Die Zeitenwende
Das kybernetische Zeitalter ist gerade dabei, das industrielle abzulösen. Exklusivabdruck aus „Zeitenwende“.
Wir befinden uns im Übergang vom industriellen zum kybernetischen Zeitalter. Die Wirtschaftshistorikerin Andrea Komlosy beschreibt in ihrem neuen Buch „Zeitenwende. Corona, Big Data und die kybernetische Zukunft“ die Coronakrise als dynamisierendes Element diese Epochenwechsels. Mit den Corona-Gesetzen wurden Home Office und Onlinehandel zur Grundlage des Überlebens. Sie dienten der Verhaltenseinübung in neue Kulturtechniken. Medizinische Überwachung, Bewegungskontrolle und biopolitische Konditionierung verwandeln den Körper in ein Interventionsfeld für Datenextraktion, Optimierung und Kontrolle. COVID-19 wird an Schrecken verlieren. Die Akzeptanz von Verdatung und Tracking ist jedoch Bestandteil des Alltags geworden. Schließungen und Absonderungen können jederzeit reaktiviert werden, wenn dieser Trend keine antisystemische Gegenbewegung zu entfachen vermag. Eine solche muss Lebensqualität statt Komplexität zum Ziel erheben sowie Selbstbestimmung und demokratische Kontrolle der zukünftigen Entwicklung einfordern. Rubikon veröffentlicht im Folgenden einen Textabschnitt aus dem Buch.
Die Leitsektoren des kybernetischen Zeitalters
Hinter dem englischen Akronym MANBRIC verbergen sich die folgenden Branchen beziehungsweise Technologien oder Verfahren: Medizinsektor, additive Druckverfahren, Nanotechnologie, Biotechnologie, Informations- und Kommunikationstechnologie, Kognitive Systeme. Gehen wir sie im Einzelnen durch. (…)
Der Medizinsektor umfasst ein breites Spektrum von Forschungs- und Anwendungsfeldern, von der Pharmaindustrie (Medikamente, Impfstoffe), der Körperüberwachung zwecks Optimierung von Funktionen und Behandlungen durch Apps oder implantierte Chips, Transplantationen, Ersatz von Körperteilen und Geräten zur Unterstützung von Sinnen, Funktionen und Bewegung über digitale Telemedizin und Telepharmazie bis hin zu ästhetischen Eingriffen, verhaltenssteuernden Maßnahmen und der Manipulation der Gensubstanz vor und nach der Geburt zur Eliminierung von Störungen und zur Verbesserung von Körper- und Verhaltenseigenschaften.
Der Medizinsektor — so eine weitverbreitete Prognose in der Zukunftsforschung — wird die Rolle der Leittechnologie im kommenden Konjunkturaufschwung und im kybernetischen Umbau einnehmen. (…)
Anders als mit der großen Maschinerie lassen sich auf Basis kybernetischer Steuerung und Vernetzung kleine Serien kostengünstig herstellen. So kann die Vielfalt der Produkte gesteigert beziehungsweise die Produkte an sozial und kulturell differenzierte Nachfrage angepasst werden. Umsetzbar wurde diese Anpassung erst, sobald die Produktwerbung sich gezielten Charakteren zuwenden und aus ihrem Such- und Kaufverhalten Rückschlüsse für die Produkt- und Designentwicklung ziehen konnte. Werbung verwandelte sich von Produktinformation, die sich an ein allgemeines Publikum wandte, zur Platzierung von Information entsprechend der Signale, die die UserInnen der Kommunikationsdienste senden, und die ihnen als potenzielle KäuferInnen gezielt auf ihre mobilen Endgeräte übermittelt wird.
Dementsprechend haben Körper im kybernetischen Zeitalter zwei neue Aufgaben. Sie sind erstens der Ursprung der Verhaltensdaten, die in digitalen Anwendungen übermittelt werden. Aus den hinterlassenen Spuren lassen sich — zugeschnitten auf die jeweilige Kaufkraft — Wünsche, Begierden, Erwartungen, Konsumverhalten und Qualitätsansprüche ablesen. Gleichzeitig geht es darum, die Körper entlang der Erfordernisse des Marktes zu gestalten. Körper werden dabei zweitens in einem bisher nie da gewesenen Maße zum Objekt der Bearbeitung. Die Techniken knüpfen an vorhandene Formen der Körper-, Hygiene- und Gesundheitspflege an. Dabei verwandeln sie die alten Standards der Medikalisierung und Körperpflege, die sich an die genormte Nachfrage der Industriegesellschaft wandten, in neue Standards für den maßgeschneiderten Menschen. Der Schlüssel zum Erfolg von Bio-Health-Konzepten ist die Verfügbarkeit von Daten, die über die individuelle sowie die ubiquitäre Nutzung des Internets in immer größerer Menge geschaffen werden.
Die Verknüpfung der Nutzersignale mit Produktempfehlungen nahm Adrian Lobe zum Anlass für seine These des „Datengefängnisses“. Dieses verbindet jeden User und jede Userin über die „elektronische Fußfessel“ mit IT-Konzern und Werbekunden: Ähnlich wie in dem bereits weiter oben beschriebenen Panoptikum Benthams können ihre Begierden von diesen eingesehen werden, während sie selbst nur auf die Oberfläche ihrer digitalen Endgeräte starren und die dahinter verborgenen Geschäftsprozesse nicht erkennen können. (…)
Big Data für Big Pharma
Jeder Akt der Dokumentation und Verknüpfung der Coronamaßnahmen schafft Daten. Die Daten sind Ausdruck der Signale, die der Körper übermittelt. Gleichzeitig ist der Körper der Empfänger der Werbe- oder politischen Botschaften, die über den Bildschirm huschen. Hören und Sehen ist dabei nicht immer ein bewusster Akt, sondern das Ergebnis subtiler Beeinflussung, die im Hintergrund, in Sekundenschnelle, am Rande des Bildschirms aufpoppt. Wir messen dem keine Bedeutung zu, glauben an unser eigenes Entscheidungsvermögen und agieren dennoch häufig genauso, wie es suggeriert wird. Die Internet-Kommunikation, die uns in Gesinnungskreise hineinzieht, wirkt als Verstärker.
Im Zuge der Personalisierung der Medizin wird der Körper zum Gegenstand der Bearbeitung. Sozialdisziplinierung durch Bildung, Gesundheits- und Sozialpolitik sowie die Erfordernisse des Arbeitsmarktes stehen seit dem 18. Jahrhundert an der Wiege des modernen Menschen. Dabei ging es um die allgemeine Verinnerlichung des Menschenbildes, das der Industriegesellschaft zugrunde liegt: Massenmärkte, Massenprodukte, Massenpsychologie. JedeR sollte dem Ideal entsprechen, Abweichungen sanktioniert, marginalisiert beziehungsweise kriminalisiert werden. Die kybernetische Gesellschaft tritt demgegenüber mit einem flexiblen Ideal an das Individuum heran: Es wird nicht mehr als Rädchen angesprochen, das das System am Laufen hält, sondern als eine Figur, die flexibel gestaltbar ist. Jede für sich. Du hast die Wahl, du kannst entscheiden, wie du aussiehst, wie du dich inszenierst, wie du lebst, was für ein Geschlecht du beanspruchst. Der Avatar als der neue Mensch.
Wenn der soziale Kontakt mit Ansteckungsgefahr in Verbindung gebracht wird, erhöht sich die Bereitschaft, die Angebote der Gesundheits-, Schönheits- und Ertüchtigungsindustrie anzunehmen. Es ändert sich die Einstellung zum eigenen Körper, der den Gegenstand der Optimierung darstellt — vermittelt über marktfähige Angebote, die menschliche Bedürfnisse zur Ware machen. Als Lockvogel dienen der Schutz der Gesundheit und die Verlängerung des Lebens. Sie eröffnen ein Einfallstor für eine ganze Latte von Maßnahmen, die diesem Ziel dienen. Das eigene Begehren sowie das Urteilsvermögen werden von einem Markt ersetzt, der gleichzeitig Bedürfnisse schafft und befriedigt. Bei Unfällen oder Missbildungen ist die Reparatur oder der Austausch von Organen individuell durchaus sinnvoll, auch wenn aus gesundheitspolitischer Sicht der zahlungskräftige Einzelfall nicht im Vordergrund stehen kann. Der Reichtum einer Gesellschaft bemisst sich schließlich auch danach, inwieweit operative Eingriffe oder psychologische Behandlungen der Allgemeinheit zugänglich sind. Je größer die Einkommensunterschiede, desto mehr wird die Vervollkommnung der Körpers zu einer Klassenfrage. Auch die Miss- und Verachtung des unvollkommenen Körpers hat dann eine soziale Dimension.
Die IT-Konzerne haben erkannt, dass das maßgeschneiderte Angebot von Heilung, Gesundung und Vervollkommnung einen Zukunftsmarkt darstellt. Der Zugang zu diesem Markt verläuft über die Verfügbarkeit von Daten: der menschliche Körper als Datenschatz. IT-Konzerne weiten ihre Geschäftsbereiche über den Informations- und Kommunikationssektor hinaus aus. Sie über- nehmen die Verwaltung von Krankenakten und Versicherungsmanagement und setzen die Test- und Contact-Tracing-Anwendungen von Regierungen und privaten Anbietern operativ um. Seit Neuestem steigen sie selbst ins Pharma-, Gesundheits- und Fitnessgeschäft ein. Zum Beispiel Google-Alphabet, das mit „Verily Life Science“ über ein eigenes Biotech-Unternehmen verfügt, das mit US-amerikanischen Universitäten „Human Health Maps“ entwickelt. Mit Novartis und Pfizer arbeitet Verily an Künstlicher Intelligenz für medizinische Anwendungen. Über das Joint Venture Onduo kooperiert Google mit Sanofi, um mit Big Data die Behandlung von Diabetes-Patienten zu organisieren. Google ist auch am Fitness-Tracker-Hersteller Fitbit beteiligt und hat so Zugriff auf die Daten der Nutzer.
Apple wiederum hat Zugang zu Apple-Watch-Nutzern. Diagnose-Apps zeichnen die Vitalfunktionen der Nutzer auf. Mit Apples ResearchKit führen namhafte medizinische Forschungsinstitute in den USA und Israel klinische Studien über das iPhone durch. Samsung ist über die Töchterunternehmen „Samsung Biologics“ und „Samsung Bioepics“ in Kooperation mit Merck auf den Pharmamarkt vorgedrungen. Amazon wiederum ist mit „Amazon Pharmacy“ in den globalen Onlinehandel mit Medikamenten eingestiegen. Der Konzern hat sich in ein Unternehmen für Symptomkontrolle und Triage eingekauft. Für den britischen Gesundheitsdienst National Health Service (NHS) adaptiert Amazon den Alexa-Sprachassistenten für Onlineberatungsdienste und arbeitet an Sprachverarbeitungsprogrammen für medizinische Konversationen.
Last but not least sei der Wortführer der globalen Impfkampagne, Microsoft-Gründer Bill Gates, erwähnt. Die Bill-&-Melinda-Gates-Stiftung investierte 2015 in das Tübinger Pharmaunternehmen Curevac, das Impfstoffe gegen Malaria und Grippe herstellt, und 2019 in die Mainzer Firma BioNTech 50 Millionen Euro zwecks HIV- und Tuberkulose-Forschung. Damals war BioNTech noch ein unbedeutendes Unternehmen, das im zweiten Quartal 2019 25,8 Milionen Euro Umsatz schrieb und mit 50 Millionen Euro im Gewinnminus lag. Im ersten Quartal 2022 war der Umsatz auf 6,37 Milliarden US-Dollar angewachsen, der Gewinn auf 4,75 Milliarden.
Diese Kooperationen und Verschmelzungen zwischen Big Data und Big Pharma zeigen den Bedeutungsgewinn der MANBRIC-Sektoren auf, die mit dem Corona-Moment einen ungeahnten Auftrieb erfahren haben.
Einen ähnlichen Strategiewechsel können wir auch bei Erzeugern klassischer Haushaltselektronik beobachten, die in Big Pharma einsteigen. Dabei dienen die Mikroprozessoren, die im smarten Haushaltsgerät stecken, als Sammelstelle und Transmissionsriemen für den Datentransfer. Das Beispiel des niederländischen Philips-Konzerns zeigt allerdings, dass der Wechsel auf die Gesundheitsbranche noch lukrativer zu sein verspricht. Philips trennt sich von den Produkten, die den Konzern bekannt gemacht haben, wie Rasierapparate, elektrische Zahnbürsten, Kaffee- oder Bügelmaschinen.
„Wir dürfen nicht an der Vergangenheit kleben bleiben und setzen einen weiteren Schritt in der Transformation von Philips zu einem Medizinkonzern“, so Vorstandschef Frans van Houten zum geplanten Verkauf der elektronischen Konsumgüter-Sparte. Die neue Konzernstrategie setzt auf MRI- und CT- Scanner für Krankenhäuser, Home-Monitoring-Computerverbindungen für Onlinekonsultationen zwischen Patient und Arzt oder auf medizinische Beatmungsgeräte, die in der Coronazeit stark nachgefragt waren.
Im April 2021 hat die Frankfurter Siemens-Tochter Siemens-Healthineers mit einer Produktionsstätte in Shenzhen den US-Medizintechnik-Konzern Varian übernommen. Die Liquidität resultierte nicht zuletzt aus dem Verkauf von COVID-19-Schnelltests in Deutschland, die 2020/21 die Kassen mit 750 Millionen Euro gefüllt haben. Mit der Übernahme des auf personalisierte KI-datenbasierte Diagnose und Krebsbehandlung spezialisierten Unternehmens soll ein Upgrading in eine höhere Wertschöpfungsklasse erzielt werden; das nicht so lukrative Ultraschallgeschäft wird dann abgestoßen werden oder in anderen Worten: „Wir optimieren das Set-up der Sparte“, so Siemens-Healthineers-Vorstandschef Bernd Montag.
Eine durch und durch kriegerische Rhetorik verwendet Novartis, um die Umgestaltung des Pharmariesen auf medizinische Spitzentechnologie zu beschreiben. Diese soll durch den Verkauf der Generika-Sparte und die Übernahme weiterer Anteile von Alnylam Pharmaceuticals, bekannt für sein Nobelpreis-ausgezeichnetes Programm zur gentechnischen Behandlung seltener genetischer Erkrankungen, erzielt werden — mit dem erklärten Ziel, die „Kriegskasse“ anschwellen zu lassen. „Das ist es, was die Investoren wollen. Nicht diese ganzen Nebenkriegsschauplätze.“ Es gelte, so der Novartis-Chef Vas Narasimhan, „Medizin neu zu denken“. Diese Ausdrucksweise spiegelt die Verachtung — der Investoren — für die Breitenmedizin wider. Das Augenmerk liegt auf körperlichen Eingriffen, die als Anwendungs- und Experimentierfeld für Gentechnik und Künstliche Intelligenz dienen, weil damit am meisten verdient werden kann.
Beenden wir dieses Kapitel mit den Gewinn- und Umsatzzahlen der beiden führenden westlichen Impfstoffkonzerne. Am spektakulärsten ist wohl der Höhenflug der deutsch-amerikanischen Kooperation von BioNTech und Pfizer. BioNTech steigerte dank des Riesengeschäfts mit dem gemeinsam mit Pfizer entwickelten Corona-Impfstoff den Umsatz von 108,6 Millionen Euro (2019) und 482,3 Millionen (2020) auf 18,9 Milliarden Euro (2021), das bedeutet ein Umsatzplus von 3.800 Prozent von 2020 auf 2021 beziehungsweise von 17.470 Prozent von 2019 auf 2021. Der Gewinn lag 2019 mit 179,2 Millionen Euro noch im Minus und stieg von 15,2 Millionen Euro (2020) auf 10,3 Milliarden (2021), das bedeutet ein Gewinnplus von 67.614 Prozent von 2020 auf 2021. Der Kick-off trat im dritten Quartal 2020 ein. Während das Unternehmen vor Corona auf Krebsmedikamente spezialisiert war, die hohe Forschungs- und Entwicklungsausgaben erforderten, war die Massenproduktion des Corona-Impfstoffes Comirnaty im wahrsten Sinn des Wortes eine Trägerrakete für den Profit.
Hier können Sie das Buch bestellen: „Zeitenwende:
Corona, Big Data und die kybernetische Zukunft“.
Quellen und Anmerkungen:
Der Münchner Kommunikationswissenschaftler Michael Meyen zum Buch:
„Corona-Bücher haben Konjunktur. Es geht um das Versagen hier und dort (vergleiche Christ 2022, Guérot 2022, Klöckner 2021), um das, was gesagt, getan und unterlassen wurde (vergleiche Kaltwasser 2022), oder zunächst auch einfach nur um Selbstdokumentation und Selbstbestätigung. Die Tweets von Stefan Homburg (2022), die Texte von Michael Hauke (2022), einem Anzeigenblattverleger aus dem Brandenburgischen, oder die Kolumnen von Milosz Matuschek (2022). Die Motive der Schreiber liegen auf der Hand: festhalten, was die anderen bereits zu vergessen beginnen, und damit zugleich nach Aufarbeitung und Erneuerung rufen. Marcus Klöckner und Jens Wernicke (2022) haben dafür Zitate von Meinungsführern aus Politik und Medien gesammelt und können so buchstäblich ‚mit dem Finger‘ auf viele der ‚Täter‘ hinter dem ‚Corona-Unrecht‘ zeigen.
Andrea Komlosy hat einen Gegenentwurf geschrieben. In Kurzform: weg von den Akteuren, hin zu den ‚Umständen‘. Weg von der Idee einer planenden Intelligenz, die über Geld (etwa Bill Gates), Netzwerke (Klaus Schwab und sein WEF) oder beides weltweit generalstabsmäßig ein Szenario umsetzt, das in Thinktanks entwickelt, in Planspielen verfeinert und von willfährigen Helfern mitgetragen wurde, hin zu den großen Linien der Menschheitsentwicklung. Corona wird bei Andrea Komlosy zu einem historischen Moment, der die kybernetische Revolution beschleunigt und auch dem Letzten klargemacht hat, dass der Kapitalismus gerade seine neoliberale Phase überwindet und zur Wiederauferstehung im neuen Gewand schreitet.“