Ein ganz normales Jahr
Die Gesamtmortalität in Italien im ersten Quartal 2020 liegt in der Größenordnung der Vorjahre.
Wer eine ganze Nation über Monate stilllegen will, braucht dafür einen guten Grund. Um drastische Einschnitte in die Freiheitsrechte der Bürger zu rechtfertigen, braucht es Horrorszenarios, die man als abschreckende Beispiele an die Wand malen kann. Für Deutschland diente hierfür meist Italien. „Seht ihr, wenn die Regierung jetzt nicht entschlossen handelt, stapeln sich auch bei uns die Särge“, hieß es. Dreh- und Angelpunkt dieser Argumentation sind allerdings die Mortalitätsdaten, die aus Italien gemeldet werden. Stimmen diese nicht, bricht die ganze Argumentation wie ein Kartenhaus zusammen. Der Autor, Spezialist für Epidemiologie, hat nachgerechnet und ist auf einige Unstimmigkeiten gestoßen.
von Dr. Pasquale Aiese
Wir schreiben dieses epidemiologisch-statistische Essay unter Bezugnahme auf einen Artikel, der am 5. Mai 2020 in der Zeitung La Repubblica erschien und um dessen Verständnis wir immer noch ringen, der aber gewiss von den Bürgern missverstanden worden ist.
Der Artikel sagte Folgendes:
Beachten Sie auch das besonders berührende Foto auf der Kommentarseite zu den Toten.
TITEL: Im März stieg die Mortalität um 49,4 Prozent, aber das Virus lässt ein gespaltenes Italien zurück: Bergamo + 568 Prozent, Rom - 9,4 Prozent
„(…) Betrachtet man den Monat März, so lässt sich im nationalen Durchschnitt ein Anstieg der Gesamtsterblichkeit beobachten. Wenn der Zeitraum vom ersten dem Sistema di Sorveglianza integrata (dem integrierten Überwachungssystem) gemeldeten Covid-19-Toten am 20. Februar bis zum 31. März als Referenz gewählt wird, so steigt die Mortalität von 65.592 Toten — Durchschnitt im Zeitraum von 2015 bis 2019 — auf 90.946 im Jahr 2020. Die Übersterblichkeit beläuft sich auf 25.354 Tote, wovon 54 Prozent, also 13.710, auf Todesfälle mit der Diagnose Covid-19 entfallen.“
Man muss sofort anmerken, dass sich Mortalität auf den „Komplex aller Ursachen“ bezieht und nicht allein auf das Coronavirus, weswegen die 49,4 Prozent nicht auf Covid-19 zu beziehen sind. Es ist also zu unterstreichen, dass — nachdem vom ersten Covid-Toten die Rede war — die Zahl der Toten von einem Mittelwert von 65.592 Toten in der vorausgehenden Fünfjahresperiode von 2015 bis 2019 — eine Zahl, die, wie wir später sehen werden, absolut nicht mit dem Wert in einem einzelnen Jahr verglichen werden darf — auf 90.946 Tote im Jahr 2020 gestiegen ist.
Heute können wir die Zahlen über die mit der Diagnose Covid-19 Verstorbenen gegenüber den damals in der Zeitung berichteten Zahlen auf den Zeitraum vom 20. Februar bis zum 19. Mai 2020 aktualisieren: Die aktualisierte Zahl beträgt 32.169 mit einem Altersmedian von 81 Jahren. Der Altersdurchschnitt liegt damit fast 20 Jahre höher als derjenige aller Menschen, die sich mit dem neuen Coronavirus infiziert hatten: Deren Altersmedian liegt bei 62 Jahren.
Dabei muss unterschieden werden zwischen:
- Patienten mit 0 Vorerkrankungen: 3,9 Prozent
- Patienten mit 1 Vorerkrankung: 14,9 Prozent
- Patienten mit 2 Vorerkrankungen: 21,3 Prozent
- Patienten mit 3 oder mehr Vorerkrankungen: 59,8 Prozent
Erst 2022 werden uns präzise Angaben dafür vorliegen, wer an COVID-19 und wer mit COVID-19 gestorben ist, insbesondere im Hinblick auf die 59,8 Prozent, die drei Erkrankungen aufwiesen — für einen Wert also, den der British Epidemiological Service (Public Health England) gewöhnlich nur nach sorgfältigen postmortalen Untersuchungen, also erst einige Zeit nach möglichen epidemischen Ausbrüchen ausweist.
Die ISTAT-Statistik (ISTAT steht für Istituto Nazionale di Statistica, also das italienische Statistikamt) für diese Periode ist daher vage und gibt keine spezifischen Zahlen für diesen Anstieg im nationalen Durchschnitt, beziehungsweise [...] verwendet sie unter anderem einen Wert, der von der schwierigen Unterscheidung zwischen mit Covid-19 und an Covid-19 Verstorbenen beeinflusst wird. In diesem statistischen / epidemiologischen Essay werden wir versuchen, einige Ungenauigkeiten zu korrigieren. Dabei werden wir diesen anfänglichen Fehler der diagnostischen Bewertung bezüglich der Todeszahlen zunächst hinten anstellen und für den Moment auf den fundamentalen Prozess verzichten, den wir klinischen Epidemiologen als „anamnestisches Kriterium“ bezeichnen.
Wir werden daher vereinfachend von den Zahlen sprechen, die wir erhalten, wenn wir den Zeitraum vom 20. Februar bis zum 31. März, das heißt die letzten zehn Tage des Monats Februar sowie den März zusammengenommen als Referenz für den Zeitraum von 2015 bis 2019 betrachten und dann bewerten, ob La Repubblica sich nicht verkalkuliert hat. Das tun wir, indem wir die Website des ISTAT konsultieren.
2015: März: 61.581, Februar: 61.177: 28 x 10 = 21.848
März + 10 Tage im Februar 2015 = 61.581 + 21.848 = 83.429
2016: März: 56.401, Februar: 54.890: 28 x 10 = 19.603
56.410 + 19.603 = 74.004
2017: März: 58.198, Februar: 58.224: 28 x 10 = 20.794
58.198 + 20.794 = 78.992
2018: März: 58.893, Februar: 56.783: 28 x 10 = 20.279
58.893 + 20.279 = 79.172
2019: März: 57.882, Februar: 59.876: 28 x 10 = 21.384
57.882. + 21.384 = 79.226;
Das ergibt aufsummiert folgende Zahlen:
84.429 + 74.004+ 78.992 +79.172 +79.226 = 395.863
395.863/ 5 = 79.172.
Durchschnitt des Zeitraums März + 10 Tage Februar in den Jahren 2015 bis 2019 = 79.172.
La Repubblica behauptet, laut ISTAT sei die Zahl der Toten vom 20. Februar bis zum 31. März 2020 im Vergleich zum Durchschnittswert der Jahre 2015 bis 2019, der sich auf den gleichen Zeitraum bezieht, von 65.592 auf 90.946 im Jahre 2020 gestiegen, ohne jedoch im Zeitraum 2015 bis 2019 die schicksalhaften 10 Tage im Februar zu berücksichtigen, weshalb laut ISTAT ein Anstieg um 49,4 Prozent vorliegen würde.
Hier finden sich bereits zwei Fehler:
Erster Fehler: 90.946 — 65.592 = 25.318 zusätzliche Tote, das sind + 38,6 Prozent, nicht + 49,4 Prozent. (Anm. d. Red.: Hier hat Aiese den Artikel missverstanden. Dort heißt es explizit, dass sich die 49,4 Prozent nicht auf den gesamten Zeitraum beziehen, sondern ausschließlich auf den Monat März).
Der zweite Fehler liegt darin, nicht mit den Toten der fünf Jahre 2015 bis 2019 jeweils vom 20. Februar an kalkuliert zu haben, sondern nur mit denen im März. Dadurch ist der Wert, den man für die Toten im Durchschnitt des Vergleichszeitraums 2015 bis 2019 erhält, offensichtlich zu niedrig.
Deshalb muss der erste gefundene Wert der 90.046 Todesfälle nicht mit 65.592 verglichen werden, der sich nur auf die mit dem März vergleichbare Anzahl der Toten bezieht, sondern mit 79.172 Toten, die sich aus dem Zeitraum vom 20. Februar bis zum 31. März der Jahre 2015 bis 2019 ergeben.
Also sind es 90.946 — 79.172 = 11.774 oder nur 14,9 Prozent zusätzliche Tote.
Wir müssen aber noch präziser sein, denn bildet man den Durchschnitt über einen langen Zeitraum, so führt das zu einem gewissen Fehlerbereich bei der Interpretation der Schätzung, zu einem Fehler, der La Repubblica nicht zu kümmern scheint!
Anstatt den Durchschnitt der fünf Jahre zu bilden, prüfen wir die Mortalität Jahr für Jahr im selben Zeitraum. Wir werden sehen, dass wir dann ein völlig anderes Resultat erhalten.
Wenn wir beispielsweise zu den oben berechneten und in den vorangehenden Zeilen vorgestellten Werten zurückkehren, so fällt auf, dass es 2015 zum Beispiel 83.492 Tote waren. Wenn wir also einen Vergleich zu 2020 anstellen wollten, so hätten wir
90.946 — 83.492 = 7.454 zusätzliche Todesfälle in 2020, was einem Anstieg von lediglich 9 Prozent entspricht.
Wie sieht es aber aus, wenn wir nicht nur die Daten für den Zeitraum vom 20. Februar bis 31. März 2020 mit den entsprechenden Daten aus den Vorjahren vergleichen, sondern die Zahlen für das erste Quartal 2020 mit den entsprechenden Zahlen aus den Jahren 2015 bis 2019?
Mit Blick darauf zitieren wir den jüngsten Bericht des ISTAT-Präsidenten Gian Carlo Blangiardo:
„Der starke Mortalitätsanstieg seit März ereignete sich allerdings im Rahmen eines Jahres, das mit ausgezeichneten Aussichten gestartet war — der Vergleich der ersten beiden Monate von 2020 mit der gleichen Periode in 2019 zeigt in den 5.069 Gemeinden (vor allem im Norden, Anm. d. Autors) eine durch Stichproben ermittelte und auf das nationale Territorium hochzurechnende Verringerung um 8 Prozent zwischen dem 1. Januar und dem 2. Februar und um 9 Prozent zwischen dem 3. und dem 29. Februar.“
Die Anzahl der Todesfälle im Januar und Februar 2019 betrug laut den ISTAT-Daten 68.209 beziehungsweise 59.876 und schon hier haben wir mit dem Januar 2019 einen Monat gewählt, der noch näher an die Todesfallzahlen im März 2020 heranreicht. Um die Anzahl der Toten in den ersten zwei Monaten 2020 auf Basis der Anzahl aus dem Jahr 2019 zu bewerten, addieren wir die beiden Zahlen und wenden dann eine durchschnittliche Reduktion um 8,5 Prozent an, den Durchschnitt aus 8 Prozent und 9 Prozent, und erhalten:
68.209 + 59.876 = 128.085;
128.085 x (100% — 8,5%) = 117.197.
Dies ist die Zahl der Todesfälle in den ersten beiden Monaten des Jahres 2020.
Um die Anzahl der Toten im Monat März zu bestimmen, müssen wir von 90.946 Todesfällen, die sich auf die Periode vom 20. Februar bis zum 31. März 2020 beziehen, den Anteil, der sich auf die letzten zehn Tage des Monats Februar bezieht, subtrahieren: Von der Anzahl der Todesfälle im Februar, 59.876, ziehen wir 9 Prozent ab, dividieren durch die 29 Tage des Monats Februar und multiplizieren mit 10, die letzten zehn Tage, die in der auf den Zeitraum vom 20. Februar bis zum 31. März bezogenen ISTAT-Zahl enthalten sind, und erhalten:
59.876 x (100% — 9%) = 54.487,16;
54.487,16 : 28 x 10 = (auf 1er abgerundet) 18.788.
Damit ist 18.788 die Anzahl der Toten in der Periode vom 20. bis zum 29. Februar 2020. Subtrahiert man diese Zahl von der ISTAT-Summe von 90.946 für den Zeitraum vom 20. Februar bis zum 31. März, erhält man:
90.946 — 18.788 = 72.158.
Somit ergibt sich als Anzahl der Toten im März 2020 die Zahl 72.158. Wenn wir nun diese Zahl zu den Toten der ersten beiden Monate addieren, ergibt sich: 117.197 + 72.158 = 189.355.
Damit liegt die Gesamtmortalität in Italien im ersten Quartal 2020 bei rund 189.355.
Wie hoch war sie in den gleichen Perioden der Vorjahre?
Gemäß den Daten des ISTAT sind dies die Zahlen der jeweils ersten Quartale der vorhergehenden fünf Jahre:
2019: 185.967
2018: 184.991
2017: 192.045
2016: 166.965
2015: 188.072.
Wie man sieht, ist die Sterblichkeit in den ersten drei Monaten des Jahres 2020 nur unwesentlich höher als die von 2015 und liegt sogar unter der des ersten Quartals 2017! Daher bewegen sich die Todeszahlen des ersten Quartals 2020 absolut innerhalb der normalen jährlichen Variation. Es gibt keine pandemische Mortalität!
Hinzuzufügen ist, dass wir, wenn es stimmt, dass im März 2020, der außergewöhnlich kalt, also winterlich war, 72.158 Menschen gestorben sind, den März wegen der Ähnlichkeit der Temperaturen vernünftigerweise beispielsweise mit dem Januar 2017 vergleichen, in dem 75.623 Menschen starben. Dies ergibt ein noch beunruhigenderes Resultat, da es damals fast 5 Prozent mehr Tote gab als im März 2020. Aber niemandem wäre auch nur im Traum eingefallen, von einer Pandemie zu sprechen und auf die Idee zu kommen, die gesamte Nation für Monate stillzulegen!
Dr. Pasquale Aiese ist Chirurg und Biologe, Spezialist für Epidemiologie und öffentliche Gesundheit, Präsident der Associazione Libertà è Salute, Dozent und Berater für Biosystemwissenschaften. Er lebt in Neapel.
Redaktionelle Anmerkung:
Dieser Text erschien zuerst unter dem Titel „Epidemia da Covid e statistiche di mortalita“ Er bezieht sich auf einen Aufsatz in der Zeitung La Repubblica vom 5. April 2020 und insofern nur auf die Statistik der Todesfälle in Italien bis Ende März. Eine Berücksichtigung auch des Monates April würde ein etwas anderes, wenn auch kein grundlegend anderes Bild ergeben. Er wurde vom ehrenamtlichen Rubikon-Übersetzungsteam übersetzt und vom ehrenamtlichen Rubikon-Korrektoratsteam lektoriert und für die deutsche Version leicht verändert.