Ein Kurs im Wandel

In einem Onlineseminar vermittelt der Friedensarbeiter und Autor Martin Winiecki umfassende Erkenntnisse aus der jahrelangen Arbeit vieler Aktiver, die für einen Systemwechsel eintreten.

„Der slowenische Philosoph Slavoj Žižek sagte sinngemäß, es sei einfacher, sich das Ende der Welt vorzustellen als ein Ende des Kapitalismus. Gleichzeitig steht jeder von uns — ob bewusst oder unbewusst — vor demselben Dilemma: Entweder er hilft, das System zu verändern, oder er ist Teil des Problems. Aber wie kann man in einer Welt, die so vollständig vom Kapitalismus kontrolliert wird, aus diesem System aussteigen oder es transformieren?“ (1). Martin Winiecki widmet seine Arbeit diesen Fragen und stellte einen Kurs mit dem Wissen aus verschiedensten Fachbereichen und Regionen der Welt zusammen. Eine Rezension.

„Wie kann man eine Vorstellung von einer postkapitalistischen Welt entwickeln, wenn die Logik des Kapitals nicht nur Wirtschaft und Politik kontrolliert, sondern sogar einen Großteil unserer eigenen Verhaltensweisen und Träume?“ (1).

Martin Winiecki ist gerade einmal Anfang 30, doch bereiste bereits viele Krisengebiete in Kolumbien, Brasilien, im Nahen Osten und Indien. Er traf viele Aktivisten verschiedener Projekte aus aller Welt und vernetzte sie in der „Defend The Sacred“-Allianz. Die Erkenntnisse aus der jahrelangen Arbeit dieser und anderer Menschen fasste er in einem Onlinekurs namens „What is System Change — Pathways to Post-Capitalism“ (deutsch: „Was ist Systemwandel — Wege zur Überwindung des Kapitalismus“) zusammen. Ich nahm letztes Jahr im Februar daran teil.

Am Anfang des Kurses steht die Ideologie. Und die Gefahr von Weltanschauungen, die behaupten, Ideologien überwunden zu haben. Zum Beispiel der Neoliberalismus, der so tut, als sei Kapitalismus frei von Ideologie, während seine Anhänger nicht müde werden zu wiederholen, dass es keine Alternative gebe.

„Wenn Menschen wissen, dass politische Entscheidungen immer das Ergebnis von bestimmten Ideologien sind, dann gewinnen sie die Macht, bewusste Entscheidungen zu treffen“ (2).

Die Schwierigkeit besteht darin, dass sich die eigene Ideologie für jeden selbstverständlich anfühlt. Nur wer bewusst zwischen „der Realität“ und dem eigenen ideologischen Blick auf die Realität unterscheiden kann, erkennt neue Handlungsmöglichkeiten.

Ein umfassender Ansatz, der die fast 150 Kursteilnehmer aus allen Teilen der Welt — von Brasilien und den USA über Europa und den Nahen Osten bis Indien — auf eine Reise durch die komplexe Funktionsweise von Systemen mitnahm. Ein wilder Ritt mit theoretischen Einheiten verschiedenster Bereiche wie Psychologie, Politik und Wirtschaft, aber auch Körperübungen, Selbstreflexion, Vernetzung und Austausch.

Allein der Kontakt zu fast 150 weiteren Menschen, die sich an 8 Tagen jeweils 3 Stunden Zeit für die Live-Webinare nahmen, um zu lernen, wie ein Systemwechsel gelingen kann, war eine Wohltat für mein Gemüt. Weniger zuversichtlich stimmte mich die Erkenntnis, wie viele Widerstände sich schon in meinem eigenen Inneren befinden. Allein der Zugang zu meinen Gefühlen, das Aushalten von Ohnmacht oder Schmerz, ein schwindelerregendes Chaos an Gedanken, die alle immer wieder in der Sackgasse der Hoffnungslosigkeit landen und sich fragen, ob es nicht doch stimmt: Es gibt keine Alternative.

Da klinkte sich die Erinnerung ein: Das ist Ideologie. Seit meiner Kindheit wird mir diese Weltanschauung eingetrichtert. Es ist erschreckend: Selbst Kapitalismuskritiker glauben oft unbewusst, dass dieses System nie überwunden werden kann. Auch ich kann es mir nicht wirklich vorstellen, wenn ich eingeladen werde, eine postkapitalistische Welt zu visionieren. Wir können träumen, aber nur innerhalb der Grenzen des Systems. Und zack: Es folgt eine Körperübung. Daraufhin ein Austausch in kleinen Gruppen, die nach Zufallsprinzip in virtuelle Klassenzimmer geschickt werden. Menschlicher Austausch. Erleichterung.

Nach und nach lösen sich Staubschichten unbewusster und festgefahrener Weltanschauungen für einen neuen Blick auf die Welt, auch wenn dieser im menschlichen Alltag zwischen Arbeit und Konsum immer wieder verblasst. Tatsache ist jedoch: Wir leben nicht nur im Kapitalismus, sondern nach wie vor auch auf der Erde, einem lebendigen Planeten voller lebendiger Organismen, deren andere Funktionsweise wir überall dort wahrnehmen können, wo der Kapitalismus sie noch nicht zerstört hat. Zum Beispiel in unserem eigenen Körper.

Tabelle: Konflikt zwischen dem lebendigen System der Erde und dem Kapitalismus (3)


In den folgenden Seminartagen berührten wir Themen wie Anteilnahme, die Krise der Zivilisation, der Kapitalismus in uns, was Systemwechsel bedeutet, unsere indigenen Wurzeln wiederfinden, die Fähigkeit, eine andere Zukunft zu visionieren. Wir beantworteten Fragen wie: „Stellen Sie sich vor, Geld ist wertlos und die zentralen Versorgungssysteme funktionieren nicht mehr, worauf werden Sie sich verlassen? Auf welche Werte kommt es dann an?“

Neue Denkräume öffneten sich in mir. Ich erkannte immer mehr, wo der Systemwechsel bereits im Kleinen stattfindet, und erfuhr die Bestätigung dafür, wie wichtig mein eigenes Innenleben und die Veränderung meiner Denkmuster und Glaubenssätze für den Wandel sind.

Im Rückblick fehlten mir in diesem Onlineseminar eine Einheit zur Unterwanderung erfolgreicher Bewegungen durch Institutionen und Konzerne sowie eine Einheit zu Medienkompetenz und dem Informationskampf, in dem viele Aufklärer als „rechts“ geframt werden, während reale rechte Kräfte erstarken. Dies bietet mir den Anlass, um auch dieses Jahr am System-Change-Kurs teilzunehmen und das Thema in eine der Austauschrunden einfließen zu lassen.

Das Onlineseminar ist auf Englisch und findet vom 18. bis zum 28. Januar 2024 statt. Als Experiment mit radikalem Vertrauen in eine postkapitalistische Wirtschaft wird es auf Spendenbasis angeboten, und Teilnehmer können mithilfe eines Fragebogens zur Orientierung selbst wählen, wie viel sie spenden können und wollen. Weitere Informationen finden Sie hier.