Ein harter Weg aus Polen
Ein Einwanderer aus unserem Nachbarland erzählt von gescheiterten Träumen, historischen Belastungen und von der Chance, sich menschlich wieder näherzukommen.
Ein Land, das an der einen Seite an Deutschland grenzt, an der anderen an die Ukraine, ein Gebiet also, das uns alle derzeit wie kein zweites beschäftigt. Trotzdem wird in Deutschland nicht sehr viel über Polen nachgedacht. In den alternativen Medien wird oft allenfalls beklagt, das Land habe sich zu eindeutig auf der Seite der USA positioniert und reagiere „russophob“. Dabei gibt es historische Gründe für ein angespanntes Verhältnis zu Russland wie auch zu Deutschland. Es ist daher erhellend, im Rahmen unserer neuen Reihe „Menschen in Deutschland“ das Interview von Gustav Śmigielski mit dem polnischen Einwanderer Henryk Nowak zu lesen, der seit 1985 in Deutschland lebt. Das Schicksal von „Gastarbeitern“ ist ein Aspekt dieser wechselvollen und vielfach belasteten Nachbarschaft. Der brutale Angriffskrieg der Nazis 1939 prägt das Selbstverständnis vieler Polen ebenso wie die Jahrzehnte unter dem Kommunismus und unter russischer Vorherrschaft. All diese Aspekte sind in Henryks Geschichte im Hintergrund gegenwärtig, eines Mannes, der trotz guter Qualifikation und guten Willens in Deutschland keine Karriere machen konnte und im Alter im bescheidenen Verhältnissen lebt. Als Polnischstämmiger und prekär Lebender befindet er sich in doppelter Hinsicht unter dem Radar der öffentlichen Aufmerksamkeit. Umso mehr lohnt es sich, Henryk zuzuhören, zumal er eine überraschende und berührende Geschichte von Versöhnung zwischen ehemaligen Feinden zu erzählen hat.
Henryk Nowak (Nachname auf Wunsch des Interviewten geändert) kenne ich schon etwas länger. Ich besuche ihn manchmal auf dem Markt am Maybachufer oder bei ihm zu Hause. Er kannte meinen verstorbenen Vater und ich liebe es, ihm zuzuhören, wenn er über die alten Geschichten erzählt, die er mit meinem Vater erlebt hat. Ein beeindruckend stämmiger Mann mit einem imposanten Bauch, der in seiner Erscheinung an den berühmten französischen Schauspieler Gérard Depardieu erinnert. Ich fragte ihn, ob ich ihn interviewen könnte für die neue Kolumne „Menschen in Deutschland“ im Manova-Magazin. Etwas skeptisch willigte er ein. Henryk ist 1951 in Polen geboren worden und gewährt uns einen kleinen Einblick in seine Lebensgeschichte, seine aktuelle Situation und sein Weltbild. Wir sitzen bei ihm zu Hause bei einer Flasche Wein. Unser Gespräch haben wir in polnischer Sprache geführt.
Gustav Smigielski: Lieber Henryk, ich freue mich, dass du dich dazu bereit erklärt hast, uns einen kleinen Einblick in dein Leben zu gewähren. Darf ich dich nach deinem Bildungsgrad fragen und wann du eigentlich nach Berlin gekommen bist?
Henryk: Das war im Januar 1985, und ich habe in Polen eine technische Sekundarausbildung in Fahrzeug- und Maschinenmechanik abgeschlossen, doch hegte ich schon immer eine besondere Beziehung zur Kunst wie der Malerei und Bildhauerei.
Wie sahen deine ersten Jahre in Berlin aus?
Die ersten Jahre? Ein Albtraum! Der Kontrast war riesig, schöne Autos überall, schön gekleidete Menschen, eine wunderschöne bunte Stadt — Westberlin! Ein großer Kontrast zum grauen und grobschlächtigen Polen. Westberlin war eine andere Welt, jedoch außer meiner Reichweite, ein Hauch von Freiheit, den ich aufgrund fehlender finanzieller Mittel auch nicht in vollem Umfang erfahren konnte.
Was hast du am Anfang gemacht?
Ich habe schwarzgearbeitet, hauptsächlich als Umzugshelfer, Reinigungsarbeiten oder auf dem Bau, wobei die Deutschen sich gewundert haben, dass so starke und intelligente Männer für so wenig Geld arbeiten.
Wie lange befandest du dich in dieser Lage?
Etwa acht Monate.
Das ist ja nicht lange gewesen?!
Nun, ja, intelligente Männer können es immer schaffen.
Was war danach?
Legale Arbeit in einer Fabrik beim Bügeln von Mänteln. Zuerst mit einer Arbeitserlaubnis von zwei Wochen, danach wurde sie auf sechs Monate verlängert und danach auf zwei Jahre. Die Arbeit ermöglichte mir, die Wohnung anzumieten, in der wir jetzt sitzen. Durch die Wohnung konnte ich mich anmelden. Die Bezahlung war schlecht, es gab jedoch Bonuszahlungen, ich war krankenversichert, was mir eine gewisse Stabilität brachte. Das wiederum ermöglichte mir, ein paar Tausend Mark zur Seite zu legen.
Nach einer gewissen Zeit konnte ich mir so einen alten Mercedes leisten und entschloss mich, nach Polen zu fahren, um meine Mutter zu besuchen. Ich packte das Auto voll mit Konsumgütern, die man so in Polen nicht bekommen konnte: Olivenöl, Bananen, Fruchtsäfte, Schokolade und andere Süßigkeiten. Ich fuhr also mit dem Mercedes zum Grenzübergang in Drewitz. Ich erinnere mich an die Gesichtsausdrücke der Grenzbeamten der DDR, als sie mich in einem mit westlichen Produkten gefüllten Mercedes mit einem Mann namens Nowak sahen, der drei Jahre zuvor zum Arbeiten nach Westberlin gekommen war.
Einer der Grenzbeamten bekam einen Nervenzusammenbruch, seine Hände begannen zu zittern, und er konnte den Anblick des Mercedes, meiner Kleidung und der im Auto transportierten „Exquisitessen“ nicht ertragen. Ich dachte, er erschießt mich. Seine Kollegen griffen ein und zerrten ihn ins Grenzhäuschen. In Polen haben damals viele Kinder noch nie eine Banane gesehen. Mit den D-Mark war ich in Polen reich. Im Pewex* kostete eine 0,7 Liter Flasche Wodka der Marke „Polonez“ eine Mark und man konnte dort mit D-Mark bezahlen. Ich kaufte sofort 100 Flaschen.
Eine herrliche Geschichte.
Ja, das stimmt, ich muss dir aber noch was anderes erzählen, ich glaube aus dem Jahr 1989.
** Bitte, ich bin ganz Ohr.**
Leo Kutner
Henryk: Ich hatte diese Wohnung, in der wir gerade sitzen, vor kurzem bezogen. Kurz nachdem ich eingezogen war, klopfte es bei mir an der Tür. Ein ziemlich kleiner Mann begrüßte mich. Sein Name war Leo Kutner und er war polnischer Jude. Er besaß einen Juwelierladen und war mit einer deutschen Jüdin verheiratet. Er war ziemlich wohlhabend, war ein Kenner der Gegend und der hier lebenden Menschen und war bestens über die aktuellen Ereignisse und Klatschgeschichten informiert. Und zwar so gut, dass sogar der Bezirkspolizeibeamte ihn gerne besuchte, um etwas zu erfahren. Wir wurden Freunde, er wohnte im zweiten Stock und ich im vierten. Im sechsten Stock wohnte ein älterer deutscher Herr, den Leo regelmäßig besuchte und sich um ihn kümmerte, da er nicht mehr in der Lage war, sich selbst zu versorgen.
Mit der Zeit hat er auch mich in diese Helferrolle eingebunden. Es fing damit an, dass Leo mich bat, mit ihm in den sechsten Stock zu gehen und die Waschmaschine zu reparieren. So lernte ich den Mann auch kennen und fing auch an, ihm zu helfen. Ich räumte bei ihm regelmäßig die Wohnung auf, indem ich den Boden wusch, führte kleine Reparaturen durch oder ging für ihn einkaufen.
Eines Tages kam Leo zu mir sehr aufgeregt und zitterte am ganzen Körper, und zwar so sehr, dass er einen Moment lang kein Wort über seine Lippen brachte. Ich versuchte ihn zu beruhigen und bot ihm an, sich in Ruhe auszusprechen. Er erzählte mir, dass er bei seinem Schützling aus dem sechsten Stock war, um ihm etwas Suppe zu bringen und ihn zu füttern. Nachdem der Herr die Suppe gegessen hatte, übergab er sich. Leo musste das Erbrochene wegräumen und ihm auch die Kleidung ausziehen. Dabei kam etwas schreckliches zum Vorschein. Als er ihm den Arm hob, sah er plötzlich eine tätowierte SS-Kennung. Ich fragte ihn, ob er ihn mit dem Kissen erdrosselt hätte. Er antwortet, dass er so etwas nicht mit seinem Gewissen vereinbaren könnte. Unser Nachbar aus dem sechsten Stock verstarb einige Wochen später.
Kannst du dir das vorstellen? Ein Jude und ein Pole kümmerten sich um ein altes SS-Mitglied.
** Eine krasse Geschichte.**
Und auch eine traurige.
Wie geht es dir heute?
Heute bin ich schon ein alter Mann. Ich bin 72 Jahre alt und habe trotz harter Arbeit in der „Bundesrepublik Deutschland“ nichts erreicht. Ich wohne auf 30 Quadratmeter in einem Zimmer.
Wie sieht die finanzielle Situation bei dir aus?
Ich bekomme zu meiner kleinen Rente Grundsicherung. Und verkaufe auf dem wöchentlichen Kunstmarkt am Maybachufer Stoffe. Da ich mich schon immer für Kunst interessiert habe, habe ich angefangen, Stoffstücke nach meinem eigenen Stil mit Mustern zu färben und zu verzieren. Aber ich verkaufe auch Meterware. So kommen immer wieder ein paar Groschen rein.
Anmerkung von Gustav Smigielski: Beim Erzählen seiner Geschichte steht Henryk immer wieder auf und geht durch den Raum. Ich frage ihn, ob ihn die Erzählung nervös macht. Er antwortet, dass ihn nach dem heutigem Markttag, an dem er viel gestanden hat und die Ware ein- und auspacken musste, die Hüfte schmerzt, besonders wenn er sitzt. Ich frage ihn, wie er die aktuelle politische Lage einschätzt und welche Medien er konsumiert.
Also dieses ganze Multikulti und die von Angela Merkel begonnene Politik der offenen Türen erachte ich als vollkommenen „Quatsch“. Ich frage mich, warum nicht mehr das deutsche „Ordnung muss sein“ wieder einkehren kann. Warum lässt das deutsche Volk zu, dass ihr Land verwüstet und bestohlen wird? Warum geht die deutsche Wirtschaft den Bach runter? Was ist passiert, dass selbst die osteuropäischen Länder anfangen, Deutschland zu überholen? Was ist passiert, dass alles stillsteht oder sich verschlechtert? Warum wird aus Berlin eine Provinz?
Wie siehst du die russisch-ukrainische Situation?
Der Ukraine ist es näher zu Russland als zu Westeuropa. Die Ukraine wird innerhalb der nächsten 10 bis 20 Jahre nicht in der Lage sein, dem NATO-Bündnis beizutreten oder Teil der Europäischen Union zu werden, weil sie massiv korrumpiert ist und die Gesetze nicht an die europäischen Standards angepasst hat. Die ukrainische Mentalität ähnelt der russischen.
** Was hältst du von den Massenmedien?**
Praktisch alle Medien sind abhängig von politischen Parteien, von Lobbyisten, die riesige Summen für Bestechungsgelder aufbringen, sei es in der EU, wie jüngste Untersuchungen gezeigt haben, oder in den Parlamenten anderer EU-Länder, wo es ebenfalls massive Korruption gibt.
Was hältst du von der AfD?
Meiner Meinung nach ist das eine gefährliche Partei, aber wer, wenn nicht sie?
Hast du irgendwelche Sorgen oder Wünsche? Wie siehst du deine Situation?
Ich bin alt, und man gibt mir keine Arbeit, weil ich zu alt bin. Ich wünschte, ich müsste nicht mehr auf dem Markt arbeiten, aber von 400 Euro im Monat kann ich nicht leben, weil ich Zahnpasta, eine Zahnbürste, Klopapier und Waschpulver, eine neue Fahrradkette oder Reifen für mein Fahrrad kaufen muss.
Lieber Henryk, vielen Dank für das herzliche Gespräch.
Am Ende schauten wir uns noch zusammen das europäische Finale im Volleyball zwischen Polen und Italien an — Polen gewann. Henryk kommentierte das Match emotionsbeladen und wies mich darauf hin, dass es sowohl mit der polnischen Volleyballliga als auch mit der Speedway-Liga, welche nun zu den besten der Welt gehören, erst bergauf ging, als mit Hilfe der Staatsanwaltschaft der Korruption ein Ende gemacht wurde.
*ChatGPT zu „Pewex”: Der Laden mit der Bezeichnung „Pewex“ war ein bemerkenswertes Phänomen in der Zeit des Kommunismus in Polen. „Pewex“ war eigentlich eine Abkürzung für „Przedsiębiorstwo Eksportu Wyrobów Przemysłu Spożywczego“, was auf Deutsch so viel wie „Unternehmen für den Export von Lebensmittelindustrieerzeugnissen“ bedeutet. Dieses staatliche Unternehmen wurde in den späten 1960er Jahren gegründet und sollte dazu dienen, ausländische Devisen für das kommunistische Polen zu beschaffen.
Hier sind einige wichtige Informationen über „Pewex“:
- Devisenbeschaffung: Polen hatte während des Kommunismus Schwierigkeiten, westliche Devisen zu bekommen, um Waren aus dem Ausland zu importieren. „Pewex“ sollte diese Devisen durch den Verkauf von inländischen Produkten an ausländische Touristen und polnische Staatsbürger im Ausland beschaffen.
- Produkte: „Pewex“-Läden führten eine breite Palette von Produkten, darunter Lebensmittel, Alkohol, Bekleidung, Kosmetik und Elektronik. Diese Produkte waren oft westlichen Waren ähnlich und galten als Luxusartikel in einem Land, in dem es häufig an Konsumgütern mangelte.
- Touristenattraktion: „Pewex“-Läden waren ein beliebtes Ziel für ausländische Touristen, die nach Polen reisten. Sie konnten dort hochwertige Produkte zu vergleichsweise niedrigen Preisen kaufen, was für viele Besucher sehr verlockend war.
- Devisenbeschränkungen: Polnische Staatsbürger konnten nur begrenzte Mengen ausländischer Devisen besitzen und waren stark eingeschränkt, wenn es darum ging, westliche Waren zu erwerben. „Pewex“-Läden ermöglichten den Bürgern den Zugang zu diesen Produkten, vorausgesetzt, sie besaßen ausreichend Devisen.
- Kritik und Ungerechtigkeit: „Pewex“ wurde oft als Symbol für die Ungerechtigkeiten des kommunistischen Systems in Polen angesehen. Diejenigen, die Zugang zu Devisen hatten, konnten Luxusgüter kaufen, während die breite Bevölkerung oft mit Mangel und Einschränkungen konfrontiert war.
Mit dem Zusammenbruch des Kommunismus in Polen in den späten 1980er und frühen 1990er Jahren verlor „Pewex“ seine Bedeutung, da die Devisenbeschränkungen aufgehoben wurden und ausländische Produkte leichter verfügbar wurden. Die „Pewex“-Läden verschwanden nach und nach, und viele wurden in reguläre Geschäfte umgewandelt. Heute erinnert man sich an „Pewex“ als ein bemerkenswertes Kapitel in der polnischen Geschichte, das die wirtschaftlichen und sozialen Herausforderungen dieser Zeit widerspiegelt.