Düstere Prognose

Rund die Hälfte der aktuell 22 Millionen Vollzeitbeschäftigten erwartet eine Rente von unter 1.500 Euro.

Die Antwort des Bundesarbeitsministeriums auf eine schriftliche Anfrage der Linksfraktion schlug Anfang September 2023 bei den 22 Millionen Vollzeitbeschäftigten in Deutschland wie ein Blitz ein. Die Hälfte von ihnen erwartet eine Rente von weniger als 1.500 Euro monatlich, wenn sie auf dem derzeitigen Lohnniveau bleiben. Im vergangenen Jahr war noch ein Bruttomonatslohn in Höhe von 3.371 Euro bei einer Vollzeitbeschäftigung erforderlich, um auf eine Rente in Höhe von 1.500 Euro zu kommen. Zum 1. Juli dieses Jahres lag die Schwelle bereits bei 3.602 Euro brutto im Monat, was einem Stundenlohn von 20,78 Euro entspricht. Für eine künftige monatliche Rente in Höhe von 1.200 Euro ist derzeit rechnerisch ein Stundenlohn von 16,62 Euro bei einer wöchentlichen Arbeitszeit von 40 Stunden über 45 Jahre nötig, für eine Rente in Höhe von 1.300 Euro ein Stundenlohn von 18,01 Euro. Konkret heißt das, selbst wenn der Mindestlohn zum 1. Januar 2024 von 12,00 auf 12,41 Euro ansteigt, sind die lohnabhängigen Menschen noch weit entfernt von den 16,62 Euro, die nötig sind, um eine Rente von lediglich 1.200 Euro zu erreichen. Ein Text zur Sonderausgabe „Armut in Deutschland“.

Knapp die Hälfte der 22 Millionen aktuell vollzeitbeschäftigten Menschen kann sich schon mal mit dem Gedanken vertraut machen, sich in die Menge der derzeit drei Millionen von Altersarmut betroffenen Personen ab 65 Jahren einzureihen. Dabei ist die konkrete Lebenssituation der aktuell über drei Millionen alter und armer Menschen schon schlimm genug.

Kernaussagen zum Alter

  • Die Lebenserwartung der Menschen steigt. Frauen und Männer erreichen ein immer höheres Lebensalter.
  • Der Anteil älterer Menschen an der Bevölkerung wächst weiter.
  • Die meisten älteren Menschen leben in einem Privathaushalt. Die Mehrzahl der über 65-Jährigen wohnt mit dem Ehepartner zusammen. Mit steigendem Alter nimmt aber auch die Zahl der Alleinlebenden und der in Alten- oder Pflegeheimen Versorgten zu.
  • Die Erwerbsbeteiligung älterer Beschäftigter ist deutlich gestiegen.
  • Ältere Frauen verfügen über ein unterdurchschnittliches Einkommen. Altersarmut betrifft ein knappes Fünftel der Frauen.
  • Nur eine kleine Minderheit der älteren Menschen ist pflegebedürftig. Aber die Zahl der Pflegebedürftigen wird weiter steigen.
  • Freiwilliges Engagement ist auch bei Älteren verbreitet. Sie engagieren sich häufiger im sozialen Bereich als jüngere Leute.

Altersarmut

Ein Indikator für die wachsende Altersarmut stellt das Kriterium der Europäischen Union dar, wonach armutsgefährdet ist, wer in einem Mitgliedsland über weniger als 60 Prozent des mittleren Nettoäqivalenzeinkommens verfügt. Als einkommensarm kann hierzulande somit ein Alleinstehender gelten, der 2021 weniger als 1.148 Euro im Monat zur Verfügung hatte.

Die Altersarmut in Deutschland stellt sich so dar (Stand 2022):

  • Mit 17,4 Prozent und knapp drei Millionen betroffenen Personen ab 65 Jahren hat die Altersarmut einen Höchststand erreicht wie die Armut insgesamt mit 16,6 Prozent der Bevölkerung und 13,8 Millionen Betroffenen.
  • 19,3 Prozent der Frauen über 65 Jahren sind arm; bei den Männern sind es 15,1 Prozent.
  • Mehr als ein Viertel (27,8 Prozent) der Rentenbezieher hat ein monatliches Nettoeinkommen von unter 1.000 Euro.
  • Die Durchschnittsrente im Alter bei den Männern im Westen beträgt durchschnittlich 1.138 Euro, bei den Frauen 783 Euro. Im Osten liegt sie bei den Männern bei 1.071 Euro und bei den Frauen bei 1.038 Euro.
  • Bei der vollen Erwerbsminderungsrente liegen die Unterschiede nicht so weit auseinander. Hier bekommen die Frauen im Westen netto 837 Euro und die Männer 881 Euro ausbezahlt. Im Osten jeweils 977 Euro beziehungsweise 856 Euro netto.
  • Etwa jede fünfte Altersrente beträgt weniger als 500 Euro im Monat.
  • Mehr als jeder fünfte Mensch im Alter über 80 Jahren hat ein monatliches Nettoeinkommen von maximal 1.167 Euro zur Verfügung. Besonders stark von Altersarmut betroffen sind Frauen — unter anderem wegen der schlechteren Bezahlung während des Arbeitslebens.
  • Innerhalb der Gruppe der Hochbetagten mit den niedrigsten Einkommen sind Frauen stärker von Armut betroffen als Männer. Demnach leben 26,1 Prozent der hochaltrigen Frauen unter der Armutsgrenze, bei den Männern sind es 16,9 Prozent.
  • Der Anteil armer Frauen über 80 Jahren ist fast zehn Prozentpunkte höher als der ihrer männlichen Altersgenossen. Das zeigt, wie deutlich sich schlechtere Bezahlung, aber auch längere Teilzeitarbeit und Unterbrechungen im Erwerbsleben in späteren Jahren auf das Leben von Frauen auswirken.
  • 1,1 Millionen alte Menschen beziehen im Alter trotz ihrer Rente zusätzlich Sozialleistungen.
  • Jedem dritten Beschäftigten droht derzeit nach 45 Berufsjahren in Vollzeit eine Bruttorente von unter 1.300 Euro im Monat.
  • 12,9 Prozent der 65- bis unter 75-Jährigen arbeiten, also rund jeder siebte alte Mensch.
  • Von den mehr als eine Million arbeitenden Rentnern sind über 230.000 sozialversicherungspflichtig angestellt und rund 835.000 ausschließlich auf geringfügiger Basis beschäftigt.
  • Über 460.000 Menschen über 65 Jahre sind sozialversicherungspflichtig beschäftigt, weil sie noch zu ihrer geringen Rente arbeiten müssen.
  • Der Anteil der sozialversicherungspflichtig Beschäftigten an der Bevölkerung im Alter von 60 bis unter 65 Jahren stieg von 28,0 Prozent Ende 2011 auf 47,8 Prozent Ende 2021.
  • Die Zahl der sozialversicherungspflichtig Beschäftigten im Alter von 60 bis unter 65 Jahren stieg von 1,351 Millionen Ende 2011 um 1.514 Millionen (112,1 Prozent) auf 2.865 Millionen Ende 2021.
  • Mehr als eine Million Beschäftigte (1.066.895) sind 67 Jahre oder älter, das sind 200.000 mehr als 2015. Mehr als 400.000 Beschäftigte sind bereits über 70 Jahre alt, 138.000 über 75, mehr als 13.000 sogar noch in einem Alter von über 85 Jahren erwerbstätig.
  • Und unter den 13.000 Beschäftigten, die 85 Jahre und älter sind, gibt es 446 Menschen, die noch als Fahrzeugführer im Straßenverkehr tätig sind.

Der Armutsforscher Christoph Butterwegge benennt die markantesten Besonderheiten der Altersarmut wie folgt:

„Altersarmut ist mindestens durch fünf Merkmale gekennzeichnet, die sie deutlich von allen übrigen Armutsformen unterscheiden und ihre Beseitigung oder Verringerung durch politische Gegenmaßnahmen am dringlichsten erscheinen lassen:

  • Armutserfahrungen sind für alte Menschen besonders deprimierend, diskriminierend und demoralisierend: Ihnen wird durch Bedürftigkeit, finanzielle Einschränkungen und Entbehrngen nicht bloß die Würde genommen, sondern auch der Lohn für ihre Lebensleistung vorenthalten, ohne dass diese Form ‚struktureller Gewalt‘ (Johan Galtung) bisher von der Öffentlichkeit als solche erkannt, geschweige denn von einer Bundesregierung ernsthaft bekämpft worden ist.
  • Das in Artikel 1 Satz 1 Grundgesetz (GG) zur Fundamentalnorm unserer Verfassung erhobene Gebot, die Würde des Menschen zu wahren, wird durch ein Leben in Armut missachtet. SeniorInnen, denen im Unterschied zu jungen Menschen die Hoffnung auf ein durch Aufnahme von Erwerbstätigkeit (wieder) steigendes Einkommen fehlt, droht dieses Schicksal bis ans Lebensende. Alternativen zu ihrer prekären Situation gibt es praktisch nicht; was allein bleibt, ist Perspektivlosigkeit.
  • Wenn nicht außergewöhnlich günstige Umstände eintreten, wächst die Armutsbetroffenheit von SeniorInnen in den letzten Lebensjahren sogar noch, weil sich ihre Einkommenssituation zumindest im Regelfall nicht mehr wesentlich verbessert, während die Kosten für Arzneimittel sowie medizinische und Pflegedienstleistungen im Alter drastisch zunehmen.
  • Armut geht oft mit Einsamkeit und sozialer Isolation einher. Davon sind ältere Menschen ohnehin häufiger betroffen als jüngere. Während der COVID-19-Pandemie trugen Quarantänemaßnahmen und die Abschirmung der in Alten- beziehungsweise Pflegeheimen lebenden SeniorInnen gegenüber BesucherInnen dieser Einrichtungen dazu bei, dass sich die Tendenz zum Alleinsein verstärkte.
  • Die COVID-19-Pandemie, die Energiepreisexplosion und die Inflation treffen alte Menschen härter als junge, weil sie in der Regel nicht mehr erwerbstätig und deshalb viel zu Hause sind, was ihre Heizkosten genauso in die Höhe treibt wie die Tatsache, dass sie kälteempfindlicher sind. Außerdem bekommen sie viel seltener einen Bankkredit zur Bewältigung finanzieller Überbelastung als junge Menschen, weil man ihnen die Tilgung von Schulden nicht mehr zutraut. Immer häufiger steht am Ende ein ordnungsamtliches oder Sozialbegräbnis.“

Altersarmut effektiv bekämpfen

Gegen Armut hilft Geld — diese platte wie richtige Binsenweisheit muss endlich mit konkreten Maßnahmen ausgefüllt werden.

Vorschläge, die dabei helfen könnten, Altersarmut in Deutschland kurzfristig zu bekämpfen und langfristig zu verringern, sind zum Beispiel:

  • Die gesetzliche Rentenversicherung muss absoluten Vorrang in der Alterssicherung haben.
  • Sie sollte zu einer solidarischen Bürger- oder Erwerbstätigenversicherung ausgebaut werden. Selbstständige, Freiberufler, Beamte, Abgeordnete und Minister müssen einbezogen werden und Beiträge zahlen.
  • Rentenbeiträge werden nicht nur auf Löhne und Gehälter erhoben, sondern auf sämtliche Einkunftsarten wie Einkünfte aus Kapitalvermögen, Vermietung und Verpachtung, Dividenden, Veräußerungsgewinne und Zinsen.
  • Beitragsbemessungs- und Versicherungspflichtgrenzen müssen abgeschafft werden, die es privilegierten Personengruppen erlauben, sich ihrer Verantwortung für sozial Benachteiligte zu entziehen und in exklusive Sicherungssysteme auszuweichen.
  • Wer den nach Einkommenshöhe gestaffelten Beitrag nicht selbst entrichten kann, sollte, im Falle fehlender, vorübergehender oder eingeschränkter Zahlungsfähigkeit, vom Staat die Beiträge bedarfsbezogen „subventioniert“ bekommen; die Beiträge werden aus dem allgemeinen Steueraufkommen gezahlt.
  • Der Niedriglohnsektor müsste abgeschafft, Flächentarifverträge und deren Allgemeinverbindlichkeit wieder gelten und die Mindestlöhne jährlich erhöht werden.
  • Die volle Sozialversicherungspflicht für Minijobs sollte eingeführt, Leiharbeit abgeschafft, eine Erwerbstätigenversicherung für Selbstständige eingerichtet, Erleichterung und Verlängerung des Bezugs von Arbeitslosengeld l ermöglicht werden.
  • Es müssen Kita- und Ganztagsschulplätze für alle Kinder geschaffen werden, um Erwerbsphasen, vor allem für Frauen, zu verlängern.
  • Die soziale Teilhabe, Integration und gegenseitige Unterstützung für alte Menschen muss ermöglicht werden.

Wird nicht schnell und konkret umgesteuert, müssen rund 10 Millionen Vollzeitbeschäftigte mit der Erwartung leben, auch nach jahrzehntelanger Lohnarbeit zukünftig zu den armen alten Menschen zu gehören und unter das Existenzminimum zu rutschen.


Redaktionelle Anmerkung: Dieser Text erschien zuerst am 19. September 2023 unter dem Titel „Zur konkreten Lebenssituation armer alter Menschen — Düstere Prognose: Rund die Hälfte von den aktuell 22 Millionen Vollzeitbeschäftigten erwartet eine Rente von unter 1.500 Euro“ auf [gewerkschaftsforum.de](https://gewerkschaftsfo