Dünnhäutige Widerstandsfähigkeit
In unserer Zeit ist Resilienz wichtiger als selten zuvor — dies funktioniert aber nur, wenn man sich auch Schwäche eingestehen kann.
Die Autorin steht für viele von uns. Die Coronakrise hat sie viel Kraft gekostet. Sie hat Regeln befolgt, hat aufbegehrt, den Widerstand dann wieder als aussichtlos verworfen. Sie wurde angefeindet und bedroht, hat noch schwerere Schicksale ihr nahestehender Menschen beobachtet, ist krank geworden und wieder genesen. Nach einiger Zeit hat sie sich nur noch von einem Tag zum nächsten weitergeschleppt, ohne die Sicherheit zu haben, dass all das irgendwann enden wird. Um die Corona-Ära zu ertragen, braucht man Fähigkeiten, die sich scheinbar widersprechen: Nachgiebigkeit und Härte, Realismus und die nicht klein zu kriegende Fähigkeit, dennoch immer wieder zu hoffen. Wer in diesen Zeiten versucht, mehr zu sein als er ist — ein Superheld zum Beispiel —, kann zerbrechen; wer Mensch bleibt, übersteht.
Es ist Freitag. Freitag wird die Buchhaltung gemacht. Jeden Freitag. Man ist eine brave Bürgerin. Es kam schon häufiger vor, dass ich keine Lust hatte, Zahlen in Programme einzutippen. Heute, Ende Februar 2022, erscheint mir diese Arbeit vollkommen falsch.
Ein paar hundert Kilometer von hier sterben Menschen. Im Krieg.
Unfassbar. Ich konnte es als Kind nicht verstehen und ich verstehe es heute nicht. Warum machen Menschen so etwas? Politisch kann und will ich mich dazu nicht äußern, denn ich weiß zu wenig über die Umstände. Aber eines fühle ich: Krieg ist falsch. Krieg ist Leid. Krieg ist Grausamkeit. Krieg ist Folter. Krieg ist Schande. Krieg ist ein Verbrechen. Krieg bringt Leid. Krieg tötet. Krieg vernichtet. Krieg ist herzlos. Krieg ist falsch.
Kein Argument dafür
Bestimmt könnte mir jemand erklären, warum Krieg hier „notwendig“ wäre oder wie es genau dazu gekommen ist. Für mich ist Krieg nicht zu rechtfertigen. Durch nichts und niemanden. Ich hätte gerne jemanden an meiner Seite, der mir sagt: „Mach‘ dir keine Sorgen!“ — „Alles wird gut.“ — „Nichts wird so heiß gegessen, wie es gekocht wird.“ — „Lass‘ dich nicht stressen.“ — „Mach‘ dir nicht so viele Gedanken.“
Und ich bin froh, dass es im Moment so eine Person nicht gibt, denn sie würde nur als Katalysator der Angst, der Wut, des Unverständnisses und der tiefen Traurigkeit dienen. Sie wäre die Person, an der ich meine Ohnmacht, meine Wut auslassen würde. Wahrscheinlich würden diese wohlgemeinten Worte die Schleusen öffnen und ich würde den Tränen freien Lauf lassen. Vielleicht würde ich auch wütend werden, vielleicht sogar aggressiv? Ich weiß es nicht.
Schaden an der Seele
In den letzten zwei Jahren habe ich, wie alle Menschen, viel Kraft gebraucht. Ich habe mich als emotionalen Tagelöhner bezeichnet. Ein Mensch, der den Tag durchsteht. Einen Tag nach dem anderen. Nicht mehr, aber auch nicht weniger. Planungssicherheit, Vertrauen in die Zukunft, der Glaube an das Gute und an sich selbst — all das versickerte im Treibsand.
Das Fass ohne Boden konnte man nur auf diesen Treibsand stellen. Der morgendliche Blick in das Fass, welches man erst suchen musste, offenbarte, was man schon wusste: Das Fass ist noch da, der Boden immer noch nicht. Das Fass ist leer.
Bis heute Abend durchhalten. Morgen ist auch noch ein Tag.
Ich erlebte fünf Suizide von Kollegen und Kolleginnen. Freundschaften zerbrachen. Anfeindungen nahmen zu, so auch das Unverständnis. Weil ich nicht verstehen konnte, habe ich versucht, Antworten zu bekommen, die Verständnis zulassen. Fehlanzeige.
Vieles, was als unumstößlich galt, vieles, von dem ich glaubte, es könne nicht (mehr) passieren, geschah und geschieht immer noch. Die Logik hat Urlaub oder ist dem Burn-Out erlegen.
Kategorischer Imperativ
Ich habe mich ein Leben lang geweigert zu glauben, dass Menschen böse sind. Menschen werden in Ecken gedrängt, Menschen werden der guten Möglichkeiten beraubt und weichen auf schlechte Lösungen aus. Aber eigentlich liegt das nicht in der Natur der Menschen. Das wollte ich glauben.
„Handle nur nach derjenigen Maxime, durch die du zugleich wollen kannst, dass sie ein allgemeines Gesetz werde“ (Immanuel Kant).
Oder eben einfach: Liebe deinen Nächsten wie dich selbst, tue anderen nichts an, was du für dich auch nicht möchtest. Ich möchte nicht, dass jemand über meinen Körper entscheidet. Ich möchte nicht unter Druck gesetzt werden. Ich möchte nicht zum Sündenbock erklärt werden, wenn ich keinerlei Sünde begangen habe. Ich möchte nicht als Wurmfortsatz der Gesellschaft bezeichnet werden. Ich möchte nicht angelogen und betrogen werden. Es geschieht dennoch ständig.
Und ich habe meine Stimme erhoben. Sinnlos. Nutzlos. Erfolglos.
Ich habe mich an alle Regeln gehalten, auch wenn ich diese nicht verstanden habe. Ich habe mich durch die Tage gekämpft und eine Entscheidung getroffen. Ich habe mein persönliches Risiko abgewogen und kein Risiko für andere dargestellt. Ich habe gewusst, dass es mich treffen kann. Bevor mich allerdings die Krankheit erwischte, sah ich mich mit vielen anderen Dingen konfrontiert.
Drohungen durch die Blume
Um meine Gedanken zu sortieren und um sie für „später“ zu konservieren, begann ich, diese aufzuschreiben. Ich habe Briefe geschrieben und meine Meinung kundgetan. Infolge dessen hat man mir verschiedene Schuhe hingestellt und die unterschiedlichsten Etiketten aufgepresst: Ich erhielt Zuspruch, wurde als Widerstandskämpferin und Friedensaktivistin bezeichnet.
Aber ich erhielt auch Anrufe besorgter Mitbürger und Mitbürgerinnen, die mir rieten, mich lieber still zu verhalten. Ich wäre „googlebar“ und man könne viel über mich herausfinden. Wohnort, Telefonnummer, Studioadresse und vieles mehr. Es wäre vielleicht besser, sich zurückzuziehen.
Erst hörte ich diesen Gesprächen zu, später blockierte ich die Nummern. Als dann versucht wurde, in unser Studio einzubrechen, habe ich natürlich kurz daran gedacht, ob das nun die Quittung ist, die ich zahlen muss?
Der gute Mensch
Es gab auch viele Menschen, die mich genau da zu packen versuchten, wo ich leicht zu greifen bin. Sie appellierten an meine Empathie, mein Mitgefühl, meine Hilfsbereitschaft: Ob ich ihnen nicht einen oder mehrere Briefe schreiben könne, ob ich nicht für sie bei Behörden vorsprechen könne, ob ich nicht bereit wäre, mit ihnen gegen den Rest der Welt vorzugehen, ob ich ihnen nicht zur Seite stehen könne, ob sie sich nicht regelmäßig mit mir treffen könnten.
Natürlich sollte ich diese Leistungen aus reiner Nächstenliebe erbringen.
Nahm ich mir die Freiheit heraus, hier erklären zu wollen, dass ich das weder könne noch wolle, dass es aber unter Umständen die Möglichkeit geben würde, meine Dienstleistungen wie Coaching und Ghostwriting et cetera im geschäftlichen Rahmen als Kunde zu nutzen, wurde ich beleidigt. Teilweise fand ich die Kontaktaufnahmen so seltsam, dass ich gar nichts mehr verstand.
Im Coaching hätte ich bei solchen Menschen immer gesagt, dass es meine Kompetenz überschreiten würde, wenn ich ihnen eine Beratung anböte, denn die Personen verhielten sich mir gegenüber fernab jeglichen „normalen“ Verhaltens. Ihr Redefluss war schnell, ging ohne Punkt und Komma vonstatten. Bedeutungserleben. 1000 Themen in 3 Sätzen. Es war kein normales Gespräch mehr möglich.
Da muss man doch krank werden
Und so kam es dann auch. Es war zu erwarten, dass es mich irgendwann erwischt. Es hat die ganze Familie erwischt. Damit habe ich gerechnet. Schön ist was anderes, aber welche Krankheit ist schon schön? Man wird krank, man nimmt sich aus dem Geschehen raus, man schläft, man versucht, gesund zu werden, trinkt Tee. Zum Glück sinkt das Fieber. Gut. Geht.
Absolut neu war der Treibsand im Kopf. Als das Fieber schon weg war und der Schnupfen abklang, war der Kopf noch funktionslos. Ein normales Symptom, habe ich mir sagen lassen. Creepy. Ein Kater ohne Kater und wieder das Gefühl, sich beständig im Treibsand zu bewegen.
Nur dass es jetzt die Gedanken waren, die mir entglitten, noch bevor ich sie zu Ende gedacht hatte. Das Gefühl, dass einen das eigene Gehirn im Stich lässt. Jeder Satz, den ich aussprach, war spannend: Werde ich am Ende wissen, was ich eigentlich sagen wollte? Werde ich die richtigen Worte finden? Es ist ein bisschen so, wie wenn man etwas sucht, von dem man weiß, dass es da ist, es aber einfach nicht findet.
Es wird besser, oder ich glaube es zumindest.
Alles nichts, im Vergleich zu dem, was gerade passiert
Aber was sind diese Erfahrungen schon im Vergleich zu dem, was nun mit den Menschen passiert. Menschen, die Kriegsopfer werden? Diese Menschen haben keine Wahl. Unschuldige Menschen, Zivilisten, Kinder, Familien. Und auch diese Menschen sind die letzten zwei Jahre durch eine Pandemie gegangen und in Maßnahmen getrieben worden. Und nun noch das?
Wenn ich das Gefühl habe, dass meine Kraft nicht mehr ausreicht, wie muss es dann Menschen in einem Kriegsgebiet gehen? Ich schäme mich meiner mangelnden Frustrationstoleranz und eruiere die Reste meiner Resilienz, während Menschen im Krieg alles verlieren.
Ich kann nicht abschalten, ich kann es nicht verstehen, es zerreißt mich.
Resilienz
Mittlerweile ist es ein Modewort. Jede Person, die es ohne den ebenso modern gewordenen Burn-Out durch den Alltag schafft, ist resilient. Resilienz beschreibt die Fähigkeit, Extremsituationen durchzustehen, ohne seelischen Schaden zu erleiden.
Bestandsaufnahme und Notenvergabe:
Setzen. 6.
Durchgefallen.
Die Fähigkeit, Extremsituationen schadlos durchzustehen, wird durch mehrere Faktoren bedingt. Resilienz setzt sich aus
- Selbstbewusstsein,
- Kontaktfreude,
- Gefühlsstabilität,
- Optimismus,
- Handlungskontrolle,
- Realismus
- und Analysestärke zusammen.
Ich bin mir meiner Selbst bewusst, ob ich mir auch noch selbst vertraue, das bezweifle ich mittlerweile. Freude an Kontakten sollte niemand mehr haben, das wurde uns in den letzten zwei Jahren eingetrichtert. Kontakte sind gefährlich und zu vermeiden.
Stabile Gefühle? Hm. Ja höchstens das Gefühl, nach Strich und Faden vergackeiert zu werden, das ist relativ stabil.
Optimismus und Handlungskontrolle? Guter Witz.
Realismus? Ja, es ist noch schlimmer, als ich dachte. Jetzt ist auch noch Krieg.
Analysestärke? Welche Stärke? Welche Analyse?
Bestandsaufnahme persönliche Resilienz
Ich habe keinen objektiv nachvollziehbaren und vernünftigen Grund, nicht resilient zu sein. Vor allem im Vergleich zu den Menschen, die exakt das Gleiche durchgemacht haben und jetzt zu Kriegsopfern werden. Was tut man diesen Menschen an? Wie sollen diese Menschen stabil bleiben, für ihre Kinder da sein, leben, überleben?
Dennoch entgleitet mir alles, ich verschwinde im Treibsand.
Auf meiner Suche nach den Erkenntnissen über Resilienz stieß ich auf den Neurowissenschaftler Raffael Kalisch. Kalisch leitet das Mainzer Resilienzprojekt, eine Langzeitstudie des Deutschen Resilienz-Zentrums. Oben habe ich den Artikel aus „Psychologie heute“ aus dem Jahr 2017 verlinkt. Mich würde interessieren, was Kalisch zur Resilienz in Pandemie-Zeiten heute zu sagen hätte. Vielleicht frage ich ihn?
In dem oben erwähnten Langzeitprojekt begleiten die Forscher junge Menschen viele Jahre. Sie betrachten deren Schulzeit, ihre Ausbildung, die Berufswahl, die damit verbundenen psychischen Belastungen und die Reaktionen darauf.
Kalisch trug die Erkenntnisse im Buch „Der resiliente Mensch. Wie wir Krisen erleben und bewältigen“ zusammen. Ich werde es mir beschaffen. Kalisch stellt die fast schon ketzerisch anmutende Frage, was die Resilienzforschung eigentlich bewirken soll. Ein Drittel der europäischen Bevölkerung litt bereits 2017 an stressbedingten psychischen Erkrankungen. Was also sollte man tun? Den Stress reduzieren, oder die Menschen widerstandsfähiger machen? Nun, da Ersteres nicht funktioniert hat, kann man sich nur noch auf die zweite Möglichkeit konzentrieren.
Und wenn die Menschen dann (noch) besser mit Extremsituationen zurechtkommen, dann muss man auch kein schlechtes Gewissen haben, wenn man einen Krieg anzettelt? So ist das sicherlich nicht gemeint. Hoffe ich zumindest.
Resilienz ist heute wichtiger denn je. Niemand hat behauptet, dass es einfach ist, resilient zu sein und zu bleiben, aber leider hat auch niemand gesagt, dass es so schwer werden würde.
Widerstandsfähig bleibt die Person, die das Gefühl hat, dass sie doch noch etwas bewirken kann. Wird die seelische Widerstandsfähigkeit auf das Fundament der Hoffnung und des Glaubens gebaut? Die abgeklärten Optimisten kommen stark durch die Krisen, nicht die hoffnungslosen.
Lernprozess
Kalisch macht Mut. Resilienz kann man lernen. Der Lernprozess dauert lange und benötigt viel Zeit und Aufmerksamkeit. Im Moment habe ich das Gefühl, dass die Lernbedingungen sich allerdings eher verschlechtern als verbessern. Jetzt muss man Resilienz lernen. Nie waren die Bedingungen so schlecht dafür.
Am Ende dieses langen Beitrags habe ich zumindest das Gefühl, etwas getan zu haben und mich wieder etwas mehr auf mein Hirn verlassen zu können. Vielleicht sollte das für den Anfang reichen?
Und dann denke ich wieder an den Krieg. Wie soll man sich da nicht unterkriegen lassen?
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