale verwandelt werden — können epigenetische Veränderungen — Veränderungen der Aktivierung der Gene — bewirken. Gene und Umwelt, Beziehungserfahrungen und körperliche Biologie bilden eine Einheit; sie sind Teil eines kooperativen Projekts. Ohne das Gelingen von Kooperation kann nichts entstehen, was lebenstüchtig ist.

Epigenetische Veränderungen haben einen entscheidenden Einfluss sowohl auf die Erhaltung der Gesundheit als auch auf das Risiko, zu erkranken. Joachim Bauer meint dazu: Epigenetische Vorgänge werden sich in Zukunft als Hauptursache nicht nur der Tumorerkrankungen, sondern auch anderer großer Volkskrankheiten herausstellen. Als Prävention würde ein grundsätzlich kooperativerer, liebevollerer Umgang der Menschen miteinander und ein System, das angst- und stressfreier operiert, sich nicht nur positiv auf das psychische Erleben, sondern auch auf die neurobiologischen Strukturen, die Epigenetik, des Menschen und damit auf seine körperliche Gesundheit auswirken.

Nochmals: Unser Geist, unsere Lebenseinstellung hat wissenschaftlich belegte Auswirkungen auf unseren Körper. Menschen mit einer prosozialen Einstellung zeigen eine verminderte Aktivität von Risikogenen, ein Gen-Aktivierungsmuster, welches mit einem verminderten Krankheitsrisiko für Herzinfarkte, Schlaganfälle, Krebs- und Demenzerkrankungen verbunden ist.

Das heißt, die Art, wie wir als soziale Wesen zusammenleben und wie wir über dieses Zusammenleben denken, findet in den körperlichen Strukturen ihren Niederschlag. Humanität, also anderen Menschen Gutes tun, aktiviert ein genetisches Muster, das unseren Körper vor chronischem Entzündungsverschleiß schützt und die Gesundheit bewahren hilft.

Joachim Bauer setzt seine Erkenntnisse am Ende erneut in einen gesellschaftlichen Kontext: Es sei zwar wichtig, dass jeder einzelne Mensch seine von Natur ausgerichtete Anlage zur Gestaltung von gelingenden Beziehungen schule. Von einem auf die Errichtung eines auf gelingende Beziehungen zielenden gesellschaftlichen Zusammenleben seien wir jedoch weit entfernt. Hauptgrund dafür sei eine auf maximale Kapitalverzinsung, die Wahrung individueller Vorteile und kurzfristige Ausbeutung menschlicher Ressourcen eingeengte gesellschaftliche Ideologie.
Doch Menschenliebe, die Freude an sinngeleitetem Leben, an Bildung und kultureller Kreativität, an produktiver Arbeit, an gegenseitiger Hilfeleistung, Fairness und Gerechtigkeit seien anthropologische Konstanten, zu denen die Menschheit immer wieder zurückkehren werde. Angst und Dummheit und die mit ihnen einhergehenden Untugenden der Habgier, der Aggression und der Unfairness hätten zwar die Tendenz, sich zu reproduzieren. Doch diese Reproduktionszyklen ließen sich unterbrechen: durch Bildung und sinngeleitetes Leben, durch Zivilcourage und Mut im Dienst von Menschlichkeit, durch Freiheit und Vernunft. Kurz: durch alles, was „neue Aufklärung“ und „gutes Leben“ ausmacht.

Wir haben diesen Weg eingeschlagen und werden ihn weitergehen

An dieser Stelle möchte ich ein weiteres Buch vorstellen. Es ist das Buch von Carel van Schaik und Kai Michel mit dem Titel „Mensch sein: Von der Evolution für die Zukunft lernen“. Die beiden Autoren betrachten hier unser Zusammenleben aus anthropologischer Sicht.

In diesem Teil meiner Ausführungen geht es vorwiegend um einen evolutionär-anthropologischen Ansatz, der sich unserer Gefühle der Selbstentfremdung annimmt. Die beiden Autoren des hier zusammengefassten Buchs wollen uns von „unserer Schuld“ entlasten, indem sie die Systemkritik mit einer Herrschaftskritik verbinden. Die Herrschaft will — und wollte uns schon immer — mit diversen Strategien der Machterhaltung täuschen. Die Analyse der Autoren führt überdies zu einem konkreten Ergebnis, das heißt, sie benennt den grundsätzlichen „system error“. Abschließend kommen noch kurz neue philosophische Ansätze zu Wort.

Carl van Schaik und Kai Michel legen mit ihrem Buch „Mensch sein: Von der Evolution für die Zukunft lernen“ eine evolutionäre Auslegung der Welt- und Selbstentfremdung des Menschseins vor. Sie erklären uns aktuelle Erkenntnisse und neue Einsichten aus der evolutionären Anthropologie und Archäologie, was mit unserem Menschsein schiefläuft, und präsentieren ein Konzept zum Verständnis der Schwierigkeiten, mit denen wir uns nicht nur in unserem Alltag herumschlagen.

Das Buch ist ein umfassendes Plädoyer für Gerechtigkeit und evolutionäre Aufklärung, welches Orientierung in Zeiten des Umbruchs bieten soll. Das Wissen unserer ganzen Geschichte des Menschseins, so die Autoren, sei ein bedeutender Aspekt, um uns selbst zu verstehen und die Welt menschenwürdiger zu gestalten. Dem großen Themenumfang des Buchs ist es geschuldet, dass in den Ausführungen der Autoren meiner Ansicht nach einiges fragmentarisch bleibt. Doch ich denke, vielen von uns ist dieser Ansatz nicht näher bekannt und deshalb als eine weitere „Suchbewegung“ eine wissenswerte Erweiterung.

Meine Besprechung ihres Buches kann ebenso nur punktuell und fragmentarisch bleiben. Indem ich die mir für den Kontext meines Textes wichtigen Aussagen herausgreife, stelle ich einen sehr gerafften Überblick des 360 Seiten umfassenden Buches vor.

Die Autoren beginnen mit der Kernthese ihrer Botschaft: Unser Unbehagen in der Kultur (Camus, Freud, Marx) sei schon lange bekannt, und zurzeit schwinge es sich in neue Höhen. Was heute angesichts der existenziellen Zumutungen eigentlich als berechtigter Weltschmerz durchgehen müsste, werde zunehmend als behandlungswürdige Krankheit diagnostiziert. Die Frage, ob es sich dabei nicht schlicht um normale Reaktionen auf unwürdige Lebensbedingungen handeln könnte, werde selten gestellt. Solche Fragen sind eben nicht profitträchtig. Quäle uns der Verdacht, die Welt sei nicht bei Sinnen, erwidere uns eine ganze Industrie, wir sollten uns optimieren und Resilienz trainieren.

Therapien, Coachings, Ratgeber, Selbsthilfeseminare ohne Ende. Mental Health ist zum Multimilliardenmarkt geworden. Die Optimierung kennt marktgesetzkonform kein Ziel, sondern immer nur ein Mehr. Während der Mythos des ewigen Wachstums kultische Züge annimmt, taumelt die Welt dem Abgrund entgegen.

Wir sind konditioniert, gemästet bis zum Überlaufen mit falschen Programmen. Haben wir uns mal gefragt, ob etwas, das wir als stark vermittelt bekommen, wirklich stark ist, und was schwach sein soll, wirklich schwach ist? Ob wir etwas, das als schön gilt, wirklich als schön empfinden, und was hässlich sein soll, wirklich hässlich ist? Ob das, was gut sein soll, uns wirklich als gut erscheint, und was schlecht sein soll, wirklich schlecht ist? Es gibt Kategorien, die unsere Seele nähren und uns viel unvermittelter und tiefer berühren als Äußerlichkeiten.

Die Frage drängt sich auf: Was läuft da schief?

Die Antwort der Autoren: Wir führen eine Existenz im Ausnahmezustand; in ihrem Kontext ist unser menschheitsgeschichtlicher Ausnahmezustand gemeint. Oder anders formuliert: Wir leben in einer Welt, für die wir nicht gemacht sind. Tatsächlich sei die Kultur das eigentliche Problem, nicht unsere Biologie. Uns werde suggeriert, die globalen Probleme entsprängen unserer mangelhaften Conditio humana. Wir seien hoffnungslose Egoisten, dem ewigen Mehr verfallen. Gewalt, Konkurrenz und Krieg seien deshalb typisch menschlich. In allen Fällen gelte jedoch: Nichts könnte verkehrter sein!

Bei der Frage, wie das Leben zu führen sei, dominiere in aller Regel eine verkürzte Perspektive, die den Blick allein auf das eigene Hier und Heute richtet. Wir tendierten dazu, unsere Lebenswelt als selbstverständlich und nicht grundsätzlich hinterfragbar zu verabsolutieren. Auch wenn man allein die gut 5.000 Jahre in den Blick nehme, in denen Menschen angefangen haben, vermehrt in Staaten zu leben, bedeute dies eine extreme Reduktion unseres Menschseins. Damit werde allein ein einziges Prozent der Menschheitsgeschichte berücksichtigt.

In einer solch radikal verzerrten Perspektive avanciere der Ausnahmezustand — diese kurze Zeit des gesellschaftlichen und kulturellen „Überbaus“ — zur Normalität. Unberücksichtigt blieben dabei die 99 Prozent beziehungsweise 2,5 Millionen Jahre der Gattung Homo oder die 300.000 Jahre des Homo sapiens. Sie stellen jenen gewaltigen evolutionären Zeitraum dar, der nicht nur unsere Körper, sondern auch unsere Psyche formte.

In dieser Zeit herrschten Bedingungen, wie sie nicht gegensätzlicher zum Heute und zum restlichen ein Prozent unserer gesellschaftlichen Bedingungen sein könnten. In den 99 Prozent unserer Lebensgeschichte lebten wir in kleinen, egalitären und höchst solidarischen Gruppen, die jagend und sammelnd umherzogen und sich von dem ernährten, was sie in der Natur fanden. Die Menschen seien mit ihrer Psychologie bestens an ihre Umwelt angepasst gewesen, was dem Leben eine große Selbstverständlichkeit gab.

Das Evolutionstabu verabsolutiert unerkannt den Ausnahmezustand — unsere Kultur — zur Normalität und kettet uns als Individuen auf der Anklagebank fest. Die Behauptung, wir als Individuen seien schuld am desolaten Zustand der Welt, ist ein uraltes Narrativ der Unterdrückung.

Zum besseren Verständnis ihrer Sichtweise konzipieren die Autoren ein Modell der drei Naturen:

Erste Natur

Mit der ersten Natur sind unsere grundlegenden biologische Dispositionen gemeint. Sie sind angeboren und im Erbgut verankert. Es handelt sich um menschliche Universalien, psychologische Prädispositionen und Präferenzen, die bei allen Menschen rund um den Globus gleich sind. Zur ersten Natur rechnen die Autoren unsere Intuitionen, spontane Vorlieben und Gefühlsreaktionen, aber auch bestimmte Wahrnehmungskategorien und Handlungsoptionen. Was zur ersten Natur gehört, muss nicht oder allenfalls in geringem Maße erlernt werden. Sie ist angeboren, einfach da und völlig selbstverständlich. Sie kann kultiviert, aber auch unterdrückt werden. Und sie ist bestimmend dafür, wie authentisch oder entfremdet wir uns fühlen.

Unsere erste Natur beinhaltet einen Sinn für Fairness und Gemeinschaft, Empathie — eine Art natürliche Moral, die das zwischenmenschliche Miteinander reguliert —, das Streben nach einem „guten Ruf“, die Liebe zwischen Eltern und ihren Kindern. Auch ein Gespür für die Reziprozität unserer Beziehungen ist fest verankerter Teil unserer ersten Natur. Grundlegend dabei, so die Autoren, sei die Emotion, die den Prozess der Reziprozität in Gang setzt: die spontane Neigung, anderen zu helfen. Anthropologen sprechen von „proaktiver Prosozialität“ — die übrigens auch im Tierreich weit verbreitet ist.

Freundlich zu sein aktiviert wiederum unser Belohnungssystem. Wir fühlen uns gut, wenn wir Gutes tun. Weil die Zusammenarbeit und das Zusammenleben in diesen Gruppen überlebenswichtig waren, besitzt unsere erste Natur ein Sensorium, das beständig über zwischenmenschlichen Beziehungen wacht und Alarm schlägt, sobald diese ins Ungleichgewicht geraten oder sich als nicht stabil genug erweisen. Egoistische Wandlungen, zu denen Menschen auch immer neigen, werden registriert und von der Gruppe sanktioniert.

Die erste Natur weise ein ausgeprägtes Gruppendenken auf, das mitunter leider auch schnell bereit sei, andere zu verteufeln. Aber nichts davon determiniere ein starres Verhalten: Wir sind keine Sklaven der Biologie. Die erste Natur gewährleiste ein fast reibungsloses Funktionieren der Menschen in ihrer für sie typischen sozialen wie ökologischen Umwelt.

Die späteren Lebensweisen, die erst in den letzten Jahrtausenden das Leben der Menschen bestimmten, sind evolutionsgeschichtlich betrachtet zu neu, als dass sie sich in unsere erste Natur einschreiben konnten. Die erste Natur ist ein Produkt, das sich über riesige Zeiträume der biologischen Evolution entwickelte — und ist damit sehr, sehr träge. Sie verschwindet nicht einfach, wir tragen sie alle unablässig mit uns herum.

Zweite Natur/Kultur

Ohne sozialen Input geht bei uns nichts. Wir wachsen heran, indem wir eine Reihe von Fähigkeiten, Kenntnissen und Routinen aufbauen, die auf den Wechselwirkungen beruhen zwischen bei der Geburt vorhandenen Präferenzen und Handlungstendenzen und der Umwelt sowie den sozialen Einflüssen, denen wir nach der Geburt begegnen.

Was sozial gelernt wird, kann variieren — wenn auch nicht völlig willkürlich aufgrund von Vorgaben, die uns durch die erste Natur auferlegt werden. Die variablen, kulturell erworbenen Fähigkeiten und Überzeugungen nennen wir zweite Natur. Zweite Natur, weil sie sich so natürlich anfühlt, dass wir uns nicht bewusst sind, dass das meiste davon erlernt ist. Dazu gehören Technologie, Traditionen aller Art, Sitten, Gebräuche, Mentalitäten, Normen, Werte, Konventionen und Stereotype. Alles, was wir von klein auf durch Sozialisation verinnerlicht haben; alles, von dem wir wissen, ob es sich gehört oder nicht, ist uns zur selbstverständlichen zweiten Natur geworden.

Die Inhalte der zweiten Natur speisen sich in der Regel aus den herrschenden Werten einer Gesellschaft. Es gehört viel Aufgezwungenes zur zweiten Natur. Dabei gilt jedoch: Je intensiver der Zwang, desto weniger gut schreibt es sich den Menschen ein.

Elemente der zweiten Natur besitzen eine penetrante Hartnäckigkeit und sind konfliktträchtig. Unsere angeborene Grundausstattung, die universell ist, also bei allen Menschen weitgehend gleich, bietet kaum Potenzial zu Streit oder Auseinandersetzungen. Sie ist die Grundlage, auf der ein Dialog über alle Grenzen hinweg möglich ist. Die zweite, unsere kulturelle, Natur jedoch kann sehr verschieden sein, sich diametral unterscheiden und sorgt deshalb für Ärger unter den Menschen. Nochmals: Die Kultur ist unser Problem, nicht die Biologie. Wieso diese Treue gegenüber bloß erlernten Inhalten?

Dritte Natur/Ratio

Die erste Natur ist unsere natürliche Natur, die zweite die kulturelle, die dritte unsere rationale Kultur, die Vernunftnatur. Sie greift nicht auf interne, fest etablierte, also biologisch oder kulturell vorprogrammierte Reaktionsmuster zurück. Sie ist unsere unmittelbare Problemlösungsstrategie und bedient sich der Logik und der Argumente.

Beispiele für die dritte Natur sind all jene Dinge, die wir nur widerstrebend tun, obwohl wir wissen, dass sie gut für uns und oder zumindest vernünftig wären: sich gesund ernähren, die Treppen nehmen, Alkohol meiden, regelmäßig Sport treiben und so weiter.

Warum scheitern wir hier immer wieder? Die dritte Natur ist eben nur vernünftig und steht im Widerspruch zu den Bedürfnissen unserer ersten Natur oder den Gewohnheiten der zweiten Natur. Es braucht Disziplin, sie zu befolgen. Der Prozess der Habitualisierung, der Verinnerlichung, bis Dinge zur selbstverständlichen Gewohnheit werden — dritte Natur zu zweiter Natur wird —, braucht Zeit.
Die Grenze zwischen zweiter und dritter Natur ist nicht scharf. Die dritte Natur kommt vor allem angesichts neuer Herausforderungen zum Tragen, aber auch in Konfliktsituationen, in denen verschiedene Standpunkte aufeinandertreffen und begründet werden müssen.

Der grundlegende Unterschied zwischen der biologischen und der kulturellen Evolution war: Erstere führte dazu, dass wir körperlich wie psychisch mehr oder minder zu unserer Umwelt passten. Letztere dagegen produziert eine Kluft zwischen uns und unserer Lebenswelt. Und diese wird nicht geschlossen. Menschen passen also nicht mehr in die Welt.

Lange waren es allein die sozialen Eliten, die über die Möglichkeiten und Ressourcen verfügten, Kultur zu prägen und voranzutreiben. Es reichte, wenn sich neue Lösungen für jene bewährten, in deren Händen sich die Hebel der Macht befanden. Insofern war Kultur in weiten Teilen auch ein Instrument, das der Reproduktion gesellschaftlicher Ungleichheiten diente — und dies bis heute tut.

Entsprechend wurde den Untertanen viel von oben eingetrichtert. Menschen werden indoktriniert, gezwungen, ihnen fremde Dinge zu verinnerlichen. Manche identifizierten sich leichter mit solch einer diktierten zweiten Natur, bei anderen regte sich der Widerstand dagegen ein Leben lang.

Institutionalisierte zweite Natur führt zu jener Art von Zwängen und Gewalt, die heute gerne als „systematisch“ oder „strukturell“ bezeichnet werden. Es handelt sich um die „herrschenden Verhältnisse“ und „Diskurse der Macht“, die Individuen auf mal subtile, mal brachiale Weise maßregeln und ihnen ihre Normalität aufzwingen.

Die erste Natur, schreiben die Autoren, gerate immer mehr in die Defensive. Sie veralte. Ihr gerate die alte Umwelt abhanden, an die sich anpassend sie einst entstanden ist. Unser Dilemma: Die erste Natur ist biologisch verankert, wir können sie nicht einfach ablegen. Ebenso wenig ist es möglich, in die alte Welt zurückzukehren. Wir leben eigentlich in der exakten Gegenwelt zur ersten Natur. Wir fühlen uns zerrissen. Solange es an evolutionärer Aufklärung fehlt, lauert die Gefahr, dass kulturelle Differenzen verabsolutiert werden.

Folgen wir der Analyse der Autoren, bietet sich folgendes Handlungsrezept an: Die erste Natur der Menschen ist auf absehbare Zeit hin unabänderlich. Sie hat ihre dunklen Seiten, die nicht in unsere heutige Welt passen. Solche biologischen Altlasten müssen erkannt und in Schranken gewiesen werden. Doch die anderen Bereiche der ersten Natur, die bei allen Menschen ziemlich identisch sind, taugen als Grundlage für einen konstruktiven Austausch über alle Grenzen hinweg. Sie können Gemeinschaft — und auch Gesellschaft? — schaffen. Und wir sollten uns von kulturellen Altlasten befreien. Es geht darum zu erkennen, wo wir von der toxischen zweiten Natur zermürbt werden.

Wenn wir über menschgerechtere Lösungen nachdenken, kann die erste Natur in vielen Fällen als Kompass dienen. Kulturelle Lösungen, die mit der biologischen Natur des Homo sapiens harmonieren, haben einen gewaltigen Vorteil. Sie fühlen sich für alle gut an.

Wo die erste Natur veraltet ist, braucht es neue Lösungen, die sich an der Maxime orientieren, eine möglichst gerechte und herrschaftsfreie Welt zu schaffen, welche die Würde aller Menschen schützt und in der Empathie nicht allein auf Menschen beschränkt bleibt, sondern auch die Welt um uns herum einbezieht.

Unsere soziale Ader

Ein Aspekt ist laut den Autoren für das Verständnis unseres Menschseins vor allen anderen unverzichtbar: Wir sind hypersoziale Wesen. Unsere Psychologie ist eine durch und durch soziale. In diesem Sinne erfahren wir eine grundsätzliche Entfremdung im Sinne stummer, kalter oder scheiternder Weltbeziehung. Gewisse Anthropologen seien der Meinung, dass Menschen sich mehr vor der Einsamkeit fürchten als vor dem Tod.

Auch die Autoren dieses Buches reden davon, dass wir in einem sozialen Horror Vacui (innere Leere aufgrund fehlender tragender Beziehungen) leben.

Was uns wirklich fehlt

Unserer ersten Natur fehlt schlicht die Resonanz tiefer sozialer Beziehungen; allein diese spenden emotionale Sicherheit. Für eine auf Besitztümern basierende Sicherheit ist unser Sensorium unempfänglich.

Es ist ein brisantes Faktum: Privatbesitz und Vererben haben jene Egalität eliminiert, die 99 Prozent der Menschheitsgeschichte der Normalfall war. Es handelt sich um junge Erfindungen, die nicht in der menschlichen Natur verwurzelt sind: Kinder müssen erst lernen, dass nicht alles allen gehört. Sie wurden mittels Gewalt etabliert und besitzen keine moralisch akzeptabel erscheinende Legitimation.

Allen demokratischen Anstrengungen der jüngeren Zeit zum Trotz sind wir gerade Zeuge, wie eine kleine Schicht Hyperreicher — beispielsweise Leute, die über ein Vermögen verfügen, welches das Bruttoinlanprodukt ganzer Länder übersteigt! — auf der Grundlage dieser menschheitsgeschichtlichen Ausnahmeerscheinungen eine neue Form der Aristokratie etabliert.

Der Wandel von sozialem Reichtum zu sozialer Armut hat psychologische Konsequenzen, deren Relevanz bisher nicht genügend gewürdigt wurde. Es fehlt etwas, das kompensiert werden muss. Wir versuchen unsere sozialen Defizite materiell auszugleichen. In materiellen Belangen jedoch gibt es nichts in uns, das signalisiert: Genug, es reicht, du bist abgesichert! In Sachen Eigentum hält uns kein Sättigungsgefühl zurück. Stattdessen quält uns der Impetus des „Immer mehr“. Wir werden dadurch schlicht einfach nicht auf die richtige, für uns notwendige Weise gesättigt. Absurderweise ist gerade deshalb, das kapitalistische Wirtschaftssystem zum „erfolgreichsten“ des Planeten geworden — mit den bekannten Folgen.

Was für unsere Natur einzig zählt, ist, dass jemand konkret wirksam wird und in der Not persönlich hilft.

Kurzer Exkurs zur KI

Was bisher Stoff für dystopische Science-Fiction war, scheint bald Realität zu werden: Dank künstlicher Intelligenz erhalten wir einen virtuellen Freundeskreis, perfekt auf unsere Bedürfnisse abgestimmt. Wieso sind ausgerechnet die „sozialen Medien“ so erfolgreich geworden? Es handelt sich um Surrogate, mit denen wir versuchen, die fehlenden oder entfremdeten sozialen Kontakte zu kompensieren — Ersatzdrogen für soziale Sehnsüchte.

Gerade jene Plattformen und Accounts boomen, die uns am überzeugendsten eine intime Welt des spontanen Miteinanders vorgaukeln. Unsere erste Natur geht ihnen nur allzu leicht auf den Leim. Doch wir brauchen analoge Resonanz, echte Menschen, sonst bleibt unsere erste Natur hungrig und hält uns im Teufelskreis des „Immer mehr“ gefangen, und die digitalen Megakonzerne machen gewaltige Gewinne mit dem Dealen von Pseudobeziehungen als Drogen.

Zwischen der psychischen Gesundheit des Menschen und der Gewissheit einer verlässlichen Realität, wie Ehrlichkeit, Menschlichkeit, Gewissenhaftigkeit, besteht ein wechselseitiger Zusammenhang.

Siehe auch in Joachim Bauer: „Realitätsverlust: Wie KI und virtuelle Welten von uns Besitz ergreifen — und die Menschlichkeit bedrohen“. Die Unterwerfung unter die totale Digitalisierung aller Lebensbereiche und der Abmarsch von immer mehr Menschen aus der Realität in die digitalen Räume des Internets sind keine Lösungen, sondern machen die Lage noch schlimmer. Sie machen uns Menschen zu einem kopflosen, weil verängstigten, leicht manipulierbaren Hühnerhaufen. Die Einsamkeit innerhalb unserer Gesellschaften hat bedenkliche Ausmaße angenommen. Einsamkeit aktiviert die Schmerz- und Stresssysteme, und der Gebrauch von schmerzstillenden Mitteln und Psychopharmaka ist enorm.

Der Kipppunkt, an dem die Systeme uns steuern anstatt umgekehrt, ist bereits erreicht. Hinter der Suggestion, dass künstliche Intelligenzen auf diesem Globus irgendwann die Geschäftsführung übernehmen werden, stehen Menschen, die mit diesen Systemen Macht ausüben und gute Geschäfte machen. Die digitale Mystik ist ihr Narrativ. Wir müssen aus der hypnotischen Passivität der Konsumenten herauskommen. Wir müssen die Steuerung über unser Leben bewahren beziehungsweise zurückgewinnen.

Die einzige Empfehlung für lohnenswerten Profit aus evolutionärer Perspektive ist: Investiert in Freundschaften und pflegt sie! Das meiste andere droht jenen hyperaktiven Konsumwahn zu befeuern, den unser Planet nicht mehr lange erträgt.

Teilen macht reich

Einen guten Ruf verdiente man sich bei Jägern und Sammlern durch Teilen. Das ist soziales Kapital. Andere Aktivitäten bauten dieses Ansehen aus: Weisheit, Mäßigung, Freundlichkeit und Hilfsbereitschaft. Dabei ging es um die Verlässlichkeit im Notfall. Diese Großzügigkeit wurde evolutiv gefördert.

Zahlreiche Studien zeigen, dass Großzügigkeit und Geben ein warmes Gefühl des Glücks vermitteln. Man wird durch Teilen reich, nicht durch Horten.

In der radikal veränderten Welt der Staaten wirkt das Bedürfnis nach Anerkennung fort. Doch die Spielregeln haben sich geändert. Die Reputation, die im Menschen gründete, wurde durch Status — Amt, Rang und so weiter — ersetzt. Der soziale Wert eines Individuums ist nun nicht mehr das Produkt seiner Taten, sondern resultiert aus Besitz oder Macht. Mit der prekären Konsequenz, dass der Status nichts darüber sagt, ob das Individuum die damit verbundene Anerkennung auch tatsächlich „verdient“ hat und die sozialen Erwartungen erfüllen kann.

Ein anderes Statussymbol — Geld —, auch eine Droge, die verheißt, ein evolutionäres Bedürfnis zu stillen, dieses Versprechen jedoch weder erfüllen will noch kann und deshalb das Bedürfnis nach mehr und mehr Geld umso stärker werden lässt.

Der Wechsel vom Streben nach Ansehen durch Teilen und große Taten, die der lokalen Gemeinschaft zugutekamen, zum Streben nach Status durch Anhäufen von Materiellem, ohne etwas zu verschenken, stellt insofern eine Verkehrung ins Gegenteil dar. Der Fokus ist nicht mehr auf dem Wir, sondern auf dem Ego. Das ist eine der problematischsten mentalen Veränderungen in der menschlichen Evolution gewesen.

Dadurch, dass wir unseren Hunger nach Sicherheit stillen, indem wir materiellen Reichtum anhäufen und unser soziales Leben vernachlässigen, wird der Teufelskreis des Konsums so stark beschleunigt, dass wir uns alle eines nicht allzu fernen Tages in die Hölle befördern könnten.