Ein neues Menschenbild

Bis heute gilt der Mensch als von Natur aus egoistisch, dabei ist diese Vorstellung hinlänglich widerlegt. Das exakte Gegenteil ist der Fall. Teil 1 von 4.

Im folgenden Text kommen grundsätzliche Beobachtungen und Fragen zu Wahrnehmungen unserer System- und Weltentfremdung zur Sprache. Sie beruhen auf der These, dass diese auch — oder vor allem — durch eine manipulierte und indoktrinierte Selbstentfremdung möglich wurden. Wollen wir nachhaltig an dieser Gesellschaft und unserem Leben etwas ändern, sollten wir uns — so die These dieses Textes — bewusster werden, wer wir im „Grund unseres Herzens“ sind und wie wir danach leben wollen.

Wokeness und Erwachen im Inferno

Schlagzeilen am Morgen. Wokeness, ein Begriff, der suggerieren will, dass aktuell jeder in einer Zeit der absoluten Bewusstheit für soziale und politische Ereignisse und Handlungen lebt. Doch seit einiger Zeit stelle ich fest, dass sich viele Menschen nach dem Erwachen und beim Durchlesen der morgendlichen Lektüre auf geradem Weg in die Postnormalität und von da dann weiter ins Inferno begeben.

Dass sich vieles dieser Woke-Agenda ins genaue Gegenteil verkehrt, haben die meisten Menschen inzwischen entsprechend irritiert zur Kenntnis genommen. Doch auch diese Agenda kann noch Steigerungen erfahren, durch Maßnahmen, die vor keiner Absurdität mehr Halt machen. In einem Artikel in strategic-culture (1) werden die Leser über wiederkehrende Vorstöße in die „neue Normalität“ informiert.

Zwei Beispiele dazu: Die Diskussion zu Tamponspendern auf Männertoiletten will offenbar kein Ende nehmen. Nun hat die kanadische Regierung offiziell die Installation von Tamponspendern auf Männertoiletten angeordnet.

Die empirische Tatsache, dass Männer keine Verwendung für Tampons haben, muss einer Ideologie weichen, die dogmatisch vorschreibt, dass auch Männer menstruieren. Dass Menschen, die glauben, ihre subjektive Selbstwahrnehmung habe Vorrang vor der Realität anderer Menschen, dazu befugt werden, ihre Rechte durchzusetzen, lässt sich noch als ein Akt der Toleranz verstehen. Was mich „triggert“, ist dieses Zelebrieren einer absolut einzigartigen Identität, das die Menschen immer mehr spaltet und sie vergessen lässt, was allen gemeinsam ist. Doch davon später.

Außerdem haben es sich inzwischen viele Menschen offenbar zur Gewohnheit gemacht, andere Menschen aufgrund ihrer subjektiven Geisteshaltung, welche einer dogmatisierten Woke-Ideologie zuwiderlaufen, allein wegen „gedanklicher Übertretungen“ anzuklagen.

In Großbritannien, dem Land, in dem Orwell seinen Roman „1984“ geschrieben hat, indem er den Begriff des Gedankenverbrechens einführte, erfolgte kürzlich eine Strafverfolgungsmaßnahme wegen Gedankenverbrechen. Isabel Vaughan Spruce wurde vor Gericht gestellt, weil sie lautlos vor Abtreibungskliniken gebetet hatte. Ihre Verhaftung wurde nicht durch Äußerungen oder Aktivitäten ausgelöst, sondern aufgrund eines Verhaltens, das rein geistiger Natur war.

Die britischen Behörden stellten ihr Recht auf Aufenthalt im öffentlichen Raum, in dem sie sich befand, nicht in Frage. Ihre Inhaftierung und die Strafverfolgung beruhte ausschließlich auf der Vermutung der Behörden dahingehend, was im Kopf dieser Frau in der Nähe der Abtreibungskliniken vorging. Nach Ansicht dieser Staats- und Gedankenwächter, die allein aufgrund ihrer Vermutungen zu den Gedanken dieser Frau entsprang — was nicht weniger ist, als eine mehr oder weniger infame Unterstellung bezüglich der Gedanken von Isabel Spruce während ihrer Gebete —, sei das, was sie sich bei ihren Gebeten gedacht habe, provokativ und beunruhigend für die Nutzerinnen dieser Klinik. Genauso gut — wenn nicht besser — könnten die Gebeten dieser Frau, zumindest auf einen Teil der Frauen dieser Kliniken beruhigend wirken.

Bis jetzt, gebe es im Common Law den Begriff der Gedankenübertretung nicht. Das britische Parlament habe einem solchen Vergehen bisher keinen gesetzlichen Ausdruck verliehen. Dennoch wurde eine mit Menschenrechten ausgestattete Person wegen objektiv unbeweisbarer Gedanken einer Verfolgung ausgesetzt, um eine rechtlich nichtexistierende Norm durchzusetzen, solche Praktiken habe nicht einmal der KGB angewendet.

Beim Lesen solcher Sätze drängt sich zwangsläufig die Vorstellung auf, dass jeder vielleicht schon in unmittelbarer Zukunft schutzlos der absoluten Willkür ausgesetzt ist. Reaktionen auf solche Nachrichten lassen sich mit Gelassenheit und Kopfschütteln noch halbwegs runterschlucken.

Doch das neue politische „Bewusstsein“ zeigt sich zudem von Seiten, denen nicht mehr zu entkommen ist, solange man noch fühlt.

Zwischen all diesen verwirrten und verirrten Nachrichten, die auf uns einstürzen in einer Zeit des „erwachten politischen Bewusstseins“, las ich auch eine kurze Notiz über den Ministerpräsidenten Palästinas. Er sei in Tränen ausgebrochen, als er darüber berichtete, wie die Kinder in Palästina fürsorglich ihre Namen auf ihre Körper schreiben, damit ihre Eltern sie beim Auffinden ihrer (…..) Leichen identifizieren können (2). Alle zehn Minuten sterbe in Gaza ein Kind.

Wohin sind wir gekommen, wenn wir dies auch nur für einen Augenblick hinnehmen? Ich irrte in der Wohnung umher und dachte: „Das überlebe ich nicht.“

Heute, einige Monate später, geschehen immer noch Tag für Tag Kriegsverbrechen jeder Art in Gaza — obwohl viele Widerstand leisten. Inzwischen sind es über 30.000 Opfer geworden, überwiegend Frauen und Kinder. Der Ukrainekonflikt eskaliert bedrohlich. Die Furchen, die dieser Krieg in unsere Gefühle und Gedanken gräbt, sind ebenso tief. (3)

Wie sehr verkrümmen sich Menschen, indem sie solche Berichte lesen? Hat sie dieses System mit seinen destruktiven Überzeugungen und Gesinnungen vollständig entmenschlicht?

Diese Ideologie ist in ihrer rücksichtslosen Dynamik des endlosen, quantitativen Wachstums und der Profitmaximierung im Neoliberalismus ausgereift bis zur höchsten Perversion. Es ist ein marktradikaler Umsturz in den Händen der großen Finanzorganisatoren, die fast alles besitzen und politisch fast alles steuern, um noch mehr zu besitzen und noch mehr zu dominieren.

Nicht nur äußerlich wird alles in den Ruin getrieben. Angefangen damit, dass wir inzwischen statt guter Produkte nur noch solche Defekte kaufen können, die innerhalb kürzester Zeit kaputt gehen oder von Anfang an nicht richtig funktionieren. Wie von Zauberhand verschwinden — bei stetiger Erhöhung von Gebühren — fortwährend Dienstleistungen. Die Verläufe dieser Prozesse, die den Abbau von Leistungen und Rechten vorantreiben, sind verlaufen immer dieselbengleich. Sie geschehen schleichend — bei gleichzeitiger offizieller Beteuerung, dass alle Reformen selbstverständlich zum Wohle der Bürger seien.

Unsere Ressourcen werden zugrunde gerichtet, die Böden und die Luft mit unendlichen Massen an Chemikalien und Müll vergiftet und zerstört. Unser Geist wird immerzu manipuliert, unsere Körper würdelos als Profitobjekte missbraucht, die monströse, gefräßige Kriegsindustrie braucht immer neue Kriege, um ihre geldgierigen Schlünde zu stopfen, und viele ihrer Waffen — und ausnahmsweise glücklicherweise — auch nur noch Ramsch sind.

Ein Verschleiß, der nicht monumentaler sein könnte, und ein faschistoides Verschmelzen von ökonomischer und politischer Macht. Zudem ein bio-politischer Sicherheitsstaat, der umfassend gegen Demokratie und Menschenrechte gerichtet ist. Machtbedürfnisse und die sie begleitenden Ängste sind unbegrenzt. In dieser Geldideologie, in der Menschen allein als Kapital in Negativ- und Positiv-Bilanzen definiert werden, in solchen Systemen richtet sich niemand mehr danach, was wir als Menschen und Bürger eigentlich brauchen.

Offenbar können sich die meisten von uns der Infiltration dieser destruktiven Ideologie, dieser zeitlich unbegrenzten Pandemie, der Skrupellosigkeit nicht wirklich erwehren. Wir sind auch innerlich derart gespalten durch das ständige Verlangen nach „Mehr“, einem permanenten Konkurrieren und Denunzieren und dem Fehlglauben, Konflikte seien mit Gewalt zu lösen.

Wir trauen unseren Empfindungen nicht mehr. Dieses barbarische Sektierertum der Profite und der Macht zersplittert uns auch innerlich. Die daraus resultierende, verinnerlichte Dynamik der Angst des Mangels, des Mangels an Erfolg, Ruhm, Macht, Geld und Konsumgütern, lässt uns offenbar immer weiter, immer schneller von uns weg, derart in die Irre und Ohnmacht laufen, dass die meisten von uns solche Ereignisse lautlos hinnehmen.

Was ist los mit uns, dass wir einen solchen Irrglauben, mit seinen alles verdrehenden Interpretationen, absurden Dogmen und einer daraus folgenden Inquisition wie Totalüberwachung, Zensur und grundrechtswidrigen Strafverfolgungen zulassen?

Mit der Hinrichtung des palästinensischen Volkes sind die letzten Maskierungen von Menschlichkeit der westlichen Eliteherrschaft — einer bedauernswerten Clique von sich selbst entfremdeten Marionetten — gefallen. Der absolute moralische Zerfall, spielt sich — hier im Westen — vor unseren Augen ab.

Wieso haben wir selbst dann noch Widerstände, offen Kritik anzubringen, wenn die Doppelmoral und Doppelzüngigkeit dieser Ideologie längst schon offen zutage liegen?

Wieso glauben wir immer wieder Blickweisen und Positionen, die außerhalb von uns selbst liegen? Weshalb nehmen wir Haltungen ein, die wir als Menschen weder vertreten wollen noch vertreten können? Wer von uns ist denn nun diejenige oder derjenige, die/der mit diesen Positionierungen der Unmenschlichkeit identisch ist? Wir wissen es: Wir alle sind es „im Grunde unserer Herzen“ nicht.

„Wo aber Gefahr ist, wächst das Rettende auch.“

Das Zitat stammt aus Hölderlins Patmos-Gedicht, das er 1803 in einer seiner glühenden Schaffensphasen verfasste. Die ersten vier Strophen des Gedichts lauten: „Nah ist / Und schwer zu fassen der Gott. Wo aber Gefahr ist, wächst / Das Rettende auch.“ Auf der griechischen Insel Patmos im Ägäischen Meer kam der Seher Johannes nach dem Zeugnis des Neuen Testamentes zu seiner Vision eines neuen Himmels und einer neuen Erde. (Off1,9: 21,1).

Hölderlin nimmt mit diesem Hymnus offenbar nicht nur Abschied von einer bedeutenden, die Vergangenheit beschwörenden Geschichte des christlichen Glaubens, sondern ebenso lässt sich die von ihm geliebte griechische Götterwelt nicht einfach neu beleben.

Gott ist nah, sagt er, doch das Göttliche bleibt für uns Menschen schwer zu fassen, gerade weil es den Menschen so nah ist. Deshalb kann es gänzlich verloren gehen. Darin sieht Hölderlin die große Gefahr seiner Zeit. Friedrich sieht sich in einer gottverlassenen Welt, die dem Ende nahe scheint. Doch schon in der ersten Strophe lässt er auch Zuversicht aufscheinen.

Wo aber wächst das Rettende?

Er weitet seinen Blick. Sein Wissen um das Göttliche in der Welt, ja im Menschen ist nicht verloschen. Zunächst nimmt er die Vielfalt des Wissens der verschiedenen Religionen und Kulturen wahr. Wie verschiedene erhabene Berge stehen sie reihum und manche leichtgebaueten Brücken führen diese Berge — über den Abgrund der Geschichte — bisweilen doch zusammen. In einer Zusammenschau, die immer mehr sieht als das, was uns nur das Eigene aufzeigt, öffnet sich für Hölderlin das Neue.

Rettend ist, was das Trennende überwindet!

Friedrich überarbeitet sein Gedicht, sein Blick vertieft sich. In einer späteren Fassung lauten die ersten vier Zeilen: „Voll Güt ist. Keiner aber fasset / Allein Gott. / Wo aber Gefahr ist, wächst / Das Rettende auch.“ Hier zeigt sich nun eine befreiende Gewissheit. Doch allein wird niemand das Geheimnis fassen können. Wenn wir allein sind, bleiben wir einer großen Gefahr ausgesetzt. Wir alle brauchen einander, unsere Gegenwart benötigt gemeinsame Suchbewegungen. Sie allein eröffnen uns erhellende Sichtweisen auf das Göttliche beziehungsweise das Menschliche, die Welt und unser Leben.

Für Friedrich Hölderlin, dessen 250. Geburtstag sich vor drei Jahren, zu Beginn der Coronapandemie jährte, lag die Zukunft letztlich in der Offenheit, Unverfügbarkeit und verbindenden Schönheit der Poesie. Sie bewegt uns, weil sie Wahrheiten ausspricht, die uns tief berühren, in unsere Herzen hineinfinden.

Wir sind mitten drin in den gemeinsamen Suchbewegungen.

Wenn wir einen „neuen Himmel und eine neue Erde“ schaffen wollen, sollten wir auch damit beginnen, uns selbst besser zu verstehen.

Erfahrungen und Erkenntnisse aus verschiedensten Richtungen und Kontexten machen für uns sichtbar, was uns Menschen wirklich trägt: Nicht nur religiöse Narrative, diese ergreifenden Botschaften aus Bildern, Symbolen und Geschichten, die uns begleiten, seit wir existieren, erzählen immer wieder von Neuem, wer wir als Menschen sind, was wir brauchen und ersehnen.

Vielen von uns bleiben diese Botschaften fremd. Denn mit ihrer Formierung zu wichtigen religiösen Bewegungen wurden sie in Institutionen eingebunden und an Dogmen gefesselt; gingen sie verhängnisvolle Liaisons mit Herrschenden, mit Macht und Geld ein und wurden und werden dadurch ständig überschattet und korrumpiert.

Doch da sind Menschen wie Eugen Drewermann, der uns unermüdlich und mutig nahebringt, wie uns religiöse Poesie angstfrei und menschlich machen kann.

Uns begleiten wunderbare spirituelle Traditionen, wie die mystischen Sufis, die geistreichen indischen Traditionen in der Gefolgschaft eines Mahatma Gandhi, die erhellenden Erkenntnisse der buddhistischen Überlieferungen sowie die um die Selbsterkenntnis kreisenden Weisheiten des Zen-Buddhismus.

Derzeit entstehen motivierende neue spirituelle Bewegungen, wie beispielsweise die spirituell-ökologische Bewegung „Das Manifest der neuen Erde“, mit sprühenden Impulsen die zu einem neuen Welt- und Selbstverständnis anregen. Ein neues Weltverständnis, das sich klar und eindeutig positioniert: „Der Staat, die Wirtschaft und das Geld haben der Entwicklung der Menschen zu dienen und nicht umgekehrt!“ Das Manifest enthält auch viele wissenswerte Fakten zu Ökologie und Ökonomie.

Manche Initiativen von Einzelnen, wie von einem „SEOM“, der mit seinen Rap-Songs, mit seinen klugen Podcasts und seinem bewundernswerten Elan „im Zeichen des Guten“ mir noch viel beibringt. Oder die wundervolle Songwriterin Tash Sultana, die nachdem sie eine tief greifende Krise überlebte, den Jugendlichen zeigt, wie man in diesem unerbittlichen System („Blame it on society“) trotz allem überleben kann — und riesige Stadien damit füllt. Indem man sich auf das konzentriert, was einem wirklich guttut.

Und mehr und mehr berichten uns andere Blickweisen, wer wir als Menschen sind. Es entstehen neue Brücken, zu den Erkenntnissen, die das zusammenführen, was uns ganz macht. Andere Pfade, die wir gehen können, um uns in unserer Menschlichkeit zu finden, und neue Wege, die uns zurückführen, falls wir uns verrennen.

Die Neurowissenschaft und Neurobiologie — welche durch die Entdeckung der Spiegelneuronen nochmals eine grundsätzliche Erweiterung erfuhren — vermitteln uns immer deutlicher, wie wir als Menschen tatsächlich sind. Sie zeigen uns ein diametral anderes Bild des Menschen als Darwins Fragment des Menschen, der nur ein „Wesen im Kampf ums Dasein“ sah.

Auch die sozialdarwinistische Fiktion der „egoistischen Gene“, die uns steuern sollen, ist unwiederbringlich widerlegt. Doch solche Überzeugungen, haben sich — gegen jedes Empfinden — fast in all unseren Köpfen irgendwo eingenistet. Was uns Joachim Bauer in seinen inzwischen 13 Büchern erklärt, ist wegweisend. Wegweisend anders. Er führt uns an ein diametral anderes als das darwinistische Verständnis des Menschen heran und schenkt uns ein — wissenschaftlich fundiertes — neues und umfassendes Verständnis von uns als Menschen. Die Arbeit des engagierten Arztes, Psychotherapeuten und Neurowissenschaftlers lässt sich kaum ausreichend würdigen.

Intro

Eine umfassende Abhandlung der neurobiologischen Erkenntnisse in den — auch für Laien — gut verständlichen Büchern von Joachim Bauer lässt sich an dieser Stelle nicht leisten. Mich erstaunt, dass die Bücher von Bauer so selten rezipiert werden. Obwohl die beiden Werke, die ich hier vorstelle, schon seit Jahren vorliegen, waren mir diese Erkenntnisse weitgehend unbekannt. Ich nehme an, dass dies auf viele Leser meines Textes ebenfalls zutrifft.

Bei den folgenden Ausführungen beziehe ich mich vorwiegend auf die beiden Bücher: „Warum ich fühle, was du fühlst“, Intuitive Kommunikation und das Geheimnis der Spiegelneurone und „Prinzip Menschlichkeit“, warum wir von Natur aus kooperieren.

Die Ideologie, dass der Mensch in der Welt vor allem „im Kampf ums Dasein“ steht und damit dem absolut vorrangig gesetzten Überleben dient, durchkreuzt Joachim Bauer mit seinen Büchern. Er liefert uns Erkenntnisse dazu, dass uns Zuwendung und Kooperation vielleicht noch wichtiger als das Überleben sind.

Und: Solange du fühlst, was ich fühle ,wird es auf die Dauer keiner Elite gelingen, uns in ein System zu zwingen, dass haltlose Ungerechtigkeiten, Unfreiheiten und Unmenschlichkeiten errichtet.
Doch: Wenn sie unsere Natur beseitigen könnten oder zumindest unsere Gesundheit beziehungsweise unsere Widerstandskraft dann…. . Wie verlockend ist diese Vision für diese Clique von angstgesteuerten, herzlosen Kleingeistigen!

Im Buch „Warum ich fühle, was du fühlst“, erklärt Bauer vor allem die Funktion der Spiegelneurone und deren Auswirkungen auf unser „Menschsein“. Mit diesem Buch betritt der Leser ein ganz anderes Universum, als dasjenige, das uns unsere festgefahrenen Ansichten und ein desillusionierter Umgang mit unseren Mitmenschen vorgibt.

Spiegelneurone sitzen in einer speziellen Region der Hirnrinde. Es sind Nervenzellen, sogenannte intelligente Handlungsneurone (Handlungsnervenzellen). Wenn der Mensch eine Handlung ausführt, beginnt die Aktion mit einem bioelektrischen Signal einer dieser Nervenzellen, die für diese bestimmte Handlung zuständig ist. Das besondere an diesen Zellen ist: Sie feuern nicht nur dann, wenn wir die Handlung selbst ausführen, sondern genau dieselben Zellen feuern auch dann, wenn wir beobachten, wie jemand anders die Handlung ausführt!

Wir alle verfügen über eine neurobiologische Resonanz zu den Handlungen unserer Mitmenschen!

Wenn wir bei anderen eine Handlung wahrnehmen, werden unweigerlich auch unsere eigenen Spiegelneurone auf den Plan gerufen. Dieser Vorgang der Spiegelung passiert simultan, unwillkürlich und ohne jedes Nachdenken. Von der wahrgenommenen Handlung wird eine interne neuronale Kopie hergestellt, so als vollzöge der Beobachter die Handlung selbst. Eine Beobachtung löst also in einem Menschen eine Art innere Simulation aus. Die Wahrnehmung eines anderen Menschen besteht natürlich nicht allein aus innerer Simulationen, aber sie bezieht diesen wichtigen Aspekt mit ein.

Demzufolge haben wir mit dem System der Spiegelneuronen eine Hirnstruktur, die uns selbst Handlungen anderer unmittelbar und intuitiv nachfühlen und verstehen. Wir empfinden ständig mit, was durch andere um uns herum geschieht. Zwischen Menschen, die miteinander in Kontakt stehen, stellt sich von selbst eine kontinuierliche, gleichlaufende Aufmerksamkeit ein. Wir sind gefühlsmäßig konstant miteinander verbunden, zwangsläufig miteinander verflochten. Zwischen „Mein und Dein“ gibt es in unseren Gehirnen keinen kategorialen Unterschied.

Allein aus diesen Erkenntnissen lassen sich schon Vorstellungen ableiten, was für uns Menschen „artgerechte“ gesellschaftliche Verhältnisse wären.

Schmerz, Leid, Unglück und Ungerechtigkeiten, die wir beobachten, betreffen uns unmittelbar und unkontrollierbar selbst. Wir können uns nicht einfach von der Not der anderen abwenden. Unser Gehirn macht das offenbar — selbst wenn wir es wollten — nicht mit.

Zwar sei Empathie, nicht bei allen Menschen, in gleicher Weise ausgeprägt, doch sie gehört zu unserer Grundausstattung. Nirgendwo zeige sich so deutlich, wie bei den Spiegelsystemen, welche Bedeutung zwischenmenschliche Beziehungen für die Biologie unseres Körpers haben. Eigenschaften und Fähigkeiten wie die Empathie entwickeln sich dann, wenn die seitens der Gene bereitgestellten Anlagen durch zwischenmenschliche Beziehungen und soziale Interaktionen in geeigneter Weise aktiviert und gefördert werden.

Geglückte Spiegelungen und das auf dieser Basis entstehende Gefühl der Bindung führen auch zu einem Ausstoß körpereigener Opioide. Dies erklärt nicht nur, warum zwischenmenschliche Zuwendung Schmerzen erträglicher macht, sondern auch, warum wir neurobiologisch auf Bindung geeicht sind.

Unser Spiegelsystem kann, was die rationale Analyse nicht kann, und es macht es unwillkürlich, ohne jedes Nachdenken: einen Menschen aus Anteil nehmenden Gefühlen heraus verstehen.

Diese andere Art des Verstehens ist — laut den Erkenntnissen der Hirnforschung — für uns so existentiell, dass wir krank werden, wenn wir keine Zuwendung mehr erfahren.

Zuwendung, Gefühle des „Wahrgenommenwerdens“ sind für uns überlebenswichtig. Empathie ist eine natürliche Grundstruktur unserer Gehirne und eine unerlässliche Ausdrucksweise unseres Seins. Alles, was wir überhaupt tun, tun wir schlussendlich allein für die Gefühle der Zuwendung, des „Wahrgenommenwerdens“, der Liebe. Und:

Aus neurobiologischer Sicht besteht aller Grund zur Annahme, dass kein Apparat und keine biochemische Methode den emotionalen Zustand eines anderen Menschen jemals so erfassen und beeinflussen kann, wie es durch den Menschen selbst möglich ist.

Selbstverständlich lässt sich diesen intuitiven, natürlichen Vorgängen etwas entgegensetzen. Bewusste Vorstellungen von den Motiven, Eigenschaften und Absichten anderer Menschen, die wir durch Nachdenken erzeugen, verdanken wir einem zweiten System, welches seinen Sitz im Stirnhirn, dem sogenannten präfrontalen Cortex hat. Dieses wird, sobald es von Druck und Angst begleitet wird, zum Gegenspieler des Spiegelsystems.

Untersuchungen haben gezeigt, dass Angst, Anspannung und Stress die Signalrate der Spiegelneurone massiv reduziert. Bei Druck und Angst klinkt sich alles, was vom System der Spiegelneurone abhängt, aus! Siehe Propaganda durch Angsterzeugung. Das Vermögen, sich einzufühlen, andere zu verstehen und Feinheiten wahrzunehmen, verblasst. Mitmenschlichkeit schwindet und auch die Fähigkeit zu lernen werde blockiert. Offenbar bewirkt Angst, Druck und Panik in unserem Gehirn eine Blockade, die intuitiv richtige und vernünftige Erkenntnisse unterbindet!

Hier setzen Ideologien, Glaubenssätze und Manipulationen an, die meist mit Ängsten unterfüttert werden/sind.

Welch ein wirkungsvolles Mittel der Manipulation Angst ist, wurde bereits vielfach in anderen Kontexten erwähnt. Angst als Mittel für die Propaganda der Mächtigen durchzieht die Geschichte von den Beinhauskapellen und der „Strafe Gottes“ des Mittelalters bis aktuell zu den lückenlos folgenden angstbesetzten Ausnahmezuständen von Terror, Pandemien und Krieg. Rainer Mausfeld entlarvt die Angst in seinen Büchern immer wieder als die Herrschaftstechnik kapitalistischer Demokratien.

Grundlegend lässt sich sagen, dass jede Form von Konkurrenz, Kampf und Isolation, Ängste aller Art und reaktiv den Wunsch nach immer mehr Macht, Geld, Sicherheit und so weiter beflügeln und jede Form von Kooperation und Zuwendung Ängste abklingen lässt.

Auch unsere Sprache ist Teil dieses Resonanzsystems. Die phänomenale Fähigkeit der Sprache, sich mit Mitmenschen schnell und intuitiv verständigen zu können, beruht auf den neuronalen Resonanzphänomenen. Ohne die durch die Spiegelneurone vermittelte Resonanz wäre die Sprache nicht jenes schnelle, hochwirksame Mittel, um Vorstellungen, die wir selbst haben, in andere Menschen einzuspiegeln.

Die Sprache verfügt über ein erheblich suggestives Potential. Deshalb kann man Gruppen von Menschen oder auch Individuen vermutlich über entsprechende Schlagwörter äußerst schnell und wirkungsvoll diffamieren. Solche Wörter verursachen in unserem Gehirn — stelle ich mir vor — ein „automatisiertes“ Empfinden dafür, wer oder was sie oder er ist. Was äußerst gefährlich ist, denn wir werden dann von unseren (Wut)Gefühlen aktiviert und gesteuert.

Auf dieselbe Art verdreht, — was momentan in großem Umfang geschieht —, lassen sich offenbar Rechtfertigungen für äußerst bedenkliche Handlungen schaffen. Man denke unter anderem an Annalenas Spruch: „Wir werden mit Waffen Frieden schaffen.“ Vor allem Politiker arbeiten mit Wörtern und Sätzen, die nur noch affektive Appelle sind. Auf diese Weise geschieht wohl das, was Rainer Mausfeld beschreibt: Dass die Befähigung, überhaupt noch irgendwelche Überzeugungen zu bilden, blockiert wird.

Wenn ehrliche, differenzierte und gründliche Debatten und Diskurse fehlen oder zensuriert werden und stattdessen, mit sinnentleerten Wörtern, Sinnfetzen, Parolen und maßgeschneidert diffamierenden Narrativen gezielt gewisse Affekte erzeugt werden, ist es nicht mehr möglich eine geistige Ordnung zu schaffen, einem vernünftigen Denken Raum zu geben. Der politische Raum wird durch Manipulationen dieser Art entleert und der Demokratie damit das Fundament entzogen.

Im Buch „Prinzip Menschlichkeit“ wendet sich Joachim Bauer auch den gesellschaftlichen Konsequenzen zu, die den neurobiologischen Erkenntnissen folgen sollten.

Dazu führt er als Ausgangspunkt und Grundlage ausführlich in Darwins Denken und Wirken ein. Er schildert, wie sehr sich die darwinsche Ideologie als Triebfeder für eine zerstörerische Entwicklung der Geschichte erwies. Ausführlich beschreibt Bauer, wie sich aufgrund von Darwins Büchern schon im Vorfeld des Nationalsozialismus ein „Rassendenken“ breit machte.

Es sei erstaunlich, wie es unter Bezugnahme auf Darwin innerhalb weniger Jahrzehnte — ausgerechnet mithilfe der Medizin — gelingen konnte, die wesentlichen ethischen Grundlagen unseres Zusammenlebens auf den Kopf zu stellen und die Voraussetzungen dafür zu schaffen, dass sich ein verbrecherisches Regime, das mit dem Recht des Stärkeren, mit der Auslese „Minderwertiger“ und mit dem Krieg der „Rassen“ ernst machte, als wissenschaftlich und moralisch legitimiert darstellen konnte. Bei der vordergründigen „Wokeness“ hat sich meiner Meinung nach am Überlegenheitswahn der westlichen Nationen nicht viel geändert.

Dieses „alte Denken“ Darwins habe mit der Soziobiologie und ihrem fiktiven Konstrukt des „egoistischen Gens“ eine erschreckend wirkungsvolle Wiederauferstehung erlebt. Seine Bedeutung erhalte es unter anderem als implizite, jedoch pseudowissenschaftliche Begründung des derzeit weltweit herrschenden ökonomischen Systems.

Bauer weist zurecht darauf hin, welche Macht von Menschenbildern ausgeht. Vorstellungen darüber, „wie oder was der Mensch ist“, sind dogmatische Annahmen, die nicht nur bestimmen, wie wir uns selbst und andere sehen, sondern auch wie wir miteinander umgehen. Sie haben weitreichende Auswirkungen darauf, wie wir leben, wonach wir streben und welche politischen und wirtschaftlichen Systeme wir uns überstülpen lassen.

Darwins Aussagen lassen sich dahingehend zusammenfassen, dass der Prozess der Auslese unter dem Druck des Überlebenskampfes — und sonst nichts — die treibende Kraft für die Entwicklung der Arten von „niederen“ zu „höheren“ Wesen gewesen sei. So seien die wichtigsten biologischen Grundregeln: der „war of nature“ (der Krieg der Natur), der „struggle for life“ (der Kampf ums Überleben), sowie die Aussonderung der Schwächsten und Auslese der Tüchtigsten. Die biologische Grundeigenschaft aller Lebewesen, der Mensch eingeschlossen, war für Darwin der Wille, gegeneinander ums Überleben zu kämpfen. Dieses Denken unterschied sich von der Ethik der Aufklärung, die letztlich auf dem Boden der christlichen Tradition blieb, welche das Recht eines jeden Lebens und die Pflicht zur Unterstützung der Schwachen hervorhob.

Kooperation, Zusammenhalt und gemeinschaftliches Handeln ordnete Darwin als Hilfssysteme ein, die sich ausschließlich aus dem Kampf ums Überleben heraus entwickelt hätten und die nur im Dienst dieses Kampfes stünden. Damit habe Darwin den Grundstein für ein neues Menschenbild gelegt und zugleich eine Ersatzreligion mit weit reichenden Folgen ins Leben gerufen, so Bauer. Das bis heute nachwirkende Zeitalter des Darwinismus war geboren.

Aus meiner Sicht hat sich bei den meisten von uns dieser „Glaube“ in irgendwelchen Nischen unserer Köpfe eingenistet.

Die Faszination des Darwinismus lag nicht nur in seinem revolutionären Verständnis der Naturgeschichte, sondern vor allem in dem Versuch, das Zusammenleben der Menschen, die Ethik und Moral auf ein neues, scheinbar wissenschaftlich begründetes Fundament zu stellen. Das, was Darwin und seine Anhänger für die Regeln der biologischen Evolution hielten, sollte zugleich die Basis jener Regeln sein, nach denen Menschen ihr Zusammenleben einrichten, was bis heute gelte, so Bauer.

In Fragen des Menschenbildes — obwohl von vielen renommierten Wissenschaftlern angezweifelt — beherrsche der Darwinismus bis heute den orthodoxen biologischen Kanon. Was die Naturwissenschaftler der westlichen Länder hinsichtlich der Natur des Menschen derzeit offiziell vertreten, stünde in zwei Büchern, die zur Grundlage der Denkschule der sogenannten Soziobiologie wurden. Darunter das Buch „Das egoistische Gen“, von Richard Dawkins: Antriebsfeder allen Lebens sei das Ziel der Gene, sich selbst maximal zu vermehren und sich gegen die Konkurrenz der Gene anderer durchzusetzen. Dieser Denkschule gelang es, Darwins „war of nature“ auf eine neue Stufe zu heben: Organismen und Individuen verschwinden hinter dem Schauplatz ihrer Gene im Kampf ums Überleben. Sie sind nur noch diesem Kampf der Gene dienlich und verpflichtet.

Das anthropologische Modell eines primär selbstsüchtigen, nur zum Zwecke des Eigennutzes kooperativen, letztlich aber nur auf den Kampf ums Überleben programmierten Menschen wurde mit der Soziobiologie auf eine scheinbar unangreifbare Weise weiter zementiert. Wir könnten allenfalls noch vermuten, was wir als Individuen tatsächlich wollen. Doch was wissen wir schon darüber, was unsere Gene wollen?

Wissenschaftler, die auch nur leise Zweifel zu äußern wagen und Fragen an Darwins Selektionsverständnis stellen, machen Erfahrungen, wie sie Häretiker bei religiösen Glaubenswächtern oder Dissidenten in autoritären Regimen erleben. Es scheine zu einem gewissen Reflex mancher wissenschaftlicher Meinungsführer geworden zu sein, jedes kritische Nachdenken über Darwin mit hysterischer Aufgeregtheit zu beantworten.

Darwinistisches Denken sei zu einer Form von „scientific correctness“ geworden. Dies erscheint vor dem Hintergrund der geschilderten Fehlentwicklungen, die sich in den Wissenschaften — vor allem in der Medizin — aus Darwins Denken ergeben haben, mehr als bedenklich. Warum so fragt Bauer, muss alles, was an wissenschaftlichen Daten vorgelegt wird, in die darwinistische Denkschablone eingepresst werden?

Für die Leser, die mir bis hierhin folgten, drängt sich die Antwort wohl auf: Vermutlich, weil sie die kapitalistische Ideologie zementiert.

Joachim Bauer führt uns mit seinen Büchern in ein Milieu, das sich für uns stimmiger anfühlt: Menschen sind biologisch gesehen in keiner Weise, sich im ständigen Kampf befindliche, von ihren egoistischen Genen gegen andere gerichtete, getriebene Wesen. Die Neurobiologie beschreibt den Menschen als ein Individuum, dessen zentraler Antrieb auf Zuwendung und gelingende mitmenschliche Beziehungen gerichtet ist.

Nicht nur aus Sicht der Neurobiologie, auch aus dem Blickwinkel der Genetik ergebe sich eine Perspektive, die sowohl dem Denken Darwins als auch der Soziobiologie in zentralen Punkten widerspreche. Gene seien alles andere als egoistisch. Sie funktionieren als die biologischen Kooperatoren und Koordinatoren.

Die Annahme, dass Konkurrenz und Kampf die primären inneren Triebkräfte sind, die das Verhalten lebender Systeme steuern, sei schlicht falsch.

Herausragende Wissenschaftler im Bereich der Biologie und der Medizin, sind der Meinung, Begriffe wie „Konkurrenz“ und „Überlebenskampf“ seien menschliche Konstruktionen, die dem Wirtschaftsleben entnommen und von außen an die Biologie herangetragen worden sind! Die Biologie kenne kein Erfolgsdenken, wie es die Wirtschaft beherrscht. Für die Natur sind derartige Kriterien irrelevant!

Das heutige Bild, das die Neurobiologie vermittelt, unterscheidet sich erheblich von dem naturwissenschaftlichen Bild der vergangenen Jahrzehnte. Vor allem in den letzten Jahren, möglicherweise im Zuge des Neoliberalismus, werden wieder Ideen propagiert, die eine ausschließlich auf Konkurrenzkampf und den Erfolg der angeblich Tüchtigsten gegründeten Gesellschaft verwirklichen wollen.

Derart verfälschten Ideologien steht die neurobiologische Entdeckung und Wirkungsweise der Motivationssysteme, der „Antriebsaggregate“ des Lebens klar entgegen.

Die Struktur, die sich als Kern des Motivationssystems herausstellte, hat ihren Sitz im Mittelhirn. Sie ist über Nervenbahnen mit vielen anderen Hirnregionen verbunden, von denen sie entweder Informationen erhält oder an die sie Impulse weitergibt.

Mit den Emotionszentren bestehen besonders enge Nervenfaserschaltungen. Informationen, die von dort eintreffen, melden dem Motivationssystem, ob die Umwelt Ziele in Aussicht stellt, für die sich der Einsatz lohnt.

Welche Voraussetzungen müssen nun erfüllt sein, damit die Motivationssysteme ihre Botenstoffe freigeben? Verlangen und Antrieb allein sind sinnlos, wenn keine Bedingungen definiert sind, unter denen diese Kräfte in Gang gesetzt werden. Zudem muss geregelt sein, wohin die Energie des Antriebs gehen, wozu sie dienen soll.

Anders gefragt — was sind aus Sicht des Gehirns — Ziele, für die es sich einzusetzen lohnt? Unser Antrieb schaltet ab, wenn keine Chance auf soziale Zuwendung besteht, und springt an, wenn das Gegenteil der Fall ist, wenn Wertschätzung und Liebe im Spiel sind. Angestrebte Ziele sind also Wohlgefühle, die durch Liebe, Zuwendung und Wertschätzung entstehen. Befriedigende soziale Kontakte sind für uns überaus wichtig, weil über längere Zeit vorenthaltene soziale Kontakte den Kollaps der Motivationssysteme des Gehirns zur Folge haben.

Kern aller Motivation ist es, zwischenmenschliche Anerkennung, Wertschätzung, Zuwendung oder Zuneigung zu finden und zu geben. Nichts aktiviert die Motivationssysteme so sehr, wie der Wunsch, von anderen gesehen zu werden, das Erleben positiver Zuwendung und — erst recht — die Erfahrung von Liebe.

Alle Ziele, die wir im Rahmen unseres Alltags verfolgen, Ausbildung, Beruf, finanzielle Ziele und Anschaffungen und so weiter, haben aus der Sicht unseres Gehirns ihren tiefen, uns meist unbewussten „Sinn“, dass wir damit letztlich auf zwischenmenschliche Beziehungen zielen, das heißt, diese erwerben oder erhalten wollen. Das Bemühen des Menschen, gesehen zu werden, Zuwendung zu erhalten, stehe noch über dem, was landläufig als Selbsterhaltungstrieb bezeichnet wird.

Warum wir ohne Liebe nicht leben — und nicht gesund bleiben können — und welchem Zweck die Aggression dient, erschließt sich aus Erkenntnissen, die wir den modernen Neurowissenschaften verdanken. Zwischenmenschliche Zuwendung und Liebe aktivieren das Motivationssystem, stimulieren die entsprechenden Botenstoffe, lassen uns gut fühlen und wecken die Lebensgeister. Angenehme Gefühle sind etwas, wofür wir uns gerne anstrengen. Wo soziale Isolation, Einsamkeit oder Probleme mit der Liebe das Motivationssystem der Betroffenen nicht mehr hinreichend aktivieren, dort fehlen dem Körper die Botenstoffe, ohne die jede Lebenslust erlahmt — bis hin zum Lebensüberdruss.

Längere Einsamkeit oder soziale Isolation schwächen das Immunsystem und erhöhen das Krankheits- und das Sterberisiko. Und mindestens ebenso toxisch sei erlebte Diskriminierung. Das Erleben sozialer Ausgrenzung rufe nicht nur irgendwelche flüchtigen negativen Gefühle hervor, sondern hinterlasse in den Betroffenen auch eine biologische Spur.

Daraus folgt: Auch auf diese Weise findet ein Angriff auf unser körperliches und seelisches Wohlbefinden statt.

Neben den bekannten Drogen habe sich auch Geld zu einem potenten Stimulus des Motivationssystems entwickelt.

Weil Geld dem Menschen suggerieren kann, das zu ersetzen, was ihm so oft fehlt: Anerkennung, Zuspruch, Liebe.

Auch das Thema Aggression behandelt Bauer kurz. Dass Aggression im Sinne eines Aggressionstriebes beim Menschen unvermeidlich sei, stimmt nicht. Hierin hätten sich sowohl Konrad Lorenz als auch Sigmund Freud geirrt. Aggression sei, wie die Angst, ein evolutionär entstandenes, bei Bedarf abrufbares Emotion- und Handlungsprogramm, dessen Funktion darin liege, den eigenen Organismus vor körperlichen Angriffen und unangenehmen Erfahrungen zu schützen.

Auch Aggression stehe vor allem im Dienst sozialer Beziehungen und diene deren Verteidigung. Sie kommt immer dann ins Spiel, wenn Bindungen bedroht sind, wenn sie nicht gelingen oder fehlen. Menschen, die eine für sie wichtige Beziehung gefährdet sehen, denen Vertrauen entzogen wird oder die aus einer Gemeinschaft ausgeschlossen werden, reagieren mit Aggression. Der Zusammenhang zwischen Bedrohungsgeschehen und Aggression sei neurobiologisch nachweisbar. Vertrauen schafft Vertrauen. Misstrauen und Ablehnung begünstigen Aggression.

Joachim Bauer führt sein Buch mit einer Bemerkung zu einem bedenklichen Aggressionspotential ein, das spürbar und unübersehbar unsere Gesellschaften hier im Westen durchzieht und aufgrund dessen die Zukunftsprognosen alles andere als hoffnungsvoll seien.

Daher erstaunt die allgemein wahrnehmbare Tendenz nicht mehr, möglichst viel Spaltung in die Gesellschaft hineinzutragen, die Menschen vereinzelt, und dadurch sowohl das Aggressionspotential erhöht, als auch die Motivation lähmt, gegen gesellschaftliche und politische Missstände aufzustehen.

In einer Welt, in der die Menschen immer zersplitterter, einsamer, isolierter werden, in welcher Lebensvollzüge unter der fortschreitenden „Verunmöglichung von Beziehungen, von Zuwendungen und Liebe“ leiden; in welcher menschliche Werte immer mehr zum Verschwinden gebracht und durch ein digitales, resonanzloses und technokratisches System ersetzt werden; in einer Welt, in der mit Gefühlen nur noch falsch gespielt, mit gezinkten Karten operiert wird, entstehen vermutlich riesige Aggressionspotentiale, die danach drängen, sich irgendwo und irgendwie zu entladen und auch eine an sich unfassbare Kriegshysterie erklären.

Sind Menschen aus der neurowissenschaftlich begründeten Perspektive zu einem Zusammenleben, das dem Leitgedanken einer „neuen Aufklärung“ folgt, auch fähig? Sind wir Menschen für das „gute Leben gemacht“? Liegt die Bestimmung des Menschen im gerechten, von gegenseitiger Menschlichkeit und Empathie geleiteten sozialen Zusammenleben? Oder sind wir aus biologischer Sicht für ein Leben unter dem Vorzeichen des Egoismus bestimmt, wie es einige Evolutionsbiologen unter dem Schlagwort „egoistische Gene“ behauptet haben und wie Theoretiker des Neoliberalismus und in ihrem Fahrwasser operierende Politiker uns weismachen wollen?

Die Antworten, die sich aus heutiger Sicht dazu geben lassen, sind eindeutig.

Joachim Bauer meint dazu: Wir brauchen vermutlich noch einige Zeit, bis wir erkennen, was diese neurobiologischen Erkenntnisse für unser Leben und für die Art, wie wir unser Zusammenleben in optimaler Weise gestalten und ordnen, bedeutet. Ich ergänze die Frage: Wie gestalten wir unser persönliches, gesellschaftliches und politisches Zusammenleben so, dass wir die grenzenlosen, destruktiven Selbstentfremdungen zurücknehmen und zu uns selbst finden?