Ein intensives Leben
Peter Fahrs Aufzeichnungen aus vier Jahrzehnten faszinieren durch ihre tiefgründige Poesie. Exklusivauszug aus „Ich lebe lichterloh“.
Das neue Buch des Poeten und Essayisten Peter Fahr heißt nicht von ungefähr „Ich lebe lichterloh“: Es ist ein Werk vitaler Welterfahrung. Scharfsichtig, geistreich und mit einer aphoristischen Prägnanz ergründet der Autor die Widersprüchlichkeit menschlicher Existenz. Fahr schreibt: „Der Dichter, wie ich ihn verstehe, bewahrt das Leben vor der Hinterhältigkeit des Todes in all seinen Formen. Er sabotiert die Suizidgesellschaft, indem er Poesie erschafft und sie den absterbenden Seelen zugänglich macht. Die Hoffnung, die von der Poesie ausstrahlt, ist das lebendige und Leben spendende Geschenk des heutigen Dichters an seine Zeitgenossen.“ Der Theologe, Psychoanalytiker und Schriftsteller Eugen Drewermann schrieb dem Autor: „Sie können sich vorstellen, wie hypnotisch all das auf mich wirkt, was Sie da schreiben.“ Im Folgenden ein Auszug des Jahres 2016 aus „Ich lebe lichterloh“ von Peter Fahr.
Als junger Mann ließ ich eigene Texte auf Plakaten an öffentlichen Werbeflächen in Bern, Basel und Zürich aushängen. Ein Passant schmierte auf ein Plakat: „Fahr zur Hölle!“ Ein unmöglicher Rat: Die Hölle war kein Ort, wohin ich fahren konnte — ich war ja schon da.
Ich schreibe trotzdem. Das Inferno ist gegenwärtig. „Hölle ist nichts als ein Wesen“, sagt Meister Eckhart. Diese Zeit ist infernalisch, diese Zeit ist wesentlich.
Schon Goethes „Faust“ hat vorgeführt, dass der Mensch den Tod mehr fürchtet als den Teufel. Seine Seele zu verlieren ist schlimmer, als sie zu verkaufen. Das Böse schreckt weniger als das Nichts.
Weltweit sind mehr als 60 Millionen Menschen auf der Flucht, darunter 25 Millionen, die vor Krieg, Folter und anderen unmenschlichen Handlungen fliehen. Nach Europa drängen vor allem Opfer der Bürgerkriege in Syrien, Afghanistan, Somalia, Palästina und dem Irak. Sie kommen auf dem Landweg oder übers Mittelmeer, wo sie von der türkischen Küstenwache und der European Border and Cost Guard Agency (FRONTEX) abgefangen und mit „Push-Backs“ drangsaliert werden: Die Polizisten schießen in die Luft oder rund um die Flüchtlingsboote ins Wasser; sie umfahren die Boote mit hoher Geschwindigkeit in immer engeren Kreisen, wobei diese so heftig zu schaukeln beginnen, dass sie jeden Augenblick kentern können; sie schlagen mit langen Eisenstangen auf Männer, Frauen und Kinder ein und zwingen sie schließlich, umzukehren. Das, was die Bürokraten in Brüssel „Border security“ (Grenzsicherung) nennen, verspricht den Rüstungsindustriellen und Waffenhändlern märchenhafte Profite, denn der Kampf gegen Flüchtlinge und Migranten ist viel profitabler als die Kriege in Syrien, Darfur oder im Jemen. Die Flucht in die Barbarei ist lukrativ.
Wo Lügen zu Wahrheiten verkommen, wiegt ein aufrichtiges Wort mehr als eine Handvoll Phrasen. Diese Zeit braucht Gedichte, die radikal menschlich sind. Die Menschlichkeit befreit das Wort. Und das Wort verwandelt die Welt.
Ein gutes Gedicht ist wie eine Rasierklinge: kurz, zweischneidig, scharf.
Ein Buch ist kein Buch — ein Buch ist eine Welt. Eine Bibliothek vereinigt Welten, sie ist ein Weltall voller Galaxien, unendlich reich an Empfindungen, Erfahrungen und Erkenntnissen, ein Universum menschlichen Fühlens, Denkens und Ringens. Ein Buch vermittelt die Ahnung davon.
Wir hassen am anderen, was wir uns selbst nicht verzeihen.
Das verlorene Echo der Selbstvergessenheit.
Die Eins steht für den Phallus, die Null für die Vulva. Das ganze aufklärerische, mechanistische, mathematische und physikalische Weltbild gründet auf diesen beiden Prinzipien. Auch das Weltbild des World Wide Web.
Der Kapitalismus macht aus dem Menschen, das heißt der Arbeitskraft, ein Wesen auf der Stufe der Maschine. Der Neoliberalismus bevorzugt die Maschine und schafft die Arbeitskraft ab. Kapitalismus und Neoliberalismus entmündigen den Menschen und entledigen sich seiner mithilfe der Maschine. Stichwort Automatisierung auf Basis von Big Data und künstlicher Intelligenz. Wer den Menschen gegen die Maschine in Schutz nimmt, wird zum Gegner, im äußersten Fall zum Terroristen erklärt und erbarmungslos bekämpft.
Der digitale Mensch ist der Sklave der Maschine. Diese macht ihn asozial und im speziellen Fall autistisch. Die Maschine und ihre Algorithmen machen ihn abhängig und im speziellen Fall süchtig. Die Maschine, das heißt der Computer, beherrscht den Menschen. Der entfremdet sich seiner Empfindung und verliert den Bezug zur — sozialen — Wirklichkeit. In der virtuellen Isolation verliert der Mensch sich selbst und wird zum Homo suizidens, zum Menschen, der sich selbst zerstört. Die Suizidgesellschaft provoziert den ökologischen Weltbürgerkrieg, den militanten Aufstand der Ökorebellen gegen die Zerstörer der Natur, die Umweltfaschisten.
Das Internet ist das trojanische Pferd des digitalen Totalitarismus
Die Mechanismen der Diktatur wirken auch in der Demokratie, allerdings verschleiert. Sie richten sich gegen den Einzelnen, indem sie die Massen beeinflussen. Die Diktatur bricht die Menschen, die Demokratie korrumpiert sie. Der mündige, selbst denkende und eigenverantwortliche Einzelne wird von den gleichgeschalteten vielen ausgegrenzt: Er vereinsamt, verliert die Hoffnung, verzweifelt, wird verrückt oder nimmt sich das Leben. Oder er widersteht, bleibt den Anfeindungen zum Trotz integer und bewahrt sich seine moralischen Werte. Und ist er ein Schriftsteller, trägt er seinen Widerstand in die Öffentlichkeit.
Was ich verkenne, lähmt mich. Was ich benenne, grämt mich. Was ich erkenne, beschämt mich.
Je älter und hinfälliger ich werde, desto verdächtiger werden mir Stärke, Erfolg, Macht. Je näher ich dem Ende meines Lebens komme, desto wesentlicher werde ich — wahrhaftiger, selbstkritischer, demütiger. Stärke, Erfolg und Macht entblößen mein eigentliches Wesen, das schwach, erfolglos, ohnmächtig ist. Der nahende Tod verheißt meine Vergänglichkeit. Diese Verheißung entlarvt das lebenslange Streben nach Größe. Ich bin klein. Dies anzunehmen, gelingt immer besser.
Todesangst ist Lebensangst
Wer das Kind in sich bewahrt, überwindet die Angst.
In Verdun geben sich die Staatspräsidenten von Frankreich und Deutschland die Hand, dort, wo im Ersten Weltkrieg rund 300.000 Soldaten ihr Leben ließen. Aber was unternehmen diese Politiker gegen den Krieg in Syrien, der ebenfalls Hunderttausende das Leben kostete und dessen Morden und Schlachten weitergeht? Wie leicht, in der Vergangenheit zu schwelgen, während die Gegenwart schamlos missachtet wird! Und weiter ertrinken die syrischen Flüchtlinge im Mittelmeer, geopfert auf dem Altar der europäischen Gleichgültigkeit …
Schweigen und Verschweigen liegen nah beieinander.
Verschwiegenheit ist die Schwester von Takt und Verlogenheit.
Neun von zehn Journalisten multiplizieren die negative Energie des Zeitgeists, indem sie seinen Dekadenzen ein Forum bieten. Sie tragen eine nicht unwesentliche Mitschuld am Zustand der Welt, denn solange sie die positive Energie von Nonkonformisten und Widerständigen zensieren, bleibt alles beim Alten. Die Ignoranz und der Opportunismus dieser Journalisten stärkt die zersetzenden Kräfte von Heuchelei und Verlogenheit, von Machtstreben und Profitgier, von Missgunst und Niedertracht.
Wenn du weißt, was du willst, musst du tun, was du kannst, um zu werden, was du bist.
Auf dem Bürgersteig kommt mir ein Nordafrikaner mit zwei kleinen Kindern entgegen. Vor einem Geschäft steht eine Topfpflanze und versperrt den Weg. Ich halte an, um Mann und Kinder durchzulassen. Der Mann zuckt zusammen, er senkt den Blick, murmelt devot ein gebrochenes „Tschuldikung“ und huscht an mir vorüber. Er scheint gebrochen wie sein Deutsch, vielleicht wurde er vor seiner Flucht hierher gedemütigt und gefoltert. Sein Verhalten beschämt mich. Mein Impuls, mich bei ihm zu entschuldigen.
Die Schweiz ist eine Demokratie ohne Demokraten.
Der Atem des Todes nährt den Seufzer, der Atem des Lebens die Klage. Wer seufzt, findet sich ab — wer klagt, begehrt auf. In der Klage steckt die vitale Kraft der Hoffnung. Klagen heißt stören, aufscheuchen, verstören. Klagen heißt verändern.
Junges, feuchtes Holz brennt schlecht. Das alte, dürre hingegen brennt lichterloh. Das reinigende Feuer des Geistes lodert erst im Alter auf.
Das Wort ist einsam.
Gott — was für ein Missverständnis!
Ich schreibe. Ich werde geschrieben.
Stirbt die Illusion, braucht es den Mut zur Wahrheit. Die ist meist hässlich und tut weh, sie nervt wie ein Dorn im Fuß — der Schmerz ermüdet, hält aber wach. Die Bejahung des Schmerzes schafft die Voraussetzung für die Vision. Erst die Vision befähigt zu verwirklichen, was für Illusion gehalten wurde.
Rechtschaffenheit macht anständig. Anständigkeit macht wahrhaftig. Wahrhaftigkeit macht verbindlich. Verbindlichkeit macht zutraulich. Zutraulichkeit macht verwegen. Verwegenheit macht freimütig. Freimütigkeit macht empfänglich. Empfänglichkeit macht empfindsam. Empfindsamkeit macht einfühlsam. Einfühlsamkeit macht betroffen. Betroffenheit macht befangen. Befangenheit macht Probleme.
„Auge um Auge, Zahn um Zahn“ beruht auf dem homöopathischen Prinzip, Gleiches mit Gleichem zu heilen. Manche halten die Homöopathie für Schabernack, andere glauben an ihre heilende Wirkung.
Wer um seine Abgründe weiß, braucht sie nicht auszuloten
Wer annimmt, Paare in langjährigen Beziehungen verfielen unweigerlich dem Trott, irrt gewaltig. Nur Paaren, die offen für neue Entwicklungen sind, die über den eigenen Schatten springen und sich auf Kompromisse einlassen, die sich hinterfragen und bereit sind, Meinungen zu ändern, die auch mitfühlend und selbstlos sind — nur solchen Paaren gelingt es, lange und erfüllt zusammenzubleiben. Ohne den Mut zu Veränderung und Verwandlung gibt es keine wahre Treue.
Wen das Leben langweilt, den langweilt auch der Tod.
In der S-Bahn. Ein älteres Paar unterhält sich über die Reaktorkatastrophe von Tschernobyl.
Er: „Jetzt berichten sie wieder davon.“
Sie: „Das ist so lange her. Können die das nicht endlich vergessen?“
Pause.
Er: „Dem haben sie ja ein Mäntelchen umgehängt.“
Sie: „Eben.“
Pause.
Er: „Bald sind wir zu Hause.“
Sie: „Dann mach ich uns einen warmen Tee.“
Pause.
Er: „Und dann schauen wir noch ein bisschen fern.“
Sie: „Ja.“
Er: „Schön.“
Sie: „Ja.“
Bin ich unrealistisch, weil mir die Realität nicht genügt? Bin ich ein Träumer, weil ich von einer Welt ohne Hunger, Ausbeutung und Krieg träume? Bin ich naiv, weil ich mich nach Verständigung, Freundschaft und Liebe sehne?
Solange unser Leben erfüllt ist, fragen wir nicht nach einem Leben danach
Das Böse ist ein Wesen, das uns besitzen kann. Wie das? Sind wir aus dem Lot, verliert die Seele ihren Schutz. Dann wird das Böse wesentlich. Wann sind wir aus dem Lot? Wenn die Wirklichkeit den Traum besiegt.
Der Dämon fürchtet nichts so sehr wie deinen Blick.
Die Gerechtigkeit steht über dem Recht — und über der Gerechtigkeit steht die Gnade.
Versöhnung verlangt Vergebung.
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