Ein freier Mensch werden
Lorenzo Milani, ein streitbarer italienischer Priester, entwarf ein bahnbrechendes reformpädagogisches Konzept, das bis heute inspiriert.
In diesem Mai wäre er 100 geworden: Lorenzo Milani, einer jener Leuchttürme der Humanität, die außerhalb von Fachkreisen viel zu wenig bekannt sind. Seine bewegte Biografie als katholischer Priester und Schulgründer umfasste mehrere politische Systeme, einschließlich Krieg und Faschismus. Dies brachte seine idealistischen Vorstellungen mehrfach auf den Prüfstand. Kinder zu freien Menschen zu erziehen und dabei abseits elitärer Schulkonzepte auch den Gleichheitsgrundsatz zu verwirklichen — dies ist auch im fassadendemokratischen Europa unserer Zeit längst keine Selbstverständlichkeit. Gerade die Schulkatastrophe der Corona-Jahre hat dies schmerzlich gezeigt. Milanis Schüler sollten nie, wie es heute noch weithin üblich ist, Fügsamkeit gegenüber Obrigkeiten erlernen, sich jedoch ohne Zwang in einen gesellschaftlichen Gesamtkontext einfügen. Dieses Konzept vertrug sich auch in keiner Weise mit Kriegsdienst und militärischer Disziplin. Lorenzo Milanis Pädagogik könnte somit in unserer Zeit zu einem Heilmittel für die angekränkelten Bildungssysteme Europas werden.
Dass es für große Männer keine kleinen Orte gibt, mit diesem Gedanken bietet Lorenzo Milani (1923 bis 1967) seiner Mutter Paroli, die es als selbstverständlich voraussetzt, dass ihr nach vielen Seiten hin begabter Sohn eine brillante Karriere im öffentlichen Leben anstrebt. Stattdessen enttäuscht er sie mit jeder seiner Lebensentscheidungen immer tiefer.
Nach dem Abitur nimmt er zunächst ein Kunststudium auf, im Jahre 1943, mit gerade einmal 20 Jahren, konvertiert er zum Katholizismus und tritt kurz darauf ins Priesterseminar ein. Ein Schock für seine aus Triest stammende jüdische Mutter, die durch ihre Ehe mit einem toskanischen Großgrundbesitzer nach Florenz gekommen war, wo Lorenzo gemeinsam mit seinen Geschwistern in materiell und kulturell privilegierten Verhältnissen aufwuchs, die auch der Faschismus nicht in ihren Grundfesten hatte erschüttern können.
1947 wird er zum Priester geweiht. Die Konflikte mit der Obrigkeit lassen nicht lange auf sich warten. Der wortgewaltige Prediger und engagierte Sozialreformer, der sich hartnäckig weigert, die hierarchischen Strukturen der katholischen Kirche anzuerkennen, wird strafversetzt. In Barbiana, einer winzigen Gemeinde im florentinischen Apennin, soll er Demut und Gehorsam lernen. Vergeblich: In der Abgeschiedenheit der archaischen Bergwelt wird Lorenzo Milani sich aus jeder Form der Bevormundung befreien und zu seiner Lebensaufgabe finden. Er wird eine Schule gründen, deren pädagogisches Konzept das radikalste aller möglichen Ziele verfolgt: die Erziehung zum freien Menschen.
Dass der Mensch nicht für sich allein einsteht, sondern immer auch für das Ganze, diese Überzeugung zählt zu den Kernsätzen der Pädagogik Lorenzo Milanis.
Um seinen Schülern ein Gefühl für Wichtigkeit und Würde des eigenen Denkens und Handelns zu vermitteln, verwendet er eine einprägsame Formel: I care (Deutsch: Ich kümmere mich darum).
Als Kontrapunkt zu der von den italienischen Faschisten ausgegebenen Parole des menefreghismo, einer Aufforderung zur brutalen Durchsetzung der eigenen Interessen auf Kosten anderer, geht es ihm ausdrücklich um persönliche Verantwortung und demokratische Teilhabe. Unabhängig von seiner Herkunft hat jeder Mensch das Recht auf Bildung, die es ihm ermöglichen soll, zu einer Persönlichkeit zu reifen, eigene Standpunkte zu entwickeln und diese, wenn nötig, gegen die Mehrheitsmeinung zu verteidigen.
Was heutzutage als selbstverständlich gilt — oder zumindest gelten sollte —, war zu einer Zeit, in der ein Großteil der Bevölkerung, zumal in den überwiegend ländlichen Regionen des Landes, nicht lesen und schreiben konnte, revolutionär. Niemals zuvor hatten die Kinder der armen Bauern und Tagelöhner, die Milani schon bald nach seiner Ankunft im Pfarrhaus von Barbiana um sich versammelte, eine solche Wertschätzung und Ermutigung erfahren.
In einem elitäreren Bildungssystem, das auf den Erhalt der sozialen Klassen ausgerichtet war und sich folglich ausschließlich am Kanon bürgerlicher Kulturwerte orientierte, waren sie zu den geborenen Verlierern prädestiniert. Ohne die Perspektive auf einen noch so bescheidenen sozialen Aufstieg war es von Anfang an ihre Bestimmung, das Untertanentum ihrer Vorfahren zu perpetuieren. Zwar gab es eine offizielle Schulpflicht von anfänglich drei, später fünf Jahren, diese wurde allerdings in einer Lebenswelt, in der Kinderarbeit, zumal in der Landwirtschaft, unabdingbar war, sehr frei ausgelegt.
So lagen die Verhältnisse. Und so durften sie unter keinen Umständen bleiben.
Die ihm anvertrauten Kinder zu denkenden Menschen zu erziehen ist das erklärte Ziel des „Maestros“, wie Milani sich selbst gerne nannte.
Doch wie sollte das Versäumte aufgeholt werden? Wie sollte, was Generationen verschlossen geblieben war, plötzlich aufgeschlossen und geistig fruchtbar gemacht werden? Die Herausforderungen waren enorm und die Zeit drängte.
Die Modernisierung Italiens, der ökonomische Umbau von der Agrargesellschaft zur Industrienation, vollzog sich nach dem Zweiten Weltkrieg in rasantem Tempo, mit allen sozialen Verwerfungen, die mit einem solchen Transformationsprozess unweigerlich einhergehen. Mitte der 1950er-Jahre begann die massenhafte Abwanderung aus den rückständigen Regionen des Südens in die norditalienischen Wirtschaftsmetropolen und nach Deutschland.
Zu Abertausenden verließen schlecht ausgebildete und vollkommen unzureichend vorbereitete Menschen ihre Heimat, die keine Perspektive für sie bereithielt, um ihre Arbeitskraft an den Fließbändern der großen Fabriken des Nordens zu verkaufen. Ohne das intellektuelle Rüstzeug, das sie befähigt hätte, die eigene Situation in ihrer historisch-gesellschaftlichen Bedingtheit zu erfassen, würden diese gezielt in Unwissenheit gehaltenen Menschen keine Chance haben, die komplexen Mechanismen der modernen Industriegesellschaft zu durchschauen und sich in ihr zu positionieren.
Was der Maestro seinen Schülern vermitteln will, ist das Verständnis der Zusammenhänge, das sie befähigen soll, ihre Opferrolle zu verlassen und ihre Interessen selbstbewusst zu vertreten.
Dabei ist ihm klar, dass ein solch ambitioniertes Ziel nicht über Nacht zu erreichen sein würde. Als Mann der Tat macht er aus der Not eine Tugend und organisiert seine Schule als eine Art Versuchslabor. Er ignoriert die obligatorischen Curricula und setzt jeweils dort an, wo sich die Probleme gerade stellen: im Hier und Heute. 365 Tage im Jahr. Von Sonnenaufgang bis Sonnenuntergang. Ohne Pausen.
Milanis radikales Verständnis von Schule ist häufig missdeutet worden, was naheliegt, wenn man unter Unterricht eine aus dem normalen Lebensvollzug ausgegliederte Zeit entfremdeter Wissensaneignung versteht. Ein solcher Ort aber sollte die Schule von Barbiana aber gerade nicht sein. Für ihren Gründer stellen Leben und Lernen eine natürliche Einheit dar: den Schlüssel zu einem sinnerfüllten Leben.
Sein didaktischer Ansatz entwickelt sich stets aus der konkreten Situation heraus. Gleichgültig ob es sich darum handelt, einen Straßenverlauf zu vervollständigen, ein Schwimmbecken zu bauen, ein Radio zu reparieren oder die politischen Hintergründe der Kubakrise zu entschlüsseln — nach Milanis Überzeugung ist die Voraussetzung für jede Form befriedigenden Lernens die Erkenntnis des realen Problems, das ihm zugrunde liegt. Im Vertrauen auf die Eigendynamik von Lösungsprozessen setzt er auf Dialog und Kooperation. Die Älteren helfen den Jüngeren, die Stärkeren den Schwächeren.
In seiner charismatischen Persönlichkeit laufen die Fäden zusammen. Eine Gefahr, derer er sich durchaus bewusst ist und die er dadurch zu bannen versucht, dass er seine Schüler ausdrücklich vor jeder Form von Gefolgschaft warnt. Dass blinder Gehorsam eine der hinterlistigsten Versuchungen des Menschen darstellt, gehört zu seinen Grundüberzeugungen.
Das gemeinsame Lesen und Verfassen von Texten und die handwerkliche Arbeit in kleinen, selbstorganisierten Gruppen, in denen jeder die Verantwortung für das Gelingen des Ganzen übernimmt, sind die Grundsäulen einer innovativen Didaktik der Selbstermächtigung, die zu einer Zeit, in der das Bildungsmonopol einer elitären Minderheit den öffentlichen Diskurs bestimmte, skandalös anmuten musste.
Von zentraler Bedeutung ist in diesem Zusammenhang die Sprache.
Ein Ausspruch Lorenzo Milanis, der seine Utopie einer egalitären Gesellschaft auf die kürzest mögliche Formel bringt und der seine Gültigkeit bis heute nicht verloren hat, lautet: Es ist die Sprache, die Gleichheit herstellt.
Bis weit in die 1960er-Jahre hinein waren in Italien lokale Dialekte die Erstsprache eines überwiegenden Teils der Bevölkerung. Milani, der fließend mehrsprachig aufgewachsen war, weiß, dass der Schlüssel zu einem selbstbestimmten Leben in der souveränen Beherrschung der Hochsprache liegt. In seinem Unterricht verzichtet er deshalb weitgehend auf Schulbücher. Stattdessen werden gemeinsam Zeitungsartikel und wissenschaftliche Aufsätze gelesen, die den geistigen Horizont der Kinder bei Weitem übersteigen und gerade deshalb als Ansporn dienen, ungeahnte Denkwege zu beschreiten und neue geistige Horizonte zu eröffnen.
Eine Fremdsprache im Land selbst zu lernen — diese Erfahrung war zur damaligen Zeit einigen wenigen Privilegierten vorbehalten. Lorenzo Milani vermittelte selbstverständlich seine motiviertesten Schüler zu Arbeits- und Studienaufenthalten ins Ausland. Wann immer sich die Gelegenheit bot, lud er kritisch und kreativ denkende Menschen zu Vorträgen ein. Gemeinsam besuchte man Ausstellungen, Theater, Konzerte und Opernabende an der Mailänder Scala.
Überforderung als Methode: ein Konzept, das nicht bei allen aufgehen konnte, für viele jedoch lebensprägend wurde. So ist es kein Zufall, dass die Berufswahl seiner Schüler maßgeblich von sozialer Verantwortung geleitet wurde. Durch die Arbeit an Schulen, die Herausgabe seiner Schriften und die Gründung von Stiftungen haben sie dazu beigetragen, das Erbe von Barbiana, zumindest in seiner Heimat, nicht in Vergessenheit geraten zu lassen.
Lorenzo Milani ist unermüdlich. Als ahnte er: Viel Zeit bleibt mir nicht. Zu Beginn der 1960er-Jahre wird bei ihm ein unheilbares Krebsleiden diagnostiziert. Ausgerechnet in dieser durch schwere Krankheit gezeichneten Zeit rückt die Schule von Barbiana zunehmend ins Blicklicht der Öffentlichkeit. Die Einschätzungen und Urteile sind, wie könnte es anders sein, überaus kontrovers.
Während er von seinen Kirchenoberen als Abtrünniger gesehen wird, stößt sein pädagogischer Ansatz in den fortschrittlich gesonnenen Kreisen seiner Zeit auf Interesse und Zustimmung. Journalisten kommen nach Barbiana, um sich vor Ort ein Bild zu machen; er gibt zahlreiche Interviews, in denen er die Absage an jede Form von Autoritätshörigkeit, untermauert von den konkreten Erfahrungen in seiner Schule, pointiert zu formulieren weiß.
Alte Filmdokumente zeigen ihn an einem Sommertag im Garten des Pfarrhauses, gemeinsam mit seinen Schülern an einem langen Tisch, lesend und diskutierend. Fast eine Idylle, die allerdings in seinen allerletzten Lebensjahren noch einmal nachhaltig erschüttert wird.
Im Februar 1965 erscheint in der Presse ein Kommuniqué toskanischer Militärseelsorger, in dem junge Kriegsdienstverweigerer als Feiglinge und Staatsfeinde denunziert werden. Gemeinsam mit seinen Schülern verfasst Milani daraufhin einen offenen Brief, in dem er jeder Form von Militarismus einen radikalen Pazifismus und eine entschiedene Ablehnung des Kriegsdienstes entgegenhält.
Die Schrift wird in der kommunistischen Wochenzeitung Rinascita veröffentlicht, was zur Folge hat, dass eine Gruppe ehemaliger Militärangehöriger Anzeige gegen ihn erstattet. Es kommt zu einer Anklage wegen „Billigung eines Straftatbestands“ und sogar zu einem Prozess in Rom, bei dem Milani in erster Instanz freigesprochen wird. Zum Abschluss eines Berufungsverfahrens kommt es nur deshalb nicht mehr, weil der Anklagte in der Zwischenzeit verstorben ist.
In seiner Verteidigungsschrift, die posthum unter dem Titel „Offener Brief an die Richter“ in Druck geht, erweitert Milani seine Kritik in Hinblick auf die Verurteilung jedweder kriegerischen Invention als ethisch nicht zu rechtfertigendes Mittel zur Durchsetzung staatlicher Interessen. Die Vorstellung des „gerechten Krieges“ entlarvt er als rhetorische Figur immergleicher Propaganda, weshalb die Kriegsdienstverweigerung die einzig mögliche Haltung ist, die ein junger Mann seiner Einberufung entgegensetzen kann.
Wie belastend auch immer das Verfahren insgesamt für den schwerkranken Prior von Barbiana gewesen sein mochte, verschaffte es ihm doch andererseits die Möglichkeit, seine Argumente unmissverständlich darzulegen.
Noch in seinen letzten Lebensmonaten verfasste er gemeinsam mit seinen Schülern jenes Buch, das man vielleicht als sein geistiges Testament bezeichnen kann: den „Brief an eine Lehrerin“. In der Wir-Form berichten die Kinder von Barbiana in ihrer eigenen Sprache davon, wie sie die Regelschule bisher erfahren haben: als Ort der Unterdrückung und Demütigung.
Das Buch, das im Herbst 1967, einen Monat vor seinem Tod, in einem kleinen Verlag in Florenz erscheint, trifft den Zeitgeist genau. Pier Paolo Pasolini wird zu einem seiner ersten Fürsprecher werden, und sogar in westdeutsche Lesebücher werden es Auszüge daraus schaffen: Dort wird ein junges Mädchen, das Schule maßgeblich als Störung und Verhinderung ihrer besten Möglichkeiten erlebt, zu Beginn der 1970er-Jahre zum ersten Mal auf den Namen Barbiana stoßen und dieses Zauberwort nie wieder vergessen.
Lorenzo Milani hat die Diskussionen und erbitterten Auseinandersetzungen um seine Person nicht mehr erlebt. Er starb im Alter von 44 Jahren im Oktober 1967 im Kreise seiner Schüler. Noch sein Sterben wollte er mit ihnen teilen, damit sie sich selbst ein Bild machen sollten. Mit ihm starb auch „seine“ Schule, die aus dem Eigensinn und der Hingabe eines Mannes gelebt hatte, für den es keinen Nachfolger geben konnte.
Aus dem Bericht eines ehemaligen Schülers wissen wir ungefähr, wie sich die Ankunft Lorenzo Milanis in Barbiana an einem kalten Dezembertag des Jahres 1954 vollzogen hatte: Durch einen Motorschaden war die Autofahrt vorzeitig beendet worden, sodass der Rest des Weges zu Fuß zurückgelegt werden musste. Keine Menschenseele hatte den neuen Pfarrer an seinem Bestimmungsort erwartet, und so zog er sich in einem Anflug von Verzweiflung in die eisige Kirche zum Gebet zurück. Was er dort mit seinem Gott besprochen hatte, blieb sein Geheimnis. Nur so viel hatte er seinem Schüler anvertraut: dass er die Kirche nämlich als ein anderer verlassen habe als derjenige, der sie betreten hatte.
Die absolute Sicherheit, „seinen“ Ort gefunden zu haben, muss überwältigend gewesen sein: Nur wenige Tage später bereits sollte er auf dem alten Friedhof der kleinen Gemeinde seine zukünftige Grabstelle erwerben.