Die Zukunft der Vergangenheit
Damit unsere Geschichte im Zuge der Digitalisierung nicht ausgelöscht wird, muss das Leben wieder stärker offline stattfinden.
„Wer die Enge seiner Heimat begreifen will, der reise. Wer die Enge seiner Zeit ermessen will, studiere Geschichte“ (Kurt Tucholsky). Doch wie schreibt man diese Geschichte, wie sorgt man im Zeitalter der „Cloud“ dafür, dass kommende Generationen sich an ihre Vergangenheit werden erinnern können? Die virtuelle Welt ist von technisch bedingter Auslöschung ebenso bedroht wie von politisch motivierter Zensur. Damit nicht alle Aufzeichnungen unserer Vergangenheit im digitalen Off verschwinden, müssen wir auf gute alte Kulturtechniken zurückgreifen: von Buch und Tagebuch bis hin zum Fotoalbum.
Futur II — eine etwas umständlich zu handhabende, moribunde grammatikalische Tempusform, der im Deutschunterricht, an den ich mich aus meiner Jugendzeit erinnere, nicht allzu viele Sympathien zuteil wurden. Zahlreiche Klassenkameraden hatten veritable Schwierigkeiten mit dem für ihre Anwendung erforderlichen Geschick im Satzbau, fanden die Variante umständlich und suchten sich daher einfachere Wege, um das Gewünschte auszudrücken.
Ein leichtfertiger Einsatz des Gelernten könnte unter Umständen das Fehlerrisiko bei Prüfungen erhöhen, zu schlechteren Zensuren führen, also vermied man ihn. In meinen Augen dagegen barg diese Art und Weise, Mutmaßungen über die Zukunft zu formulieren, die Möglichkeit für amüsante sprachliche Spielereien. So entwickelte ich einigen Elan dabei, mit Worten und Tempora möglichst komplexe Satzgebilde zu zeichnen.
Schreiben hatte für mich schon immer etwas von Malen mit Buchstaben. Erst zu einem späteren Zeitpunkt wurde ich gewahr, dass diese semantische Finesse der hiesigen Schriftsprache eine fundamentalere, eine philosophische Frage aufwarf: Was ist die Zukunft — und wie schreiben oder beschreiben wir sie? Anhängig: Was ist die Vergangenheit, „die Geschichte“, und wie soll man im Lichte möglicher Antworten auf diese scheinbar simplen Fragen sinnvoll mit der wertvollen wie kurzlebigen Gegenwart der zerbrechlichen menschlichen Existenz umgehen?
Was also ist Vergangenheit? Was Geschichte? Was wissen wir aus der Zeit vor unserer Geburt, über Warum und Woher? Die Antwort erscheint zunächst trivial: Sie sind das, was vor der Zeit, die wir jetzt erleben, passierte. Das, was von Menschen, die vor uns lebten, konzipiert, kreiert und dokumentiert wurde und die oft fatalen Wirren der Zeit überdauerte.
Wir kennen die Geschichte von den Erzählungen der Ältesten, aus Büchern, lernen sie im Schulunterricht, sehen sie dank Hochglanzdokumentationen sogar in bewegten Bildern. So meinen wir zu wissen, wie die Welt entstand, der Homo sapiens sich entwickelte, wie Kriege aufflammten und gewonnen wurden, was Sokrates dachte, Jesus tat, Fernando Pessoa bewegte, was Mussolini, Mao, Hitler oder Idi Amin trieb, arabische Völker wollen und der afrikanische Kontinent braucht.
Während wir all das Gelernte für bare Münze und als Startkoordinate unseres Denkens, Fühlens und Agierens nehmen, stellen wir kaum jemals die Frage, wessen Zielen der „offizielle Tathergang“, die gängige Interpretation der Vergangenheit, die anerkannte Geschichtsschreibung eigentlich dient. Wir hinterfragen nicht, wie man uns dazu bewegte, zu glauben, dass es normal sei, wenn Demokratie von Langstreckenbombern abgeworfen anstatt vom Demos ausgeübt wird — und wie die von Deutungseliten goutierte Variante der zivilisatorischen Historie überhaupt Eingang in die schulisch relevanten Annalen unserer Spezies nahm. Wir beschäftigen uns zu selten mit dem Umstand, dass die Gegenwart die Vergangenheit der Zukunft ist.
Deutlich wird der Ausgangspunkt dieser Gedankengänge beim Spiel mit dem Tempus, formuliert man einen schlichten Satz in Futuren. Zum Beispiel: „Wenn ich einmal gestorben sein werde, wird mein Vermächtnis meine Zukunft sein.“
Diesem Vektor folgend werden diejenigen, die in der Zukunft existieren, nur das von mir wissen können, was ich in der Gegenwart erschaffe und ihnen hinterlasse. Mein Heute formt mein Morgen, die Zeit, in der ich nicht mehr lebendig, aber Teil einer Vergangenheit sein werde — während meine Jetztzeit zu großen Teilen von dem bestimmt wird, was ich über die Vergangenheit zu wissen vermute.
Aus dem Selbstverständnis meines Wissens um Geschichte, um Gut und Böse, Sieger und Verlierer, Helden und Despoten leiten sich moralische Grundwerte, politische Überzeugungen, kulturelle Zugehörigkeiten und religiöse Affinitäten ab. Das, was vom Vergangenen überliefert ist, ob Katastrophe oder Triumph, Lüge oder Wahrheit, hat nicht nur die faktische Gegenwart ermöglicht, die normative Realität, sondern auch das Identitätsdenken des hier und jetzt lebenden Individuums. Sein Sozialverhalten, seine Reflexe, die evolutionäre Entwicklung der fleischlichen Hülle, seine Ängste und Träume.
So führen derartige Überlegungen unweigerlich zur Frage, wem die im Bildungssystem gelehrte Interpretation zurückliegender Zeiten dient. Der slowenische Schriftsteller Zarko Petan war diesbezüglich sehr deutlich und konstatierte:
„Die Historiker verfälschen die Vergangenheit, die Ideologen die Zukunft.“
Wer profitiert von den geopolitischen, sozialarchitektonischen, physikalischen und religiösen Erzählungen, die in Literatur, Medien und Bildungssystemen als absolute Wahrheit angepriesen werden? Wer definiert Wahrheit? Und wie kommen die Abhandlungen, Dokumentationen und Erzählungen darüber zustande?
Wird das Buch eines kritischen Autors der 2020er-Jahre in einer fernen Zukunft auch an Grund- und Hochschulen als Zeitzeugnis besprochen werden? Wird man lehren, dass die Coronakrise eine dystopische Pandemie war — oder wird man den Heranwachsenden erklären, dass die Bevölkerung von korporatistischen Plutokraten betrogen wurde und es primär um Macht, Überwachungsstaatlichkeit und Milliarden für die Pharmaindustrie ging? Ist unser aller Leben Teil des Lehplans kommender Generationen — oder wird die Geschichte wieder nur von den „Gewinnern“ geschrieben, jenen Zeitgenossen, die in exponierter Position den Lauf der Geschichte oder zumindest die Form seiner Überlieferung zu beeinflussen vermögen?
Das ist keine rhetorische Frage. Denn vom Zeitalter der „Cloud“, in dem der Brief durch E-Mail- und Messenger-Dienste ersetzt, die Musik gestreamt, Kunst als NFT (Non Fungible Token, zu Deutsch „nicht ersetzbares Token“; das kann jede digitale Datei sein), angeboten, das Familienalbum auf dem iPhone geführt und das Buch auf dem Tablet geschrieben oder gelesen wird, bleibt nach einem EMP (Elektromagnetischer Puls) oder Sonnensturm vielleicht nicht allzu viel übrig. All die Daten, ob auf Festplatte im Keller oder auf Serverfarmen der Konzerne, könnten sich binnen Sekunden in Wohlgefallen auflösen. Lebenswerke, gelöscht in einem Wimpernschlag.
Die zusehends rigide Kontrolle des Sagbaren, die automatisierten Einschränkungen des digitalen Debattenraums, monopolistisch algorithmisierte Plattform-Zensur sowie das individuelle Phlegma des Homo sapiens im Medienzeitalter tun ihr Übriges, um die Vollständigkeit wahrheitsgemäßer Überlieferung des Istzustands für kommende Jahrzehnte und Jahrhunderte zu gefährden. Bekanntermaßen hielt schon George Orwell in diesem Zusammenhang fest:
„Wer die Vergangenheit kontrolliert, kontrolliert die Zukunft. Wer die Gegenwart kontrolliert, kontrolliert die Vergangenheit.“
Anno dazumal hatten es Despoten jedoch deutlich schwerer in puncto Zensur. Denn bis vor nicht allzu langer Zeit war es war ein Ding der Unmöglichkeit, aller Exemplare eines unliebsamen Buches, einer aufrührerischen Platte, eines verbotenen Plakats, Magazins oder Flugblatts habhaft zu werden.
Dank dieser Umstände, dank der physischen Reproduktion und sozialen Multiplikation von Ideen und Gedanken, sind wir heute in der Lage, zumindest wenn wir Patina, Pathos und Paradigmen vom Kern der Erzählung zu unterscheiden vermögen, die Überzeugungen, Leiden, Abgründe und Verdienste unserer Vorfahren zu erahnen — auch wenn das in ihrer Ära herrschende System mit allen Mitteln versuchte, ihre Stimme zu unterdrücken, um sie aus der Fortschreibung der Zeit zu tilgen. Dank traditioneller Publizistik und physischer Medien hören wir sie bis heute.
„Geschichte lehrt die Menschen, dass die Geschichte die Menschen nichts lehrt“, soll Mahatma Ghandi gesagt haben. Allenthalben lehrt uns die Geschichte nebst unglaubwürdigen Erzählungen der „Gewinner“ aber auch ganz einfache, unstrittige Tatsachen. Zum Beispiel, dass man vor etwas mehr als hundert Jahren noch keine Erlaubnis der Regierung benötigte, um zu heiraten, ein Haus zu bauen, angeln zu gehen, eine Grenze zu passieren, Haare zu schneiden, ein Geschäft zu eröffnen, Regenwasser zu sammeln, Gemüse anzubauen, Nutztiere zu züchten oder zu protestieren. Man tat es einfach. Und auch die Abgabenlast in Form des „Zehnt“ war im Altertum vergleichsweise gering. Dagegen muss man die Lohnabzüge der Postmoderne unumwunden als Raubzug bezeichnen. So helfen historische Fakten bei der Kontextualisierung des Status quo. Auch wenn die Lehrmeinung darüber, wie wir diesen erreicht haben, en gros infrage zu stellen ist.
Was wird von der flüchtigen Kommunikation, der digitalen Korrespondenz, von Online-Fotoalben und der Kunst dieser Epoche bleiben? Und wo? Wer kontrolliert die gesicherten Daten? Wie wird das Wissen jener weitergegeben, die im Jahr 2023 erkannten und dokumentierten, dass sich ein neuer Totalitarismus erhebt, die versuchten zu kommunizieren, dass man nicht frei ist, wenn man für praktisch alles die Einwilligung eines technokratischen und zunehmend übergriffigen Systems einholen muss? Dass man Souveränität und Autonomie vollends einbüßt, wenn man zur gesichtslosen Verfügungsmasse eines in Rage geratenen Kollektivs, dessen Denkmuster wie hypnotisiert den Emotionsamplituden wohldosierter Empörungsschübe folgen, degradiert wird? Als zahlendes Nutzvieh, gehalten auf einer Steuern- und Abgabenfarm, in einem Freiluftgehege, dessen aus Nullen und Einsen bestehender Stacheldrahtzaun kontinuierlich enger gezogen wird.
Wie soll die Zukunft von einer Generation erfahren, deren Leben, deren Widerstand, deren Kultur im digitalen Raum stattfindet, deren Alltag von Apps, Profilen, Programmen und Plattformen bestimmt wird? Was übersteht den Test der Zeit, wenn die virtuelle Domäne von Tag zu Tag labiler, unfreier und unzugänglicher wird? Werden die physisch gedruckten Bücher, Magazine und Zeitungen dieser Jahre genügen, um abzubilden, was geschehen ist? Die wenigen CDs und Schallplatten? Wissen wir nicht oft erst durch Tagebücher, Briefe, vergilbte Fotos, Kalender und persönliche Dokumente, was Zeitzeugen dereinst wirklich bewegte? Notierten und kommunizierten sie nicht gerade im Privaten jene Puzzleteile der Wahrheit, die nicht Eingang in offizielle Publikationen fanden? Teilen uns nicht oft gerade alte Fotografien mehr über Zusammenhänge, Netzwerke und Intentionen mit als manch gedrucktes Buch?
Aus diesen Überlegungen scheint sich ein Imperativ abzuleiten: Schafft und erhaltet so viele Printmedien, Tonträger und Kunstwerke wie möglich — nutzt die Gegenwart, um an der Zukunft zu arbeiten!
Eurer Zukunft. Schreibt Karten, Briefe und Tagebücher, druckt bedeutsame Online-Konversationen aus, legt Fotoalben an, benutzt Kalender aus Papier, sichert Daten auf externen Festplatten. Nur so wird sich für kommende Generationen ein halbwegs zutreffendes Bild ihrer Vergangenheit rekonstruieren lassen. Die Zukunft ist jetzt.
„Jeder möge sein eigener Geschichtsschreiber sein, dann wird er sorgfältiger und anspruchsvoller leben“ (Bertolt Brecht).