Dystopia
Das Ziel der herrschenden Schicht ist, uns zu bespaßen, zu verängstigen und passiv zu machen, während sie drakonische Strukturen der Unterdrückung etabliert.
In seiner nüchternen Analyse der US-amerikanischen Gesellschaft im Endstadium des Kapitalismus betätigt sich Star-Journalist Chris Hedges einmal mehr als Meister seines Fachs.
Den herrschenden Eliten ist schmerzlich bewusst, dass das Fundament amerikanischer Macht verrottet. Die Verlagerung von Fabriken aus den Vereinigten Staaten ins Ausland und das Versinken von mehr als der Hälfte der Bevölkerung in Armut kann nicht mehr rückgängig gemacht werden. Der selbstzerstörerische Government-Shutdown war nur einer von mehreren Angriffen auf die Effizienz des Verwaltungsstaats. Der Verfall von Straßen, Brücken und der öffentlichen Verkehrsmittel erschweren Handel und Kommunikation. Das explodierende Haushaltsdefizit der Regierung, dank der umfangreichen Unternehmenssteuersenkungen durch die Trump-Regierung inzwischen bei beinahe einer Billion Dollar angelangt, kann nicht eliminiert werden.
Die Übernahme des Finanzsystems durch globale Spekulanten garantiert für die Zukunft, eher früher als später, einen neuen Finanzkollaps. Der Ausfall demokratischer Einrichtungen, der Hochstapler wie Donald Trump groß herauskommen lässt, oder alternativ unfähige, den Unternehmen einseitig verpflichtete Politiker vom Schlage eines Joe Biden oder einer Nancy Pelosi hervorbringt, zementiert einen neuen Autoritarismus. Durch das Aushöhlen der Säulen des Staats, einschließlich des Diplomatenkorps und der Regulierungsbehörden, verbleibt die rohe Kraft des Militärs als einzige Antwortmöglichkeit auf Konflikte mit anderen Ländern, so werden end- und sinnlose Kriege im Ausland geschürt.
Innerer Verfall
Genauso verhängnisvoll wie die sichtbare Verrottung ist der Verfall im Innern. In allen Gesellschaftsschichten erleidet die Regierung einen Vertrauensverlust, herrscht weitverbreitete Frustration, ein Gefühl von Stillstand und In-der-Falle-Sitzen, Bitterkeit über unerfüllte Hoffnungen und Versprechen und ein Ineinanderfließen von Fakten und Fiktion, sodass der zivilgesellschaftliche und der politische Diskurs von der Realität losgekoppelt stattfindet.
Die Isolierung der Nation von ihren traditionellen Verbündeten und ihre Unfähigkeit, insbesondere angesichts der Umweltzerstörung eine rationale und zukunftsweisende Politik zu artikulieren, haben das Mysterium zertrümmert, das unverzichtbar für Machtausübung und Machterhalt ist. „Eine Gesellschaft wird totalitär, wenn ihr Aufbau unverhohlen künstlich wird“, schrieb George Orwell. „Das ist dann der Fall, wenn die herrschende Schicht ihre Funktion verloren hat, aber es schafft, sich an der Macht zu halten durch Gewalt oder Betrug.“ Unsere Eliten haben die Mittel des Betrugs erschöpft. Gewalt ist alles, was ihnen übrigbleibt.
Tödlicher Schlag
Die Vereinigten Staaten sind ein verwundetes Tier, das brüllt und in seinem Todeskampf wild um sich schlägt. Es kann furchtbaren Schaden anrichten, sich jedoch nicht mehr erholen. Dies sind die letzten Tage, dies ist die Agonie des amerikanischen Imperiums. Der tödliche Schlag kommt, wenn der Dollar als Leitwährung fallengelassen wird, ein Prozess, der schon im Gange ist. Der Wert des Dollars wird ins Bodenlose fallen, dadurch eine schwere Krise auslösen und einen sofortigen Rückzug der im Ausland stationierten Truppen nötig machen.
Seth A. Klarman, Chef des Baupost Hedgefonds, der ein Volumen von 27 Milliarden Dollar verwaltet, hat sich in einem zweiundzwanzig Seiten langen, ernüchternden Brief an seine Investoren gewandt. Er wies darauf hin, dass das Verhältnis von Staatsschulden zu Bruttoinlandsprodukt zwischen 2008 und 2017 hundert Prozent überstiegen hätte und damit nahe an den Werten von Frankreich, Kanada, Großbritannien und Spanien läge. Die Schuldenkrise wäre die Saat für die nächste Finanzkrise, warnte er. Er klagte den Zerfall des gesellschaftlichen Zusammenhalts an und fügte hinzu:
„Es kann nicht weitergehen wie gehabt zwischen pausenlosen Protesten, öffentlichem Aufruhr, Shutdown und eskalierenden sozialen Spannungen.“
Verlust der Glaubwürdigkeit
„Man kann nicht wissen, ab wann es zu viele Schulden sind, aber Amerika wird unausweichlich an einen Wendepunkt gelangen, an dem ein plötzlich viel skeptischerer Schuldenmarkt sich weigert, uns Kredite zu Bedingungen zu geben, die wir uns leisten können“, sagte er in dem Brief. „Sobald so eine Krise eintritt, wird es zu spät sein, um das Haus zu reparieren.“
Die herrschenden Eliten, besorgt über den drohenden Finanzkollaps, drängen darauf, harte legale und physische Kontrollmaßnahmen zu etablieren, um befürchtete weitverbreitete Unruhen in der Bevölkerung in Schach zu halten, die erkennbar sind in den Streiks der Lehrer in Amerika oder bei den Protesten der Gelbwesten in Frankreich.
Die herrschende Ideologie des Neoliberalismus, so erkennen die Eliten, hat ihre Glaubwürdigkeit quer durch das ganze politische Spektrum verloren. Dies zwingt die Eliten, unappetitliche Allianzen zu schmieden mit Neofaschisten, die in den Vereinigten Staaten durch die christliche Rechte repräsentiert werden. Dieser christianisierte Faschismus füllt schnell die ideologische Leere Donald Trumps. Er wird verkörpert durch Figuren wie Mike Pence, Mike Pompeo, Brett Kavanaugh und Betsy DeVoss.
Christlicher Faschismus
Dieser christliche Faschismus wird in seiner giftigsten Form, die mit Beginn der Wirtschaftskrise hervortreten wird, versuchen, die Gesellschaft von den als Abweichlern Wahrgenommenen zu säubern, darunter Einwanderer, Muslime, „säkulare humanistische“ Künstler und Intellektuelle, Feministen, Schwule und Lesben, Native Americans und Kriminelle — in ihrer Mehrheit Arme und Farbige — und das basierend auf einer perversen und häretischen Interpretation der Bibel.
Abtreibung wird illegal sein. Die Todesstrafe wird verhängt werden für eine ganze Reihe von Verbrechen. Schulbildung wird beherrscht werden von den historischen Perspektiven weißer Suprematisten, ihrer Indoktrinierung und den Lehren des Kreationismus oder des „Intelligent Design“. Das Pantheon der neuen amerikanischen Heroen wird Robert E. Lee, Joseph McCarthy und Richard Nixon mit einschließen. Der Staat wird die weiße Mehrheit als Opfer darstellen.
Dieser christliche Faschismus wird sich — wie alle Arten des Totalitarismus — in eine übertriebene Frömmigkeit hüllen, die Moral verspricht und auch physische Erneuerung. Die Würdelosigkeit der Massenkultur mit ihrem Zelebrieren eines sexuellen Sadismus, ihren Gewaltdarstellungen und ihrer Persönlichkeitszerstörung, ihrer Drogenabhängigkeit, ihren Selbstmorden, ihrer Glücksspielsucht und ihrem Alkoholismus wird dem Versprechen der christlichen Faschisten Glaubwürdigkeit verleihen, zu einer „christlichen“ Reinheit zurückzukehren. Der Mantel dieser Frömmigkeit wird alle bürgerlichen Freiheiten ersticken.
Verfolgung von Sündenböcken
Besonders wichtig in jeder totalitären Ideologie ist die andauernde Inquisition gegen vermutete finstere Gruppen im Untergrund, denen man die Schuld am Niedergang des Landes zu geben pflegt. Verschwörungstheorien, die bereits Trumps Weltsicht trüben, werden ins Kraut schießen. Die Rhetorik der Herrschenden wird die Bevölkerung von zwei Seiten in die Zange nehmen, hin und her pendelnd, vom Lob auf den Individualismus und auf die persönliche Freiheit zu Forderungen nach entwürdigender Unterwürfigkeit unter jene, die behaupten für die Nation und Gott selbst zu sprechen, von der Heiligkeit des Lebens zur Verfechtung der Todesstrafe, ungebremster Polizeigewalt und Militarismus, von Liebe und Mitgefühl zur Furcht, als Ketzer oder Verräter stigmatisiert zu werden. Einer grotesken Übermännlichkeit wird gehuldigt werden. Gewalt wird hochgehalten werden als probates Mittel, um die Gesellschaft und die Welt vom Bösen zu reinigen. Fakten werden gelöscht oder „angepasst", Lügen werden Wahrheit, die Sprache der Politik wird zur kognitiven Dissonanz.
Je schlimmer es um das Land steht, desto mehr werden Paranoia und kollektiver Wahn zunehmen. All diese Elemente sind in unterschiedlicher Form in der Kultur und in unserer gescheiterten Demokratie bereits vorhanden. Sie werden deutlich hervortreten, wenn das Land zerfällt und die Krankheit des Totalitarismus um sich greift.
Schutzbunker für die Eliten
Die herrschenden Oligarchen werden sich wie in allen gescheiterten Staaten in von Mauern geschützte Areale zurückziehen, von denen viele bereits in Arbeit sind. Dort werden sie Zugang haben zu allen wichtigen Dienstleistungen, Krankenversorgung, Bildung, Wasser, Elektrizität und Sicherheit, die der Masse der Bevölkerung vorenthalten werden. Die Regierung des Landes wird auf das Allernotwendigste zurückgefahren werden — innere und äußere Sicherheit und das Einziehen von Steuern. Große Armut wird das Leben der meisten Bürger bedrücken. Jede noch so wichtige staatliche Dienstleistung, von Grundversorgung mit Strom, Wasser und so weiter bis hin zur Arbeit der Polizei wird alles privatisiert und damit teuer und unerreichbar werden für Mittellose. Der Müll wird sich in den Straßen auftürmen, die Verbrechensrate in die Höhe schnellen. Das Stromnetz und die Wasserleitungen, heruntergekommen, kaum gewartet und durch Privatunternehmen betrieben, werden immer wieder ausfallen.
Tratsch statt Nachrichten
Die Massenmedien werden immer unverhohlener orwellsch. Sie werden ständig über eine glänzende Zukunft plaudern und so tun, als wäre Amerika immer noch eine Weltmacht. Sie werden Nachrichten durch politischen Tratsch ersetzen — eine Korruption, die schon weit fortgeschritten ist — während sie zugleich wiederholen, dass das Land sich wirtschaftlich erholt oder auf dem besten Wege dorthin ist. Sie werden auf keinen Fall die immer krasser werdende Ungleichheit der Gesellschaft thematisieren, ebenso wenig wie die Erosion der Politik, die Umweltzerstörung oder die militärischen Niederlagen.
Ihre wichtigste Rolle wird die Verabreichung von Illusionen sein, sodass ein atomisiertes Publikum, auf seine elektronischen Bildschirme starrend, von dem Zusammenbruch abgelenkt sein und seine Notlage eher als eine individuelle als eine gesamtgesellschaftliche wahrnehmen wird. Dissens wird immer schwieriger werden, da Kritiker als vermeintliche Verantwortliche für den Niedergang zensiert und angegriffen werden. Hassgruppen und Hassverbrechen werden immer zahlreicher und durch den Staat stillschweigend gestärkt und hingenommen werden. Massenschießereien werden alltäglich sein. Die Schwachen, besonders Kinder, Frauen, Behinderte, Kranke und Senioren werden ausgenutzt, im Stich gelassen oder missbraucht werden. Die Starken werden allmächtig sein.
Entfesselter Kapitalismus
Selbst so wird Gewinn immer noch zu machen sein. Firmen werden alles für Profit verkaufen — Sicherheit, schwindende Nahrungsmittelvorräte, Erdöl, Wasser, Elektrizität, Bildung, medizinische Versorgung, Transport. So werden sie Bürger in die Schuldknechtschaft zwingen, in der diese mitansehen müssen, wie ihre spärlichen Vermögenswerte gepfändet werden, wenn sie den Zahlungsaufforderungen nicht nachkommen können. Die Bevölkerung der Gefängnisse — schon jetzt die größte der Welt — wird anwachsen zugleich mit der Anzahl von Bürgern, die gezwungen werden, rund um die Uhr elektronische Fesseln zu tragen. Großunternehmen werden keine Einkommenssteuer entrichten oder bestenfalls eine nur symbolische Steuer. Sie werden über dem Gesetz stehen, sie können ihre Angestellten ausbeuten und unterbezahlen und die Umwelt zerstören, ohne jede Kontrolle oder Regulierung.
Moderne Sklavenhaltung
Wenn die Einkommensungleichheit noch massiver wird, werden Finanzgrößen wie Jeff Bezos, der um die 140 Milliarden Dollar schwer ist, immer mehr als moderne Sklavenhalter fungieren. Sie werden den Vorsitz über Finanzimperien führen, in denen verarmte Angestellte, die in heruntergekommenen Wohnmobil- und Trailerparks leben, zwölf Stunden am Tag in riesigen, schlecht belüfteten Hallen schuften. Diese Angestellten, deren Gehalt am Existenzminimum liegen wird, werden durch digitale Geräte ständig gefilmt, geortet und überwacht werden. Sie werden gefeuert, wenn die brutalen Arbeitsbedingungen ihre Gesundheit ruinieren. Für viele Angestellte von Amazon ist diese Zukunft bereits zur Gegenwart geworden.
Arbeit wird zu einer Art Sklaverei für alle, außer für die oberen Eliten und Manager. Jeffrey Pfeffer zitiert in seinem Buch „Dying for a Paycheck: How Modern Management Harms Employee Health and Company Performance — and What We Can Do About It“ eine Studie, in der 61 Prozent der Angestellten aussagen, dass Stress am Arbeitsplatz sie hat erkranken lassen und sieben Prozent bekunden, dass sie sich deshalb in stationäre Behandlung begeben mussten. Die Belastung durch Überarbeitung, schreibt er, verursacht bis zu 120.000 Tote pro Jahr in den Vereinigten Staaten. In China gibt es geschätzt eine Million Tote pro Jahr durch Überarbeitung.
Das ist die Welt, die die Eliten durch das Einrichten gesetzlicher Mechanismen und Wachdienste im Inneren vorbereiten, um uns unserer Freiheit zu berauben.
Keine Chance für Reformen
Auch wir müssen beginnen, uns auf diese Dystopie vorzubereiten, nicht nur um unser Überleben zu sichern, sondern auch um Mechanismen zu schaffen, die die totalitäre Macht schwächen und umstürzen können, deren Ausübung die Eliten planen. Alexander Herzen, der vor einem Jahrhundert zu einer Gruppe Anarchisten darüber sprach, wie der Zar zu stürzen wäre, erinnerte seine Zuhörer daran, dass es nicht ihre Aufgabe wäre, ein dahinsiechendes System zu retten, sondern stattdessen ein neues zu schaffen. „Wir meinen, wir seien die Ärzte. Doch wir sind die Krankheit.“
Jedes Bemühen, das amerikanische System zu reformieren, heißt zu kapitulieren. Kein Progressiver der Demokraten wird sich erheben, die Parteiführung übernehmen und uns retten. Es gibt nur eine regierende Partei: die Partei der Konzerne. Sie wird sich vielleicht in kleinliche, wechselseitig zerstörerische Scharmützel begeben, wie jetzt gerade beim Government-Shutdown. Sie wird eventuell um die Macht und die Beute der Macht zanken. Vielleicht hüllt sie sich auch in tolerantere Einstellungen gegenüber Frauen, gegenüber LGBT-Rechten und gegenüber der Würde farbiger Menschen, aber in den grundlegenden Angelegenheiten wie Krieg, innere Sicherheit und Herrschaft der Konzerne wird es keine Abweichung geben.
Ziviler Ungehorsam!
Wir müssen organisierten zivilen Ungehorsam und Formen der Kooperationsverweigerung ausführen, um die Macht der Konzerne zu schwächen. Wir müssen wie in Frankreich weitreichende und andauernde soziale Unruhen nutzen, um die Pläne unserer Konzernherren zurückzudrängen. Wir müssen uns aus der Abhängigkeit von Großunternehmen befreien, um unabhängige, tragfähige Gemeinschaften und alternative Formen von Macht aufzubauen. Je weniger wir die Unternehmen brauchen, umso freier werden wir. Das wird auf jeden Aspekt unseres Lebens zutreffen, einschließlich der Lebensmittelproduktion, der Bildung, des Journalismus, des künstlerischen Ausdrucks und der Arbeit. Das Leben wird in Gemeinschaften stattfinden müssen. Niemand wird die Mittel haben, um allein zu überleben, es sei denn, er gehört zur herrschenden Elite.
Solidarität!
Je länger wir so tun, als stünde diese dystopische Welt nicht unmittelbar bevor, desto unvorbereiteter und geschwächter werden wir sein. Das Ziel der herrschenden Schicht ist, uns zu bespaßen, uns zu verängstigen und passiv zu machen, während sie drakonische Strukturen der Unterdrückung etabliert, die in dieser finsteren Realität verankert sind. Es ist an uns, dieser Macht eine andere Macht entgegenzuhalten. Unsere gegen ihre. Selbst wenn wir die gesamte Kultur nicht verändern können, so können wir doch immerhin selbsterhaltende Enklaven schaffen, in denen wir uns der Freiheit annähern. Wir können das Feuer einer Welt, die eher auf gegenseitiger Hilfe als auf gegenseitiger Ausbeutung beruht, am Brennen halten. In Anbetracht dessen, was vor uns liegt, wird das ein Sieg sein.
Redaktionelle Anmerkung: Dieser Text erschien zuerst unter dem Titel „The World to Come“. Er wurde von Dagmar Büscher aus dem ehrenamtlichen Rubikon-Übersetzungsteam übersetzt und vom ehrenamtlichen Rubikon-Korrektoratsteam lektoriert.