Doppel-Denk
Neudefinitionen und Denkverbote sollen Israel und seine Besatzungspolitik unantastbar machen. Teil 2/2.
Journalist und investigaction-Gründer Michel Collon unterzieht die aktuelle Antisemitismus-Debatte in Frankreich einer kritischen Analyse. Kritik an Israel wird umdefiniert zu Antisemitismus und damit zum politischen und gesellschaftlichen Todesurteil für die Kritiker. Rubikon mit dem zweiten Teil von Collons Essay.
Warum gibt es zwei Definitionen von Antisemitismus?
von Michel Collon
6. Gibt es etwa einen alten und einen neuen Antisemitismus?
Professor François Dubuisson von der Universität Brüssel erklärt die Frage so:
„Die in den letzten Jahren erschienenen Werke und Artikel zum Durchbruch eines neuen Antisemitismus (oder einer neuen Judenangst) sind nicht mehr zu zählen. (…) Die Verteidigung der palästinensischen Sache oder der Antirassismus sollen das Mittel geworden sein, durch das sich auf maskierte Weise ein lange verdrängter unbewusster Antisemitismus ausdrücke“ (1).
Nun, besäßen die Vertreter dieser These die Freundlichkeit, exakt zu erklären, wann dieser „neue“ Antisemitismus aufgetaucht ist? Schließlich erfährt das Projekt Israel von Anfang an stetige und radikale Kritik, wie wir es unter Punkt fünf gesehen haben.
Warum also „neu“?
„Dieser Antisemitismus wäre in dem Sinne neu, dass er anhand von Kriterien bewertet werden sollte, die sich von traditionellen Elementen des Antisemitismus lossagen: Dieser ist klassisch definiert als auf Juden gerichteter Hass. Obwohl diese These von einer Reihe Autoren kritisiert wurde, die kaum des Antisemitismus verdächtig sind, hat sie nicht weniger stark gewisse kürzlich verbreitete offizielle Arbeiten beeinflusst und zielt auf oder mündet in die Kriminalisierung einiger Formen der Kritik an der Politik Israels, die mit dem Antisemitismus gleichgesetzt wird.“
Solchermaßen kritisiert Dubuisson auch einen 2004 von Jean-Christophe Rufin verfassten Bericht:
„Indem er sich auf den sehr verschwommenen Begriff des radikalen Antizionismus beruft, der in Wirklichkeit sehr weit ausgelegt wurde, kriminalisiert der Bericht weitgehend die Kritik der Politik Israels, sei es in ihrer Gleichsetzung mit dem Antisemitismus — der als Form der Rassendiskriminierung eine Straftat ist — oder durch die Einführung eines neuen Deliktes mit ungewissen Konturen.“
Professor Dubuisson stützt sich auf die 2004 erstellte Unterscheidung einer Agentur der EU, die Europäische Stelle zur Beobachtung von Rassismus und Fremdenfeindlichkeit (EUMC, European Monitoring Centre on Racism and Xenophobia):
„Was nicht als Antisemitismus behandelt werden darf und folglich nicht als solcher beobachtet werden muss, ist die Feindseligkeit in Bezug auf Israel als ein Land, das wegen seiner konkreten Politik kritisiert wird. Für jene, die wie wir das Etikett des Antisemitismus ohne Fehler vergeben wollen, spielt es kaum eine Rolle, dass die Kritik an Israel ‒ an dem, was es ist und dem, was es macht ‒ ungerecht, ausgeglichen oder tendenziös ist. (…) Die Kritik wird nur antisemitisch, wenn der unterschwellige Bezugspunkt die Gleichsetzung von Israel zum stereotypen Juden ist.“
Seitdem prangert der Jurist Dubuisson klar „eine gefährliche Konzeption des Antisemitismus an, die die Meinungsfreiheit einschränkt“. Er fordert juristische Exaktheit:
„Die Definition eines so wichtigen wie delikaten Begriffs, wie es der Antisemitismus ist, sollte erstellt werden, indem das Maximum an wissenschaftlicher Vorsicht angewendet wird und solchermaßen, dass sie zu einer allgemein anerkannten Erklärung wird. Der Antisemitismus wird in den meisten Staaten der Europäischen Union als Straftat behandelt und stellt insoweit einen Eingriff in die Meinungsfreiheit dar. Infolgedessen ist verständlich, dass dieses Konzept auf strenge Weise so definiert werden muss, dass einzig Taten oder Meinungen erfasst werden, die hinsichtlich Diskriminierung oder Rassenhass relevant sind. Es geht aber nicht darum, hier Taten oder Meinungen einzubeziehen, die einfach aus dieser oder jener Ansicht heraus als politisch oder moralisch zu verurteilen sind, da unangemessen oder übertrieben.“
Hugh Tomlinson bekräftigt das und schreibt: „Es wäre nicht rechtlich zulässig, eine Aktivität aus dem Grunde zu verbieten, einzig weil sie die Unterstützer des Staates Israel reizt oder diese sie für aggressiv halten“ (2). Man kann niemanden ins Gefängnis schicken, weil seine Meinungen Israel oder eine andere westliche Regierung stört.
7. Ohne gesetzlichen Wert und im Widerspruch zu den Menschenrechten
Hat die Definition der IHRA, die wir unter Punkt zwei und drei analysiert haben, einen gesetzlichen Wert? Nein. Sie ist von ihren Verfassern selbst als „nicht rechtsverbindliche Arbeitsdefinition“ bezeichnet worden. Die seltsame Bezeichnung „Arbeitsdefinition“ drückt lediglich aus, dass es sich um ein Arbeitsdokument handelt und Anregungen oder Vorschläge liefert. Mehr nicht. Und übrigens ist der Begriff „nicht rechtsverbindlich“ eindeutig: Diese Definition hat keine Rechtskraft. Sie kann nicht als Basis für Entscheidungen der Justiz oder anderer Institutionen dienen.
Gewiss, die britische Regierung hat erklärt, diese Definition „annehmen“ zu wollen, was bedauerlich ist angesichts ihrer Ungenauigkeit und der Manipulationen durch die Israel-Lobby. Aber bei dem Begriff „annehmen“ handelt es sich um eine politische Stellungnahme und nicht um ein Gesetz. Außerdem hat diese Regierung angekündigt, dass es keine Änderungen bestehender Gesetze geben würde, denn diese wären ausreichend für die Ahndung rassistischer Handlungen. „Kurzum“, analysiert Hugh Tomlinson, „hat die Entscheidung der Regierung zur Annahme der IHRA-Definition an sich keine unmittelbare oder direkte gesetzliche Konsequenz“ (3).
Außerdem darf keine öffentliche Institution, sei es ein Gericht, eine Universität, eine lokale Verwaltung, „in Konflikt mit der Meinungsfreiheit geraten, es sei denn, es wäre durch den Artikel 10 (2) und die möglichen Begrenzungen der Meinungsfreiheit oder den Artikel 11 (2) bezüglich der möglichen Versammlungsfreiheit gerechtfertigt.“
Hugh Tomlinson erklärte ebenfalls, dass zum Beispiel eine Universität, die unter Druck gesetzt würde, eine Solidaritätsaktion mit den Palästinensern zu verbieten — wie die Boykott-Bewegung BDS –, nicht das Recht habe, diese Aktion auf Basis der Definition der IHRA zu verbieten oder zu fordern, dass die Organisatoren diese Definition gutheißen müssten.
Die „neue“ Definition des Antisemitismus ist tatsächlich sehr gefährlich, weil sie die Meinungsfreiheit und die Gleichheit der Bürger negiert, die durch die Verfassungen Frankreichs, Belgiens und anderer europäischer Länder anerkannt und geschützt ist. Sie widerspricht auch der Europäischen Menschenrechtskonvention, deren obengenannter Artikel 10 garantiert:
„Dieses Recht schließt die Meinungsfreiheit und die Freiheit ein, Informationen und Ideen ohne behördliche Eingriffe und ohne Rücksicht auf Staatsgrenzen zu empfangen und weiterzugeben.“
Das bezieht sich auf wirklich alle Meinungen, selbst wenn sie gegen den Strom gehen. Der Europäische Menschenrechtsgerichtshof hat bestätigt:
„Die durch den Artikel 10 gewährte Meinungsfreiheit (…) gilt nicht nur für Informationen und Ideen, die mit Wohlwollen aufgenommen werden oder als inoffensiv oder indifferent eingeschätzt werden, sondern auch für jene, die brüskieren, schockieren oder beunruhigen: So will es der Pluralismus, die Toleranz und der Geist der Aufgeschlossenheit, ohne die es keine demokratische Gesellschaft gibt“ (Affäre Lehideux/Frankreich, Urteil vom 23. September 1998).
In einem anderen Urteil hat der Menschenrechtsgerichtshof entschieden, dass die Behörden des ganzen Landes selbst die „positive“ Pflicht hätten, „eine günstige Umgebung herzustellen, damit an der öffentlichen Debatte alle betroffenen Personen teilnehmen, selbst wenn ihre Meinungen und Ideen denen offizieller Stellen oder eines großen Teiles der öffentlichen Meinung widersprechen und selbst dann, wenn die Ideen die Öffentlichkeit irritieren oder angreifen“ (4).
Aber der Druck der Lobby schafft gefährliche Präzedenzfälle. In Großbritannien wurde die „Arbeitsdefinition“ im Februar 2017 auf dem Universitätscampus der Zentraluniversität von Lancashire angewendet. Die Universität verkündete das Verbot einer Israël Apartheid Week, weil sie „die Regierungsdefinition zum Antisemitismus verletzt habe“. An der Universität von Manchester wurde Marika Sherwood, Überlebende des Holocaust, auf Druck der Botschaft von Israel hin gezwungen, den Titel ihrer Konferenz zu ändern (5). Es besteht also eine sehr reale Gefahr, dass der Druck der Lobby eine schlechte Definition in ein „Gesetz“ überführt, das unbequeme Meinungen zensiert.
8. Warum hat das Europäische Parlament kapituliert?
Man fragt sich, warum das europäische Parlament es für gut befunden hat, eine neue Definition des Antisemitismus anzunehmen, die ungenau und undeutlich ist und ungenügenden Schutz für die Gesamtheit der Juden bietet. Vielleicht muss man die Erklärung auf der anderen Seite des Atlantiks suchen und Thomas Friedman zuhören? Er ist einer der einflussreichsten US-Journalisten, Herausgeber der New York Times und dreifacher Träger des Pulitzer-Preises. Er ist ein glühender Anhänger Israels und ganz allgemein der Globalisierungskriege. Am 13. Dezember 2011 publizierte er eine erstaunliche Chronik in der New York Times:
„Ich hoffe, dass der israelische Premierminister Benjamin Netanjahu versteht, dass er die ihm in diesem Jahr im Kongress erwiesenen Ovationen nicht für seine Politik erhielt. Der stürmische Beifall ist gekauft und bezahlt worden von der israelischen Lobby. Bei jedem Besuch eines israelischen Premierministers in den USA empfängt ihn der Kongress mit mehr Wohlwollen als selbst den amerikanischen Präsidenten.“
Und woher kommt dieses erstaunliche Phänomen? „Vom Organisationsnetz des jüdischen Leadership und den politischen Aktionskomitees in den USA, die alle aggressiv pro-israelisch sind und die bei den Wahlen für oder gegen den Kandidaten im Kongress erhebliche Mittel liefern können,“ erklärt der englische Journalist Jonathan Cook, der in Palästina lebt (6). Das ist richtig. Jedes Mitglied des Kongresses ist also sehr verletzbar. Man riskiert, großzügige Spender zu verlieren, aber auch, sich einem großzügig finanzierten Gegner gegenüber wiederzufinden.
All das wird bestätigt durch die versteckte Kamera des Films The Lobby, gedreht und dann selbst zensiert von Al Jazeera (7). Ein Direktor dieser Lobby erklärt einem jungen Praktikanten — der in Wirklichkeit mit versteckter Kamera infiltriert wurde —:
„Die Mitglieder dieses Kongresses machen nichts, wenn man sie nicht unter Druck setzt; und das geht einzig nur mit Geld.“
Und in Europa?
Ist dieses Phänomen nur auf die USA begrenzt oder ist Europa genauso betroffen? Man kann ohne Beweise unsere ehrenwerten Europarlamentarier nicht beschuldigen. Aber wenn man konstatiert, dass sie eine Resolution angenommen haben, die in sich nicht haltbar ist, weil sie den elementarsten Definitionen des Wörterbuchs widerspricht und sich den Zensurreden der Regierung Netanjahu zu Füßen wirft, dann muss man sich Fragen stellen. Und alle Hypothesen im Blick haben.
Handelt es sich, vor allem an der Spitze gewisser Parteien, um eine „gekaufte“ Resolution entsprechend der Wortwahl Friedmans? Handelt es sich um die Angst, sich verteufelt und verleumdet zu sehen und seine Chancen zur Wiederwahl zu verlieren? Oder ist es einfach eine Kapitulation vor einer Kampagne, die mit dem Wecken von Schuldgefühlen der Europäer spielt?
Die einzige Möglichkeit, es zu erfahren, wäre die Akzeptanz einer öffentlichen Debatte durch die Europarlamentarier. Sind sie durch falsche Informationen manipuliert worden? Wurden sie bedroht? Müssten sie als gewählte Vertreter nicht vor ihren Wählern Rechenschaft ablegen? Angesichts der im Mai 2019 bevorstehenden Wahlen wäre es zweifellos genau der Moment, sie zu befragen.
9. Glaubt die israelische Lobby ihren eigenen Erzählungen?
Absolut nicht, schätzt Norman Finkelstein ein, dessen Eltern Überlebende der Todeslager sind. Er sagt ganz ehrlich, dass diese Lobbys übertreiben:
„Kann man ernsthaft davon ausgehen, dass angesichts zahlreicher nationaler und globaler Krisen, die die britische Gesellschaft spalten — Obdachlosigkeit, die Sozialversicherung, die Arbeitslosigkeit, der Brexit, die Weiterverbreitung von Atomwaffen, der Klimawandel und andere — der Antisemitismus einen bedeutenden Platz unter den dringenden Angelegenheiten einnimmt, die unsere Aufmerksamkeit verlangen? Oder sollten die begrenzten Reserven Großbritanniens, um gegen diese Leben und Tod betreffenden Probleme zu kämpfen, eher auf die Orientierung eines zukünftigen vagen apokalyptischen Szenarios gerichtet werden“ (8)?
Ja, wenn der Antisemitismus in Großbritannien wirklich so bedrohlich wäre, wären zahlreiche Juden nach Israel emigriert oder würden sich darauf vorbereiten. Die Überlegung Finkelsteins scheint original zu sein, ist aber tatsächlich sehr scharfsinnig:
„Wahr ist, dass die jüdischen Eliten auch nicht einen Moment daran glauben, dass der Antisemitismus ein brennendes Problem wäre.
Wenn sie wirklich eine klar bevorstehende oder absehbare künftige Gefahr fürchteten, schrien sie nicht von allen Dächern, dass Corbyn ein verfluchter Antisemit wäre. Wenn nämlich das Vereinigte Königreich in der Tat von kaum bezähmten Antisemiten bevölkert wäre, käme die Verbreitung dieser Anschuldigung logischerweise einer Gratisreklame für Corbyn gleich, denn sie wäre eine sanfte Musik in den Ohren potentieller Wähler. Weit davon entfernt, ihn zu beschädigen, könnte die Verbreitung den Sieg Corbyns erleichtern und den Weg zu einem zweiten Holocaust ebnen. Die jüdischen Organisationen wissen aber sehr wohl, dass die Herabsetzung Corbyns als Antisemit seine Attraktivität wesentlich verringern wird, denn der Antisemitismus stößt nur bei den Vorsintflutlichen, den Höhlenmenschen und den Gehirnamputierten auf Zulauf. Diejenigen, die Corbyn lynchen wollen, glauben nicht ein Wort dessen, was sie sagen. Sie liefern dafür den unantastbaren Beweis, indem sie ihn als Antisemiten bezeichnen, denn sie hoffen und erwarten, dass er isoliert wird“ (9).
Was also steckt hinter dieser hysterischen Kampagne gegen Jeremy Corbyn, wenn die Lobby selbst ihren Antisemitismus-Vorwürfen nicht glaubt? Es ist ihr Wunsch, Corbyn kapitulieren zu sehen, er soll seine Solidarität mit dem palästinensischen Volk aufgeben. Wenn er nicht nachgibt, wird seine Verteufelung durch die Medien noch viel stärker werden. Sie wird in verschiedenen Formen und unter Anwendung aller Techniken der Manipulation sozialer Netzwerke zu verhindern suchen, dass er Premierminister wird. Das real verfolgte Ziel ist nicht unbedingt das offiziell vorgeschobene.
Deshalb ist es wichtig, die vom israelischen Propaganda-Apparat angewendeten Methoden und seine Technik der Verteufelung zu analysieren und öffentlich zu demaskieren. Corbyn ist nur ein Opfer unter vielen anderen. Es ist Tatsache, dass jede Persönlichkeit, die Israel kritisiert und zur Solidarität mit den Palästinensern aufruft, ins Visier gerät. Das eigentliche Ziel der Lobby, so erklärt Finkelstein, ist nicht „der Kampf gegen den Antisemitismus, sondern eher die Ausnutzung der historischen Leiden der Juden mit dem Ziel, Israel gegen Kritiken zu immunisieren“. Wir kommen darauf zurück.
10. Immer mehr Juden wenden sich vom Zionismus ab
Israel und seine Lobbys geben vor, im Namen der Juden zu sprechen. Im Namen aller Juden. Wahr ist, dass zahlreiche jüdische Autoren diese irreführende Gleichsetzung zwischen „Juden“ und „Israel“ ablehnen. Viele widersetzen sich der Existenz eines Staates, der sich als „jüdisch“ definiert und die Nichtjuden ausschließt oder sie zu Bürgern zweiter Klasse degradiert. Sie üben keine Kritik, weil sie etwa „Antisemiten“ wären, sondern weil sie es als unehrenhaft ansehen, den Kampf gegen den antijüdischen Rassismus und die Rechtfertigung einer israelischen Kolonialpolitik — die sie als rassistisch verurteilen — zu vermengen. Unter ihnen sind Norman Finkelstein, Rony Brauman, Denis Sieffert, Sylvain Cypel, Daniel Lindenberg, Pierre Stambul, Michel Stazewski, Michel Warschawski, Eric Hazan und viele andere.
Selbst in Israel hört man diese Kritik. So hat Susie Becher in der zionistischen Zeitung Yediot Ahronot unter dem Titel Die Regierung warnt vor dem bösen Wolf einen Artikel veröffentlicht: „Die Definition des Antisemitismus durch die IHRA ist problematisch, denn es gibt einen Unterschied zwischen Judenhass und der Opposition gegen die Politik der israelischen Regierung.“ Und Becher warnt die Juden:
„Wenn Israel fortwährend vor dem bösen Wolf warnt, wird die internationale Gemeinschaft der Juden feststellen, dass die berechtigten Warnungen gegen den Antisemitismus auf taube Ohren stoßen. Die Tatsache, dass die israelische Regierung absichtlich die Trennlinie zwischen Antisemitismus und Opposition gegen ihre Politik oder gar die Opposition gegen das Konzept eines jüdischen Staates verwischt, sollte das die Juden der ganzen Welt alarmieren“ (10).
Becher sagt also, dass Israel den Juden schadet, indem es sie mit einer gewalttätigen, rassistischen Politik gleichsetzt, die zunehmend Zorn erzeugt. Des Weiteren bezeichnet sie die in Brüssel gegen die Europarlamentarier organisierte Operation, die wir unter Punkt acht behandelt haben, geradeheraus als Erpressung:
„Diese beunruhigende Erscheinung wurde bei einer Konferenz sichtbar, die diesen Monat in Brüssel abgehalten wurde. Dort versuchte man, von den EU-Abgeordneten die Unterschrift zu einem Text zu erhalten, der auf der Antisemitismus-Definition der IHRA basiert, und das vor den im Mai stattfindenden EU-Wahlen. Es handelt sich um nichts weniger als eine politische Erpressung, denn jeder Parlamentarier mit Vorbehalten würde zu einem Zeitpunkt, in dem er in Bezug auf seine Wähler besonders anfällig für Desinformationen ist, des Antisemitismus beschuldigt. Das Problem liegt nicht in der Definition selbst, die sich im Wesentlichen auf den Hass gegen Juden bezieht. Das Problem sind die veranschaulichten Beispiele, vor allem die Formulierung: Sich gegen den Staat Israel richten oder das Aberkennen des Rechts des jüdischen Volkes auf Selbstbestimmung. Durch diese Sätze vernebelt die IHRA die Unterscheidung von Hass gegen das jüdische Volk auf der einen Seite und die Opposition zur Politik der israelischen Regierung, zum Begriff Israels als jüdischer Staat oder selbst zum Establishment des Staates Israel auf der anderen Seite.“
Eines liegt also auf der Hand. Die offizielle Linie Israels ruft starke Beunruhigung hervor, auch im Lager der Israel-Anhänger. Ein anderes Beispiel ist Kenneth Stern. Man darf ihm keine bösen Absichten unterstellen. Dieser Professor hat Kurse über Antisemitismus gegeben und leitet die Stiftung Justus & Karin Rosenberg, die daran arbeitet, „das Phänomen des Hasses und Antisemitismus besser zu verstehen“.
Als er am 17. November 2017 vor der Justizkommission des US-Kongresses als Zeuge auftritt, spricht er den Wunsch aus, dass „alle Kraft für die Bekämpfung des Antisemitismus auf dem Campus mit den Werten der akademischen Freiheit übereinstimmen möge. (…) Meine Befürchtung ist, dass von außen kommende Gruppen den Versuch unternehmen, ihnen unliebsame politischen Debatten zu unterbinden, anstatt darauf einzugehen. Die Universität, die jüdischen Studenten und die Möglichkeit, über jüdische Fragen zu unterrichten — alles wird darunter leiden“ (11).
In der Tat fürchten Israel und seine Lobbys nicht so sehr die Kritik dieser oder jener Persönlichkeit, sondern vielmehr den Verlust der Unterstützung von jüdischen Bürgern in den USA und vor allem die der jungen Generation. Ihre Unbeliebtheit wird seit einigen Jahren immer stärker. Seit 2013 glauben drei Viertel der jungen Juden in den USA nicht mehr, dass die Regierung Netanjahu „sich ernsthaft für einen Friedensvertrag mit den Palästinensern einsetze“.
Die Meinungsforscher analysierten auch: „Für viele ist das Problem mit Israel nicht nur sein aktueller Premierminister, die Regierungspolitik oder die 51 Jahre Besetzung des Westjordanlandes. Israel selbst stört sie, im Besonderen sein Charakter als jüdischer Staat“ (12). Als man sie fragte, welcher Wert den höchsten Rang in ihrer jüdischen Identität einnehme, antwortete fast die Hälfte, 46 Prozent, dass es die soziale Gerechtigkeit sei, nur 20 Prozent nannte die Unterstützung Israels.
2018 hießen nur 34 Prozent der jüdischen Bürger der USA die aggressive israelische Politik von Donald Trump gut, vor allem die Verlegung der US-Botschaft nach Jerusalem (13). 79 Prozent der republikanischen Wähler sympathisierten mit Israel, aber nur 27 Prozent der demokratischen — auch diese Zahlen hat die Agentur Pew ermittelt. Das fand seinen Widerhall in der Weigerung von Bernie Sanders, während des Wahlkampfes zu den Vorwahlen 2016 beim jährlichen Bankett der Lobby AIPAC zu sprechen.
Die junge Emily Mayer erklärt ihre Ablehnung so:
„Die Unterstützung Israels unter den jüdischen Studenten ist 2016 um erstaunliche 32 Prozent gesunken. Man kann folgenden Fakt nicht ignorieren: Meine Generation hat Israel nur als Besatzungsmacht kennengelernt, die Millionen Palästinensern das Recht auf den Zugang zu Wasser, richtige medizinische Betreuung und die Fähigkeit, ihre eigene Regierung zu wählen, verweigert. Ein solches System dogmatisch zu unterstützen, ist für die von uns gewünschte jüdische Zukunft eine totale Sackgasse“ (14).
Alle diese ungünstigen Umfragewerte beunruhigen die pro-israelische Lobby sehr, zum Beispiel Avital Leibovich, Direktorin des American Jewish Committee in Israel: „Ein wachsender Teil der jungen jüdischen Generation in den USA spürt, dass der Staat Israel nicht mehr die Werte vertritt, an die sie glauben. Diese Situation gefährdet die Unterstützung der amerikanischen Juden für Israel“ (15).
Die Direktorin des israelischen Ministeriums für strategische Angelegenheiten — dem wir uns gleich widmen –, Frau Sima Vaknin-Gil, hat die gleiche Beunruhigung ausgedrückt:
„Wir haben die Generation der Juden verloren, die nach 2000 geboren ist. Ihre Eltern haben mir die Schwierigkeiten erklärt, die sie mit ihren Kindern während des Sabbat-Abends haben. (Die jüngsten) erkennen den Staat Israel nicht an und sehen uns nicht als ein bewundernswertes Gebilde“ (16).
Dieser Verlust hat zwei Folgen. Die erste ist finanzieller Art. Nach einer Studie des israelischen Ministeriums der Diaspora (das heißt der weltweit verstreut lebenden konfessionellen Minderheit. Anmerkung der Übersetzerin) „sind 6,35 Prozent der israelischen Ökonomie an Aktivitäten und Spenden der Diaspora gebunden (…), das bedeutet, Israel verlöre, sollten die Beiträge und Spenden der amerikanischen Juden nicht mehr fließen, eine bedeutende Unterstützungsquelle“ (17). Die zweite Folge wäre: Wenn die junge jüdische Generation Israel nicht mehr unterstützt, schwächt sich der Einfluss der zionistischen Lobby in den USA ab und zweifellos auch die Unterstützung Israels durch die USA.
Von all dem sprechen die herrschenden Medien kaum. Wenn einige auch mitunter den kritischen Israelis das Wort geben, so ist doch die allgemeine Tendenz, eine internationale jüdische Gemeinschaft zu präsentieren, die mehr oder weniger einheitlich hinter dieser Lobby und ihrer aggressiven und böswilligen Kampagne des „neuen Antisemitismus“ steht.
Daher ist es wichtig, die jüdischen kritischen und abtrünnigen Stimmen zu Gehör zu bringen, die wirklich zahlreich sind, aber wenig in den Medien erscheinen. Wichtig ist auch zu unterstreichen, dass jeder ehrliche und ein wenig informierte Mensch, sei er nun Jude oder nicht, diese Politik der israelischen Eliten zurückweist. Die um Netanjahu versammelte Elite gibt vor, alle Juden zu vertreten, aber dieses „Monopol“ muss gebrochen werden. Und deshalb ist es nötig, den wahrhaften Krieg zu demaskieren, den Israel gegen die internationale öffentliche Meinung führt.
11. Der israelische Meinungskrieg
Zuerst muss unterstrichen werden, dass Israel und seine Lobbys nicht nur die Nicht-Juden bekämpfen, wie US-Professor Kenneth Stern, ein Spezialist des Kampfes gegen den Antisemitismus, feststellt: „Wir haben gesehen, dass einige jüdische Studenten, die von anderen als progressiv eingeschätzt werden, und selbst die Studenten der J-Street (J-Street ist eine jüdisch-amerikanische Lobbyorganisation, die dem liberalen beziehungsweise linksliberalen Spektrum zugeordnet wird. Anmerkung der Übersetzerin), die Zionisten und gegen BDS sind, von anderen Juden belästigt und bedroht wurden. Im letzten Mai haben ehemalige Soldaten der israelischen Streitkräfte den Campus der California-Irvine-Universität besucht.
Ein jüdischer Student vertraute mir an, dass er sich sagen lassen musste, er sei kein echter Jude, er sei es nicht wert, Jude zu sein angesichts dessen, dass er die Rechte der Palästinenser unterstütze, und er müsste deshalb seine Kippa abnehmen. Ebenfalls letztes Jahr hat der Verantwortliche einer jüdischen Campus-Organisation an der Universität von Santa Clara (…) unmissverständlich gesagt, dass diejenigen, die die Desinvestition begrüßen würden, sich nicht Juden nennen dürfen (18). Stern prangert die Idee an, „dass die antizionistischen Juden weniger Schutz erhielten als die zionistischen Juden“.
Stern hat Recht. Die Arglist des israelischen Propaganda-Apparates geht sehr weit. So werden die jüdischen Schriftsteller mit Noam Chomsky an der Spitze, die die Kolonialisierung und die Apartheid kritisieren, als „self-hating Jew” — sich selbst hassende Juden — etikettiert, die im Grunde ebenfalls Antisemiten wären. Lächerlich! Man zieht den Rückgriff auf die Zwei-Groschen-Psychiatrie vor, anstatt zuzugeben, dass die israelische Politik eine Debatte wert ist und eigentlich verurteilt werden muss.
Angesichts dieser Ungereimtheiten und Hinterlist ist es Zeit, Fragen zu stellen. Nicht nur zu den in dieser antisemitischen Kampagne benutzten „Argumenten“, sondern auch zu den angewandten Methoden ihrer Verbreitung. Wie gelingt es ihr, das Internet zu überwuchern und zu beherrschen? Naive Menschen können den Eindruck bekommen, dass alle diese im sozialen Netzwerk verbreiteten Verleumdungen aus der Luft gegriffen sind. Oder dass es sich um spontane Initiativen dieser oder jener Person oder von kleinen Gruppen handelt, die von ernsten Überzeugungen getrieben werden. Absolut nicht. Es handelt sich um eine globale Aktion, die im Weltmaßstab geführt wird und sehr koordiniert ist. Von Tel Aviv aus. Durch wen? Durch das sehr diskrete Ministerium für strategische Angelegenheiten, das direkt Premierminister Benjamin Netanjahu untersteht.
Dieses Ministerium für strategische Angelegenheiten koordiniert ein anfangs geheimes Programm der Regierung und der Armee ‒ mit zig Millionen Dollar, skrupellosen Experten, mit mehreren tausend jungen Soldaten und fanatisierten Studenten, die mit zweitausend Dollar im Monat für eine Arbeit von einigen Stunden pro Woche bezahlt werden. Ihre Mission: das Internet ständig zu fluten, Wikipedia zu manipulieren, YouTube zu zensieren, Google zu verfälschen (19). Um jeder Anschuldigung einer Verschwörung zuvorzukommen, zitieren wir hier einzig nur die Verantwortlichen dieses israelischen Propaganda-Apparates. Aus ihren hier folgenden Erklärungen ist eine Reihe von extrem wichtigen Lektionen für den Widerstand gegen diese Verteufelung zu entnehmen.
Als erstes ein Auszug aus den Anweisungen von den Strategen dieser israelischen Kampagne: „Die Verantwortlichen der Delegitimierung Israels sollten wie im Krieg bekämpft werden. Sie sollten anvisiert und bekämpft und nicht auf intellektueller Ebene angegriffen werden; es muss Rückgriff genommen werden auf alle niemals zuvor genutzten Mittel“ (20). Lektion Nummer 1: Flieht die Diskussion und verleumdet sie! Im Wissen um fehlende echte Argumente und in der Gewissheit, die Debatte zu verlieren, empfiehlt der israelische Propaganda-Apparat seinen Agenten, nicht über Fakten zu diskutieren.
Sehr aufschlussreich ist ebenfalls die Anweisung des Generals Eitan Dangot, Koordinator der israelischen Politik in den besetzten Gebieten: „Der Krieg gegen die Delegitimierung und die öffentliche Meinung ist nicht einfacher als der, den man auf dem Schlachtfeld führt“ (21). Lektion Nummer 2: Dieser Krieg wird gegen die öffentliche Meinung geführt, und er wird außerdem von der Armee selbst in die Hand genommen.
Um nicht demaskiert zu werden, wechseln die Programme den Namen und werden fortgesetzt. Eines davon hieß Camera, sein Ziel war die Orientierung Wikipedias zugunsten Israels. Im Jahr 2008 empfahl einer seiner Verantwortlichen, Gilead Ini, seiner Mannschaft von Manipulatoren: „Vermeidet die Wahl eines Namens, der euch als pro-israelisch markiert. Vermeidet, dass die Leute euren wirklichen Namen kennen“ (22). Lektion Nummer 3: Geheim bleiben. Immer eine Debatte vermeiden, die von vornherein verloren ist.
Dieses Ministerium operiert im Ausland auf illegale Weise. Einer seiner Verantwortlichen verrät im Film Die Lobby: „Wir sind eine Regierung, die auf fremdem Territorium arbeitet, und wir müssen sehr, sehr vorsichtig sein.“ Lektion Nummer 4: Es geht um eine internationale, staatliche und illegale Operation.
Mit welchen Methoden? Im Wesentlichen geht es um eine Schlammschlacht. M. Noah Pollak, Exekutivdirektor des Notfallkomitees für Israel (ECI), fasst in dem genannten Film die gegen Kritiker angewandte Methode zusammen: „Um die Nachricht zu diskreditieren, muss man den Überbringer diskreditieren. Wenn ihr die Kampagne BDS behandelt, müsst ihr sagen, dass es eine Gruppe ist, die den Hass und die Gewalt gegen Zivilpersonen propagiert, also den Terrorismus unterstützt.“ Lektion Nummer 5: Diese Agenten haben keine Moral, sie lügen mit voller Absicht, um den Nachrichtenüberbringer zu diskreditieren.
Wie läuft das? Alain Gresh, der in Frankreich den Inhalt des großartigen verbotenen Films beschrieben hat, erklärt es: „Um den Übermittler zu diskreditieren“, muss man unterschiedliche Informationen sammeln, die von seinem Privatleben bis zu seinen beruflichen Tätigkeiten reichen und seine politischen Überzeugungen einschließen.
Die pro-israelische Lobby hat in den letzten Jahren ein Spionagenetz aufgebaut. „Unsere Untersuchungs-Operationen“, begeistert sich M. Baime, „verfügen über eine Spitzentechnologie. Als ich vor einigen Jahren angekommen bin, hatten wir ein Budget von einigen tausend Dollar. Heute umfasst es 1,5 Millionen, wenn nicht zwei. Ich weiß es nicht mal, es ist jedenfalls enorm.“ Aber seine Freunde und er achten auf ihre Unsichtbarkeit. „Wir machen das auf abgesicherte Art und anonym, das ist der Schlüssel“ (23). Lektion Nummer 6: Die Budgets sind enorm und es ist sehr schwierig, gar unmöglich für eine Einzelperson oder eine kleine Gruppe, ihre Ehre zu verteidigen.
Dieser Apparat handelt „auf abgesicherte Art und anonym“, deshalb können nicht informierte Personen glauben, dass die Verleumdungen eine isolierte Erscheinung sind, die von ernsthaften Menschen kommt. Aber was geschieht, wenn die Spione nichts Interessantes finden? Dann nimmt der Apparat Rückgriff auf: Lügt, lügt, es bleibt immer etwas hängen. Er setzt auf Gerüchte. Und zwar nicht nur bezogen auf Israel, sondern auch auf andere Themen, bei denen er Verwirrung stiften kann. Wenn sich zum Beispiel ein Journalist oder Schriftsteller gegen den Krieg im Irak, in Libyen oder Syrien wendet, verdreht man seine Absicht und behauptet, dass er Diktatoren unterstützt oder gar von ihnen bezahlt wäre. Der Apparat lässt die Nachricht über mehrere Zwischenstellen passieren, die unabhängig erscheinen. Übrigens bestätigt ein Verantwortlicher des Apparats im Film Die Lobby die angewendete Methode:
„Bei den Israel-Gegnern ist es am effektivsten, Recherchen zu ihnen anzustellen, die du auf einer anonymen Webseite ins Netz stellst und die du durch gezielte Anzeigen auf Facebook verbreitest.“
Lektion Nummer 7: Der zentrale Apparat nutzt zahlreiche Deckmäntel.
Sind diese Gerüchte vollkommen falsch? Das ist unwichtig, indem man sie von mehreren Seiten aus verbreitet, wird ein Masseneffekt erzeugt: Es gibt keinen Rauch ohne Feuer, und die Menschen, die keine Zeit zum Überprüfen haben, wenden sich aus Vorsicht ab, ohne sich darüber klar zu werden, dass sie manipuliert worden sind. Das Ziel besteht auch darin, die Zielperson in die Defensive zu bringen, sie zu zwingen, ihre Energie in absurden Polemiken oder teuren Prozessen zu vergeuden.
Also, wenn Ihr Name mit Antisemitismus assoziiert auf Google erscheint, obwohl Sie niemals im Leben antisemitisch gehandelt oder auch nur einen Satz in die Richtung geäußert haben, dann fällt das nicht vom Himmel, es ist das Ergebnis einer von Tel Aviv koordinierten Operation.
Zwischen 2009 und 2011 wurden diese Anstrengungen Israels durch kleine Gruppen auf unkoordinierte Weise unternommen. Seitdem hat der Staat die Angelegenheit mit einem enormen Budget in die Hand genommen. Sima Vaknin-Gil, Generaldirektorin des Ministeriums für strategische Angelegenheiten, räumt ein:
„Was die Sammlung von Daten, die Informationsanalyse, die Arbeit über militante Organisationen, den Weg des Geldes betrifft — optimal schafft das nur ein Land mit seinen verfügbaren Quellen. (…) Die Tatsache, dass die israelische Regierung entschieden hat, eine Schlüsselfigur zu sein, bedeutet viel, weil wir Kompetenzen vorweisen können, die keine Nichtregierungsorganisation in dieser Sache besitzt. Wir sind der einzige pro-israelische Akteur, der die Lücken schließen kann. (…) Wir haben das Budget und wir können gut und gern verschiedene Dinge bewältigen.“ Und sie droht: „All jene, die irgendetwas mit der BDS-Initiative zu tun haben, müssen sich zweimal fragen: Soll ich mich auf diese Seite oder lieber auf eine andere schlagen?“ (24).
Hoffen wir, dass diese zynischen und aufschlussreichen Erklärungen die Augen öffnen helfen. Es gibt noch viel zu viel Naivität unter den fortschrittlichen Menschen: Sie werden es doch nicht wagen, das zu tun! Oh doch, sie wagen es. Um das Markenzeichen Israel zu verteidigen, das durch manche Straftat ernsthaft diskreditiert ist, bleibt ihnen nur eine Waffe und das ist die Erpressung mit Antisemitismus — mittels einer organisierten und massiven Verleumdung. Den Nachrichtenüberbringer diskreditieren, in Verruf bringen, damit man nicht über seine Nachricht diskutiert.
12. Die „antisemitische“ Beschuldigung ist die letzte ihnen verbliebene Waffe
Warum zeigt sich dieser Apparat so aggressiv und verbittert? Der Grund liegt in der Beunruhigung der israelischen Elite. Sie fürchtet, die Schlacht um die internationale Meinung zu verlieren, so wie die USA sie eines Tages bezüglich des Vietnamkrieges verloren haben. Die Elite bemerkt, dass die Juden der Vereinigten Staaten, insbesondere die junge Generation, sich von Israel abwenden.
Aber auch die Europäer haben mit dem schönen Bild von Israel gebrochen, das mit einem ausgeklügelten Marketing erzeugt wurde. Es wurde widerlegt durch Fakten, die dank des Internets viel freier zirkulieren. Seit 2003 liegt eine Umfrage der Europäischen Kommission vor, nach der für 59 Prozent der Befragten Israel „die erste Bedrohung für den Frieden in der Welt“ ist (25).
Die gegen Gaza begangenen Aggressionen und andere Verbrechen haben diese Wahrnehmung verstärkt. Im Mai 2018 hat eine im Auftrag der Union der jüdischen Studenten Frankreichs durch IFOP vorgenommene Erhebung (26) eine empfindliche Beschädigung des Israel-Bildes in Frankreich festgestellt:
- 57 Prozent der Befragten haben ein „schlechtes Bild von Israel“,
- 69 Prozent ein „schlechtes Bild vom Zionismus“.
- 71 Prozent denken, dass „Israel eine schwere Verantwortung durch die Abwesenheit von Verhandlungen mit den Palästinensern trägt“.
- 57 Prozent urteilen, dass „Israel eine Bedrohung für die regionale Stabilität ist“.
- 50 Prozent bezeichnen den Zionismus als eine „rassistische Ideologie“.
Ein schlechtes Zeugnis! Und doch bleibt einiges an Konfusion, denn 54 Prozent denken noch, dass „der Antizionismus eine Form des Antisemitismus ist“. Das ist unvereinbar: Wie kann man denn Rassist gegenüber einer rassistischen Ideologie sein? Aber das macht den Einfluss des Antisemitismus-Propagandafeldzuges deutlich, den die französischen Polit- und Medieneliten verbreiten.
Das ist der entscheidende Punkt und genau das psychologische Schloss, das es zu knacken gilt ‒ die besagte Erpressung mit dem Antisemitismus. Das ist die wirklich letzte Waffe, die Israel bleibt: Die Verleumdung derjenigen, die Fakten bringen, die Verteufelung derer, die alarmieren und die Erweckung von Schuldgefühlen bei der Öffentlichkeit.
Wie also gegen die manipulatorische Erpressung vorgehen? Meiner Meinung nach ist es sehr wichtig, die Erkenntnis zu verbreiten, dass die jüdische Gemeinde nicht vereint hinter Israel steht, und das Wissen über Israels „Antisemitismus“-Kampagne weiterzugeben: Den anderen vorhandenen Strömungen in dieser Gemeinde das Wort erteilen, in all der Flut an Infos und Meinungen das Monopol der zionistischen Lobby brechen. Und die progressiven und antirassistischen Organisationen aufrufen, dass sie sich nicht fürchten sollen, diese Debatte zu führen.
Allgemeiner gesagt geht es um die bessere Koordination von Anstrengungen derer, die über Israel informieren, oft sehr gut sogar, aber zu verstreut. Gemeinsame Kampagnen erstellen, die Untersuchungen und die Veröffentlichungen über die reale Geschichte Palästinas organisieren. Mehr Übersetzungen von in anderen Sprachen veröffentlichten Dokumenten anfertigen. Eine Beobachtungsstelle der Zensur und der Desinformation einrichten und so fort.
Seit den siebziger Jahren, mit dem Prozess gegen Eichmann, hat sich Israel zum Refugium der Juden erklärt, die durch neue Hitler bedroht sind. Aber das hat nicht funktioniert. „Dieses Scheitern“, schlussfolgert der israelische Historiker und Journalist Tom Segev, führte zu einer großen ideologischen Verwirrung in Israel. Deshalb musste die zionistische Ideologie durch dunkle Vorhersagen über die Zukunft der jüdischen Weltgemeinschaft verstärkt und die Bedrohung durch einen neuen Holocaust ins Gedächtnis gerufen werden“ (27).
Die aktuelle Kampagne der Erpressung mittels Antisemitismus ist in der Tat die letzte Waffe, die dem Propaganda-Apparat Israels bleibt, alles andere ist durch Fakten widerlegt worden. Wenn es uns gelingt, diese letzte Waffe zu neutralisieren, ist der Weg also offen: Alle ehrlichen und informierten Bürger verwerfen die Politik Netanjahus ganz und gar und fordern Frieden und Gerechtigkeit. Die konkrete Solidarität kann durch die Boykottinitiative BDS gestärkt werden. Eine solche Bewegung hat wesentlich dazu beigetragen, das südafrikanische Apartheidregime in den neunziger Jahren zu überwinden und Ähnliches kann erneut gelingen. Das erfordert aber, nicht mehr auf Erpressungen und Gegenattacken einzugehen und die Spionage, die Verleumdungen und die Erpressungen der Lobby aufzudecken.
Man muss aufzeigen, dass die Definition des „neuen Antisemitismus“ verkehrt und gefährlich ist. Die Juden werden dadurch nicht geschützt, sondern im Gegenteil durch Israel in Gefahr gebracht. Schluss mit der Gedankenpolizei, Schluss mit dem Monopol und mit der aktuellen Hexenjagd!
Redaktionelle Anmerkung: Dieser Text erschien zuerst unter dem Titel „Antisémitisme : pourquoi y a-t-il deux définitions ?“. Er wurde von Alexandra Liebig aus dem ehrenamtlichen Rubikon-Übersetzungsteam übersetzt und vom ehrenamtlichen Rubikon-Korrektoratsteam lektoriert.
Quellen und Anmerkungen:
(1) Francis Dubuisson, Vers une criminalisation de la critique de la politique d’Israël ?, Cahiers du Libre Examen — ULB, mars 2006.
(2) Hugh Tomlinson, In the matter of the adoption and potential application of the International Holocaust Remembrance Alliance working definition of antisemitism. Point 19.
(3) Hugh Tomlinson, In the matter of the adoption and potential application of the International Holocaust Remembrance Alliance working definition of antisemitism. Point 13.
(4) Cour européenne des droits de l’homme, arrêt du 14 septembre 2010, condamnant la Turquie à propos de la non- The Times of Israël, 21 protection du journaliste assassiné Hrant Dink.
(5) UK university censors title of Holocaust survivor’s speech criticizing Israel, 29 septembre 2017.(5
(6) Michel Collon, USA, les 100 pires citations, Investig’Action, 2018, citation 91.
(7) https://www.aljazeera.com/investigations/thelobby/
(8) http://normanfinkelstein.com/2018/08/25/finkelstein-on-corbyn-mania/
(9) http://normanfinkelstein.com/2018/08/25/finkelstein-on-corbyn-mania/
(10) Susie Becher, The government that cried ‘wolf ‘, yetnews, 31. November 2018
(11) Schriftliche Aussage für die Anhörung des 7. November 2017 zur Examinierung von Antisemitismus auf dem Campus
(12) Pew Research Center, 1. Oktober 2013.
(13) AJC Comparative Surveys of Israeli, U.S. Jews Show Some Serious Divisions, 10. Juni 2018.
(14) https://www.haaretz.com/opinion/.premium-progressives-welcome-aipac-is-all-just-gaslighting-1.5871623
(15) AJC Comparative Surveys of Israeli, U.S. Jews Show Some Serious Divisions, 10. Juni 2018.
(16) Alain Gresh, Lobby israélien, le documentaire interdit, Monde Diplomatique, September 2018.
(17) https://gulfnews.com/opinion/op-eds/are-american-jews-losing-interest-in-israel-1.2275678
(18) Schriftliche Aussage für die Anhörung des 7. November 2017 zur Examinierung von Antisemitismus auf dem Campus
(19) Michel Collon, Comment Internet manipule Internet et l’opinion, https://www.investigaction.net/fr/comment-israel-manipule-internet-et-lopinion/
(20) Resümee der elften Konferenz der Herzliya, herzliafonerence.org, zitiert von Ilan Pappé, La Propagande d’Israël, Investig’Action, 2016, S. 429
(21) Eitan Dangot, Strategies for Countering Delegetimisation and for Shaping Public Perceptions, panel discussion Netanay Academic College, 16. April 2012.
(22) Von Electronic Intifada abgefangene und publizierte E-Mails, 21. April 2008
(23) Alain Gresh, Israelische Lobby, der verbotene Dokumentarfilm, Monde Diplomatique, September 2018.
(24) A. a. O.
(25) Institut Gallup, Oktober 2003.
(26) Die Franzosen und das Bild von Israel, Umfrage von IFOP durch die UEJF, 14. Mai 2018. Das Ergebnis ist auf der IFOP-Seite nicht mehr zugänglich, aber auf der Webseite La règle du jeu (französisch)
(27) Tom Segev, Les premiers Israéliens, Calmann-Lévy, 1998, S. 140.