Drei Akkorde gegen Massenmord

Dass der Krieg heute wieder auf dem Vormarsch ist, liegt auch daran, dass wir in einer Epoche ohne Musik leben, die diesen Namen verdienen würde.

Rolling Stones, Black Sabbath, Freddy Quinn — die musikalische Allgemeinbildung von Michael Sailer greift sehr weit und ist wahrhaft tabulos. In seinem launigen Rückblick sind politische Geschichte und Kulturgeschichte eng miteinander verzahnt. Wir alle grübeln verzweifelt über das eine große Rätsel unsere Epoche: Wie konnte es so weit kommen, dass die Entrechtung und Ausplünderung der Bürger nicht nur immer neue Gipfel erreicht, sondern dass die Opfer dies über Jahre lammfromm und widerstandslos hinnehmen? Viele Theorien wurden diesbezüglich schon aufgestellt — niemand kam aber auf das eigentlich Naheliegende. Ein freier, rebellischer Geist braucht als Nahrungsquelle ebensolche Musik. Und die ist seit den seligen Zeiten von The Clash und Ton Steine Scherben so gut wie ausgestorben. Sofern man von „Musik“ heute überhaupt noch sprechen kann — eigentlich handelt es sich eher um stromlinienförmiges Kommerz-Gedudel. Der Autor ist überzeugt: Wirkliche Musik hat schon oft in der Geschichte das Schlimmste verhindert und könnte dies noch immer tun, hätten sich Pistorius, Kiesewetter & Co. nicht mit den Produzenten von Schlagern und Plastik-Pop verschworen. Eine neue, widerständige Kultur könnte insofern Leben retten.

„Die nächste Revolution“, schrieb mir vor sieben Jahren ein alter Freund, „wird nicht von Musik ausgelöst. Eher von der Abwesenheit derselben.“

Heute, gut sieben Jahre später, ist mir das wieder eingefallen, weil mir etwas aufgefallen ist: Die Welt, in der wir heute leben, ist gezeichnet durch die Abwesenheit von Musik. Das heißt nicht, dass keine Musik zu hören wäre. Aber es ist keine Musik, die wir da hören, selbst wenn es sich um Musik handelt, die mal Musik war. Inzwischen ist sie das geworden, was man früher „Muzak“ nannte: belangloses Gedudel, das minutenlange Haft in einer Liftkabine erträglich machen, Supermärkte in wenigstens kurzzeitig bewohnbare Orte verwandeln und Lust auf wert- und sinnlose Produkte machen soll.

Dazwischen findet stellenweise noch eine Behämmerung mit monotonen Geräuschschleifen statt, die aufgrund physiologischer Eigenheiten des Gleichgewichtsorgans Zuckungen der Gliedmaßen hervorruft. Und, das sei eingeräumt, es gibt richtig populäre Schlagersänger, die meist aussehen wie wandelnde Doppelwhopper ohne Friseur und eigenes Badezimmer, musikalisch wahlweise an die schlimmsten Momente von Christian Anders beziehungsweise den Böhsen Hosen oder Toten Onkelz anknüpfen und dazu Selbstgeschriebenes absondern, das vor allem durch eine unverbrüchliche Untertanenmentalität, ein bisserl tumbe Partymachaufruferei und plumpe Parolen gegen Randgruppen und Außenseiter auffällt. Eine Revolution ist damit so wenig zu machen wie einst mit Heino, Freddy Quinn und dem James-Last-Orchester.

Ach so, dies sei erwähnt: Ich meine mit „Musik“ hier das, was man früher „Popmusik“ nannte, worüber meine Generation die notwendigen Informationen aus Zeitschriften wie Pop und Sounds erhielt und was im Radio nur dann lief, wenn es gerade noch brav genug war, um in „Pop nach 8“ und „Club 16“ geduldet zu werden, oder man das Glück hatte, AFN empfangen zu können.

Ich hatte das unfassbare Glück, in eine Generation hineingeboren zu werden, in der Popmusik und Revolution annähernd synonym miteinander verwoben waren. Als ich alt genug war, um das, wenn schon nicht zu verstehen, so doch zu spüren — also mit fünf —, erschienen kurz nacheinander das „Weiße Album“ der Beatles und „Beggars Banquet“ von den Rolling Stones.

Letztere wünschte ich mir statt der eigentlich vorgesehenen Matchbox-Autos zu Weihnachten, die andere LP kaufte meine Mutter „für sich“, und fortan wurde unser Wohnzimmer mit aufrührerischen Klängen wie „Street Fighting Man“, „Salt of the Earth“, „Sympathy for the Devil“, „Helter Skelter“ und „Revolution“ derart beschallt, dass unsere Nachbarin — Gattin eines pensionierten Orchestercellisten — ihre Holzpantinen als Paukenschlegel missbrauchte, um damit die Wand zu bearbeiten und zwischendurch „Ruhe!“ zu brüllen, was wir nur hörten, wenn gerade ein Song aus war.

Was Musik und ihr Verschwinden bedeutet, wusste ich schon seit meinem ersten Kinobesuch im Sommer: Da lief im Giesinger Bahnhofskino „Yellow Submarine“, und das, was die Blaumiesen in dem Film anrichteten, wollte ich keinesfalls erleben.

Das ging dann nahtlos so weiter; die Musik entwickelte sich im Wochenrhythmus, wurde wilder, exzessiver, lauter, bunter und — zumindest scheinbar — immer noch rebellischer. T. Rex, Alice Cooper, Slade und Sweet wurden abgelöst von Roxy, David Bowie und Cockney Rebel; es folgten Deep Purple, Black Sabbath und Led Zeppelin sowie das irrwitzige Paradiesgedröhn diverser Progressive-Rock-Vorreiter. Dann kamen Punk und New Wave und brachen mit angeblich nur drei Akkorden alle Dämme des bürgerlichen und künstlerischen Anstands.

Ich erinnere mich besonders intensiv an die Zeit von 1978 bis 1981, als praktisch im Tagesrhythmus die aufregendsten Singles aller Zeiten erschienen, ein ununterbrochener Karneval der musikalischen Grenzüberschreitungen.

Bei fast allen wussten wir beim ersten Hören, dass sie unser Leben bis ins hohe Alter mit einer unglaublichen Mischung aus Liebe, Freiheit, Geist und Anarchie füllen würden, und manche davon fungierten nebenbei Jahrzehnte vor dem Internet wie ein „Stream“ freier Medien, die uns alles mitteilten, was wir über die Welt wissen mussten und was schon damals — lange vor Faeser'schen Zensurbehörden und einem „Digital Services Act“ — aus Fernsehnachrichten und Tageszeitungen nicht zu erfahren war. Noch heute gilt: Wer wissen will, was damals los war, sollte lieber zehn Singles oder die ersten drei, vier Alben von The Clash oder The Jam hören —als Einstieg —, als in ein lehrmittelfreies Geschichtsbuch zu schauen.

Übrigens war damals Krieg. Und zwar nicht nur — wie man das heute nennt — „heiß“, sondern vor allem — wie man das damals nannte — „kalt“. Das heißt: Es wurden zwar nicht mehr ganz so viele Atombomben gezündet wie noch in den Fünfziger -und Sechzigerjahren, aber ununterbrochen handfest damit gedroht. Der Russe, so lautete schon damals die zentrale Lüge der Waffenproduzenten und -händler, wolle die ganze Welt erobern, und deshalb müsse man Europa zu seinem eigenen Schutz in eine radioaktiv verseuchte Wüste zersprengen, in der nie wieder ein Mensch leben könne — und eben auch kein Kommunist. Um diese tröstliche Vorstellung praktikabler zu machen, erfand man sogar noch Neutronenbomben: Die sollten lediglich die menschliche Bevölkerung „versaften“, also in Schleim verwandeln, einen Teil der Gebäude aber stehen lassen.

Ich will mich nicht in Spekulationen versteigen, aber die Popmusik jener Zeit trug mutmaßlich einen gewissen Teil dazu bei, dass derart kriminelle Massenmordfantasien nicht ohne Widerspruch und Widerstand blieben.

„Kriegstüchtigkeit“ ist ein Wort, das damals nicht einmal der radikalste Rechtsextreme auch nur in den Kopf genommen hätte, geschweige denn in den Mund, aber „kriegsbereit“ oder wenigstens „kriegshinnahmebereit“ wollte manch ein Regierungsblödel sein Volk schon haben. Möglicherweise machte es den herrschenden Verbrechern ein bisschen Sorge, dass ihnen der Nachwuchs nicht nur entglitt, sondern offensichtlich Umsturzpläne schmiedete, die auf Vinylschallplatten verbreitet wurden, oder ihnen zumindest mit zynischem Galgenhumor herausgestreckte Zungen und Mittelfinger zeigte.

Hätte der Vietnamkrieg ohne MC5, die Stooges, die Doors und andere Randaleure noch länger gedauert? Wäre die US-Bürgerrechtsbewegung ohne Funk und Soul weniger erfolgreich gewesen? Wären ein Bundeskanzler Willy Brandt und seine neue Ostpolitik denkbar gewesen, wenn die Jugend sich mit Jürgen Marcus, Roy Black und den Les Humphries Singers begnügt hätte? Wie gesagt, ich will nicht spekulieren; jedenfalls war es eine unvorstellbar aufregende, spannende, offene und schöne Zeit, trotz aller Massentötungsdrohungen, und Europa blieb, solange die Musik tobte, zumindest an der Oberfläche friedlich, bis sich nach der Hip-Hop-Explosion der rebellische Geist Anfang der 1990er in bedröhntem Hedonismus erschöpfte und in endlosen Wellen digitaler Aufkochungen und „Deluxe Anniversary Editions“ entschlief, um nie mehr zu erwachen, von ein paar Kleinigkeiten abgesehen.

Ja, und jetzt leben wir im Krieg und in der schockgelähmten Erwartung eines immer noch größeren Krieges, der von einer neuen Generation von Verbrechern aller Parteien mit einer kaltblütigen Menschen- und Lebensverachtung vorangetrieben und eskaliert wird, die man sich 1978 höchstens als Witz — bei den Ramones — oder Horrorvision — bei Throbbing Gristle — vorstellen konnte. Wie sind wir da hineingeraten? Vermutlich zu viele 360-Grad-Wendungen nacheinander, um noch klar sehen zu können. Und was tut die Popmusik — von ein paar verschrobenen Einzelgängern abgesehen, die dafür von der Systempresse entsprechend verpönt werden? Sie jammert zu gleichgeschalteten, auf „Pop-Akademien“ eingebleuten, von KI-Algorithmen optimierten Muzak-Tapeten über irgendwas mit Selbstverwirklichung oder brüllt Hasstiraden über vermeintliche Nazis in tumbe Pulks hinein, die offenbar ihr enthirntes Rezeptionsverhalten ebenfalls auf Pop-Business-„Akademien“ trainieren.

Ob es die sogenannten Stars, die heute trällernd beziehungsweise grölend durch die Stadien ziehen, überhaupt gibt oder ob es sich dabei um Klone, androide Replikanten oder 3D-Projektionen handelt, ist ziemlich egal, und den Rest des Programms füllen siebzig- bis neunzigjährige Mumien mit ihren vierzig bis sechzig Jahre alten Resterampen.

Dafür zahlt man Hunderte Euro Eintritt. The Clash im Schwabinger Bräu kosteten 1980 zwölf Mark, aber damals gab es hitzige Diskussionen in linksradikalen Untergrundgruppen, ob das noch tragbar oder schon ein kapitalistischer Tabubruch war. „Clash is shit!“, brüllte ein ob des „Verrats“ empörter Freund auf die Bühne und bekam dafür Joe Strummers Gitarre auf den Schädel; in Hamburg wurde die Bühne gestürmt und das Konzert abgebrochen.

Was ich meine, ist vielleicht Folgendes:

Als der Chef des Oberkommandos der Wehrmacht, Wilhelm Keitel, 1945 vor Gericht in Nürnberg gefragt wurde, wann der Zweite Weltkrieg für Deutschland verloren war, musste er keine Sekunde überlegen: Das war im November 1941, als die deutsche Armee vor Moskau stand und erkennen musste, dass sie nicht weiterkam, dass die UdSSR nicht zu besiegen war, dass Deutschland also verloren hatte. Was in den folgenden dreieinhalb Jahren in Europa und anderswo passierte, war vollkommen sinnloses Töten, Sterben und Zerstören.

Freilich: Krieg ist immer sinnlos. Krieg ist das Grausamste, was die Menschen erfunden haben, um sich von Pflanzen zu unterscheiden und zu behaupten, sie hätten im Gegensatz zu Löwenzahn, Champignon und Wildschwein eine Zivilisation.

Besonders grausam und grausig ist das, was man heute — seit etwa 1900 — unter „Krieg“ versteht: die systematische Tötung und Zerstörung von allem, was traditionell nichts mit Krieg zu tun hatte und deshalb „zivil“ genannt wurde. Ein zufällig per Zeitmaschine aus dem frühen Mittelalter, dem alten Rom, selbst den fürchterlichen 1630er- und 40er-Jahren in unsere Zeit gebeamter Mensch könnte das, was heute unter dem Motto „Krieg“ veranstaltet wird, nicht als Krieg erkennen: Es ist Massenmord, Massenvernichtung, sonst nichts — kalt, skrupellos, ohne jede Moral, Ethik, ohne Spuren von Gewissen und menschlichem Empfinden.

Ein „siegreiches Volk“ gibt es dabei nie; die Gewinner sind ausschließlich jene paar gewissenlosen Verbrecher, die von der Herstellung der Waffen, der Wiederherstellung der Wirtschaftlichkeit der zerstörten Landstriche und der Ausbeutung der dortigen Rohstoffquellen profitieren.

Die einzige „Regel“, die im modernen Krieg gilt, ist: dass er nicht endet, nicht enden darf, wenn er verloren ist, sondern erst wenn auf einer Seite wirklich alles zerstört ist und es keine Waffen und Ressourcen — auch keine Menschen — mehr gibt, mit denen man ihn weiterführen könnte. Deshalb mußte der Zweite Weltkrieg nach der deutschen Niederlage noch dreieinhalb Jahre weitergehen, deshalb durfte er erst enden, als wirklich alles aus war — und, dies nebenbei, als die USA Gelegenheit gehabt hatten, ihre nagelneuen Superwaffen, die sie für den nächsten Krieg nutzen wollten, an lebendem Material auszuprobieren.

Das Gleiche gilt für den Krieg der USA und der NATO gegen Russland, von dem in Wirklichkeit niemand so genau sagen kann, wann er eigentlich begonnen hat — im Februar 2014? 2003? 1991? Oder doch schon im Mai 1945, als der Plan noch dahin ging, gemeinsam mit den Resten der deutschen Wehrmacht und SS den Russen auch gleich wegzuhauen und ein weltherrschaftliches „Ende der Geschichte“ herbeizuführen? Immerhin wissen wir, wann er verloren war: am 24. Februar 2022, als sich schlagartig herausstellte, dass die Strategie der „Wasserfolter“, der kleinen und größeren Schritte Richtung Osten, der Verunsicherung, Erpressung, Ausblutung und Destabilisierung von Rußland gescheitert war. Dass die Hoffnung, man könne das Land so lange knebeln und strangulieren, bis es in einem Aufstand der geplagten, leidenden Bevölkerung von selber zusammenbricht, auch diesmal vergebens war, wie schon in Vietnam, Afghanistan, den diversen Gegenden des Nahen oder Mittleren Ostens, wo die USA das auch schon probiert hatten.

Was seitdem passiert, ist das, was von November 1941 bis Mai 1945 passierte: sinnlose, grausige Massenvernichtung, die erst wirklich enden kann, wenn der NATO — und das heißt für uns: den mörderischen Verbrecherbanden in deutschen Regierungen — die Nachschubquellen für Waffenlieferungen endgültig versiegen und/oder die Propagandisten des Weitermordens, deren Namen — Kiesewetter, Strack-Zimmermann, Hofreiter, Pistorius, Baerbock und so weiter — wir alle sehr genau kennen, davongejagt sind. Letzteres könnte rein technisch früher geschehen, vor dem endgültigen Zusammenbruch, im Prinzip: jetzt sofort, heute nachmittag noch.

Musik könnte da vielleicht helfen.

Was wäre mit der Disziplin der Wehrmacht geschehen, wenn man sie mit russischen Volksliedern, amerikanischem Blues, afrikanischen Trommeln und Gesängen, dystopisch gedacht mit Glamrock, Punk, Hip Hop oder ihren späteren Landsleuten Ton Steine Scherben beschallt hätte?

Kann ein Mensch, dessen Herz durch bezaubernde, aufpeitschende Klänge mit Sehnsucht, Freude, Wehmut, Widerstand und Liebe erfüllt wird, ein Gerät in die Hand nehmen und damit andere Menschen töten, ohne sich davon irgendetwas Beglückendes zu erhoffen?

Das ist alles romantische Spekulation, ich weiß. Aber heißt das, dass es keinen Versuch, nicht einmal einen Gedanken wert ist?

Und bevor mir jetzt jemand entgegenhält, wenn die Jugend keine rebellische Musik und überhaupt keine Rebellion, sondern lieber gehorchen, sich ein- und unterordnen, mitmarschieren und höchstens beim samstäglichen Komasaufen oder mit pseudofrechem TikTok-Gebimse zaghaft aufmucken wolle, dann sei das doch ihre Sache, halte ich dagegen, dass das wohl so sein mag, aber dass sich die Herrscher dieses Regimes, das diese Jugend auf blutversumpften Schlachtfeldern irgendwo im Osten einem menschenfeindlichen Teufelskult „opfern“ möchte, lieber nicht so sicher sein sollten, dass das auf Dauer so bleibt.


Radio München · Belästigung #32: Drei Akkorde gegen Massenmord — von Michael Sailer