Ein Ende der Kämpfe
Nach 224 Tagen endete die Schlacht um Bachmut ― die ukrainische Armee hat die geschundene Stadt fast zu Tode verteidigt.
Das erste Opfer in jedem Krieg ist die Wahrheit. In einem, was den Russland-Ukraine-Konflikt betrifft, derartig parteiischen Land wie Deutschland würde es wohl an ein Wunder grenzen, gäben die Medien die Situation im Kriegsgebiet korrekt wieder. Was Bachmut betrifft, so hat man die bittere Wahrheit, dass die Stadt ― aus ukrainischer Sicht ― verloren ist, lange verschleiert. Jetzt halten nur noch unverbesserliche Zweckoptimisten an der Annahme fest, Bachmut sei nicht an Russland gefallen. Mit Nachrichten, die ins Bild passen, etwa: Wagner-Chef Prigoschin sei heillos mit der russischen Militärführung zerstritten, wird die deutsche Heimatfront bei Laune gehalten. Die Wahrheit ist ― wie so oft ― komplizierter ...
In der Stadt Bachmut, die auf Russisch „Artjomowsk“ heißt, ruhen jetzt die Waffen. Doch die Stadt gleicht einem Trümmerfeld. Bis 2022 lebten in Artjomowsk 71.000 Menschen. Jetzt sind fast alle Häuser stark beschädigt. Aus einzelnen Gebäuden stieg ― wie das russische Fernsehen am Samstag, dem 20. Mai 2023, zeigte ― Rauch.
Artjomowsk war eine der von den ukrainischen Truppen am meisten befestigten Städte im ehemaligen ukrainischen Verwaltungsgebiet Donezk, in dessen Südteil sich 2014 die „Volksrepublik Donezk“ konstituierte. Der Nordteil der Volksrepublik Donezk blieb nach 2014 unter ukrainische Kontrolle, wurde aber seit dem Februar 2022 von russischen Truppen teilweise erobert.
Alte Leute wollen ihre Häuser nicht verlassen
In einigen Häusern und Kellern hocken noch alte Menschen, die nicht flüchten wollten oder konnten. Für eine Reportage des russischen 1TV-Kanals begleitete ein russischer Journalist Soldaten der „Wagner“-Brigaden zu kleinen Wohnhäusern 50 Meter vor der Front, in denen noch ältere Menschen lebten.
Alexejewa Walentina, eine Rentnerin, berichtete dem Reporter mit weit aufgerissenen Augen: „Gestern hat mich ein Splitter am Bein getroffen.“ Die ukrainischen Soldaten schössen ohne Sinn und Verstand auch auf Häuser, in denen Menschen leben.
Rentnerin in einem westlichen Bezirk von Artjomowsk 50 Meter vor der Front, Screenshot 1TV, April 2023.
Wann das Gas abgestellt wurde, daran kann die alte Frau sich schon nicht mehr erinnern. Jetzt haben sie und ihr Mann nur noch einen Behälter mit Propangas. Den versuche sie vor Beschuss zu schützen. „Ich habe noch Hülsenfrüchte und zehn Hühner“, erzählt Alexejewa Walentina und lacht kurz. Evakuieren lassen wollte sie sich nicht, weil sie Angst hatte, dass ihr Haus dann ohne Aufsicht ist.
Am Samstag, dem 20. Mai. 2023, um 14 Uhr Mitteleuropäischer Zeit (MEZ) verkündete Jewgeni Prigoschin, der Leiter der 2013 gegründeten privaten Sicherheitsfirma „Wagner“, in einem Video via Telegram-Kanal, seine Sturmbrigaden hätten die Stadt Artjomowsk „komplett befreit“. Dabei hielt Prigoschin, hinter dem einige seiner Kämpfer standen, eine russische Fahne in der Hand.
Russische Flaggen auf hohen Gebäuden
Am Samstag und Sonntag wurden auf dem Telegram-Kanal der Wagner-Brigaden Soldaten gezeigt, welche die Flagge Russlands und die Flagge der Wagner-Brigaden auf hohen Gebäuden schwenkten und aus automatischen Waffen Salutschüsse abgaben. Auch auf dnr nach eigenen Angaben gerade erst eroberten Gebäuden im Südwesten von Artjomowsk hissten Wagner-Soldaten russische und Wagner-Flaggen.
Wagner-Soldat hisst russische Flagge auf einem Hochhaus in Artjomowsk.
In der Nacht auf Sonntag — um 0 Uhr MEZ — beglückwünschte Wladimir Putin die „Wagner Sturmbrigaden“ sowie alle Soldaten der russischen Streitkräfte, welche die Wagner-Brigaden „durch Flankenschutz unterstützen, zur Befreiung der Stadt Artjomowsk“.
Das russische Verteidigungsministerium meldete erst am Sonntag in einem allgemeinen Lagebericht zur Ukraine über die Einnahme von Artjomowsk. Die Stadt sei „in Folge der Angriffsoperationen der ‚Wagner‘-Sturmbrigaden mit Unterstützung von Artillerie und der Südgruppe der (russischen, Anmerkung des Autors) Luftwaffe endgültig befreit“ worden, hieß es in dem Bericht.
Selenskyj verheddert sich
Als der ukrainische Präsident Wolodymyr Selensnkyj auf dem G7-Gipfel in Japan von Journalisten gefragt wurde, ob Artjomowsk von den Russen erobert wurde, antwortete er nach einem Bericht der ukrainischen Nachrichtenagentur Unian: „Ich glaube nicht.“ Weiter sagte er: „Heute ist Bachmut nur in unseren Herzen“. Unian fügte hinzu, eine Reihe westlicher Medien hätten die Worte des ukrainischen Präsidenten „falsch interpretiert“, wenn sie schrieben „Selenskyj bestätigt den Verlust von Bachmut“.
Zur Lage in Artjomowsk erklärte Selenskyj nach einem Bericht der Nachrichtenagentur weiter, die Stadt sei „nicht von den Russen erobert.“ Ukrainische Soldaten befänden sich noch in der Stadt. Sie führten eine „sehr wichtige Aufgabe aus“.
Der „Flugzeug“-Bezirk im Südwesten war die letzte ukrainische Bastion
Die Wagner-Brigaden verdrängten die ukrainischen Soldaten nach einem Bericht des russischen Militärkorrespondenten Jewgeni Poddubny am Samstag aus dem letzten von ihnen gehaltenen Bezirk mit dem Namen „Flugzeug“ im Südwesten der Stadt Artjomowsk. Vor drei Wochen begann die finale Schlacht um die westlichen Bezirke, in denen es viele hohe Wohnhäuser gibt.
Die Wagner-Gruppe kämpfte 224 Tage um die Stadt. Es war die schwerste Schlacht seit Beginn der russischen Spezialoperation und nur vergleichbar mit der Schlacht um die Stadt Mariupol, welche die russischen Truppen vor einem Jahr, ebenfalls am 20. Mai, zu ihren Gunsten entschieden.
Die Kämpfer der Wagner-Truppe eroberten zunächst den Norden von Artjomowsk und dann den Osten der Stadt. Die ukrainischen Einheiten befanden sich nach Darstellung des russischen Militärkorrespondenten in einer Umzingelung. Die russische Artillerie kontrollierte die ukrainischen Nachschubwege. Ein Teil der ukrainischen Militärtechnik sei beim Anmarsch auf Artjomowsk zerstört worden.
Nach Angaben des russischen Verteidigungsministeriums wurden die Wagner-Brigaden am letzten Tag des Kampfes von der russischen Artillerie und Luftwaffe in insgesamt 70 Einsätzen unterstützt. Nahe der Stadt Krasnoje sei eine für den ukrainischen Nachschub wichtige Brücke zerstört worden. Außerdem habe die russische Armee Munitionslager der 60. und 67. mechanisierten Brigade der ukrainischen Armee sowie eine US-Artillerie-Ortungsstation vom Typ AN/TPQ-50 zerstört. Am letzten Tag des Kampfes starben nach russischen Angaben 100 ukrainische Soldaten.
Welche Rolle spielt Prigoschin?
Die Glückwünsche von Putin für die Wagner-Brigaden waren bemerkenswert, weil Prigoschin den russischen Generalstabschef Waleri Gerassimow und den russischen Verteidigungsminister Sergei Schoigu wegen schleppender Munitionslieferungen scharf kritisiert und erklärt hatte, damit seien sie für den Tod und die Verwundung von Tausenden von Wagner-Soldaten verantwortlich. Erst in den letzten Tagen erklärte Prigoschin wieder in drohendem Ton, Gerrasimow und Schoigu würden „zur Verantwortung gezogen“.
Der Wagner-Chef beließ es nicht an scharfer Kritik bei der russischen Militärführung. Er nannte auch namentlich hohe russische Militärs, die sich bei der Munitionsbeschaffung für die Wagner-Brigaden bemüht hätten und denen man dankbar sei.
Warum Prigoschin harte Vorwürfe gegen die russische Militärführung vorbringen kann, ohne dass ihm jemand in die Kandare fährt, ist unklar. Möglicherweise lässt der Kreml Prigoschin Spielraum für seine Kritik, um den schwerfälligen Apparat der russischen Armee auf Trab zu bringen.
Der 61 Jahre alte Prigoschin kommt aus St. Petersburg. In den 1980er-Jahren saß er wegen Raub im Gefängnis, wurde aber 1988 begnadigt. Nach der Auflösung der Sowjetunion begann er eine Karriere als Betreiber von Restaurants. Prigoschin soll einen guten Draht zu Wladimir Putin haben.
Prigoschin agiert heute auf einem politischen Feld, auf dem vor ihm der vor einem Jahr verstorbene russische Ultranationalist Wladimir Schirinowski aktiv war. Beide Politiker packten heiße Themen an, sprachen für kremlnahe Politiker unangenehme Wahrheiten aus und hatten einen ungehobelten, polternden Stil. Und beide Politiker sind dafür beliebt.
Die ukrainische Armee braucht jetzt dringend einen Erfolg
Die ukrainische Armee bräuchte jetzt einen Erfolg, etwa die Eroberung eines oder mehrerer kleiner Orte, meint der russische Kommentator Jewgeni Krutikow im Internetportal Vsglyad.ru. Für Kiew gäbe es keine militärische Operation, „die man nicht propagandistisch nutzen könne“.
Doch Anzeichen für den Start der lang angekündigten ukrainischen Offensive gäbe es nicht.
Von den 20 neuen Brigaden, die für diese Offensive gebildet werden sollten, seien erst zwei vollständig mit westlicher Technik ausgerüstet. 40.000 ukrainische Soldaten für einen Angriff auf einem bestimmten Territorium zusammenzuziehen, sei riskant, weil die nötige Logistik und die Tarnungsmöglichkeiten fehlten.