Die Zeit in Coronazeiten
Für manche fühlt sie sich „bleiern“ an, für andere vergeht sie im Fluge: Die Zeit der großen Viruserzählung scheint aus den Fugen geraten.
„In Coronazeiten“ ist — neben „coronabedingt“ — inzwischen zum geflügelten Wort geworden. Mehrheitlich genutzt, um das ganze Spektrum der Ereignisse in den letzten 15 Monaten epochal und schicksalhaft zu verorten. Zunächst assoziiert mit Unheimlichkeit und Schrecken, wird die Wortschöpfung von den heute so penetrant auftretenden Moderatoren aus dem „Wahrheitsministerium“ immer gelassener genutzt — schon fast im Sinne eines milden Rückblicks, der in Aussicht stellt, dass wir es bald geschafft haben, wenn denn alle geimpft sind und das Narrativ Pandemie mit seiner bewusst eingebauten Todesdrohung so zu einem Ende findet. Wird diese Rechnung der Zeitgeistregisseure aufgehen — und liegt das überhaupt in deren Absicht?
Die Coronazeiten zwangen uns einen Zeitrhythmus auf, der uns eigentlich beunruhigen sollte. Das „tagaus tagein“ der Erfahrung geriet in einen Strudel hektischer Informationspolitik und einer Zahlenarithmetik, in ein „Hin und Her“ zwischen Wissen, Meinung und Glauben, in dem sich vieles von dem, was wir gewohnt waren, auflöste. An dessen Stelle traten neue Gebote, wie wir uns zu verhalten hätten. Wir lebten eben nicht nur in „Coronazeiten“, sondern darin auch in einer anderen Zeitordnung.
Die gemäß Kant, Bergson und Heidegger neben dem Raum stabilste Konstante unseres „Seins in der Welt”, die Zeit, verlor dabei ihre beruhigende Gleitfähigkeit — und es dürfte nicht wenige geben, die das letzte Jahr, das Coronajahr, als lähmend und bleiern empfanden, während andere es als vorbeirauschend kurz registrierten. Dabei spielte der Tod als ständige Drohung und Exekutor unserer Endlichkeit eine schwer einzuschätzende Rolle in unserem Zeitempfinden. Ist uns also die Zeit in diesen Coronazeiten aus den Fugen geraten?
Der junge Vincent Van Gogh malt 1885 das Bild „Die Kartoffelesser“. Um einen von schwachem Öllicht erhellten Tisch sitzen fünf Personen. Eine ältere Frau gießt eine Flüssigkeit in bereitgestellte Tassen. Die Kartoffeln werden von einem großen flachen Teller geschöpft.
Die Gesichter der Menschen scheinen von harter Arbeit verbraucht und mit dem Raum in einem stummen Dialog zu stehen. Müdigkeit paart sich mit einer Schattenhaftigkeit, die spürbar wird als dahinschleichende Zeit. Sie bildet eine Endlichkeit ab, die kaum erschreckt. Ein Satz von Leo Tolstoi könnte einem dazu einfallen: „Ein Bauer hat keine Angst vor dem Tod.“ Was dem Bild und dem Statement von Tolstoi jedenfalls zu entnehmen ist: Um den Tod und die Zeitlichkeit zu verstehen, muss man beide aufeinander beziehen — und sie als Indikatoren unserer menschlichen Befindlichkeit, ja unserer „conditio humana” lesen. Ohne diese Beziehung — da muss man dem politischen Blindgänger Martin Heidegger recht geben — verstehen wir unser Dasein in der Welt nicht. Es kann indes sehr verschieden gestaltet sein, wie auf dramatische Weise das letzte Jahr gezeigt hat.
Gerade die Gehetztheit und zugleich Beengtheit der oftmals schnell aufeinanderfolgenden Ereignisse, der forttreibenden Anordnungs- und Maßnahmenorgie, der gewählten Agenda, sogar der Lahmlegung aller wissenschaftlichen Diskurse, zeigt uns ein Zeitmaß an, das diese 15 Monate wesentlich strukturierte und das nahe gebaut ist an den semantischen Rändern der Macht und des Todes, so wie wir ihn heute definieren, leben und erleben, häufig genug in einer beklemmenden Objekt-Fixierung, in Hysterie, Panik, Blockade und Indienstname.
Soviel schält sich schon hier heraus: Es sind in Coronazeiten die Zeit und unser Empfinden darin, die uns prägen und befremden– und die so auf unser Leben und unser Sein zum Tode — so Martin Heidegger — einwirken. Das klingt abstrakt, wird aber schnell konkret, wenn wir unseren wirklichen Befindlichkeiten und Gefühlen nachspüren. Wir sind in die Welt geworfen, gestalten sie aber auch kraft unserer Intentionen. Und dies geschieht in der Zeit. Sind wir da noch dieselben wie vor zwei Jahren?
Der Historiker Phillip Aries mag an ein Bild wie das von Van Gogh gedacht haben, als er in seiner epochalen „Geschichte des Todes“ auf Unterschiede aufmerksam machte zwischen unserem heutigen Umgang mit dem Tod und dem früherer Gesellschaften:
„Es gibt zwei Arten, nicht explizit an den Tod zu denken, die unsere heute, die den Tod tabuisiert und verdrängt, und die frühere, wo er nicht bedacht wurde, weil er zum vertrauten Alltag gehörte.“
Entsprechend zeigen sich deutliche Unterschiede zwischen Mittelalter und Neuzeit — allein schon deshalb, weil die scharfe Zäsur von der Vormoderne hin zur Moderne ja vorwiegend durch die „Endlichkeit“ des Menschen gesetzt wurde. wobei der Tod nicht länger das Tor zum ewigen Leben war, sondern zum absoluten Endpunkt gefror — und damit auch alle Zeitlichkeit revolutionierte.
Dass diese Verendlichung menschlichen Seins in heutigen Diskursen und auch öffentlichen Ritualen kaum noch eine bewusste Rolle spielt, spricht nicht gegen die historische Einsicht, dass wir quasi im langen Schatten dieses unüberwindbaren Todes stehen, ja uns seine Übermacht, für die wir selbst verantwortlich waren, eingestehen müssen; er tritt uns nämlich, wie das Coranaszenario deutlich beweist, nicht anders als ein Factum brutum entgegen: ein alternativloses Schicksal, nicht einmal abgemildert als naturhaftes Geschehen von „Werden und Vergehen“, sondern eingebunden in eine Zeitspirale, die uns genau dies aufzwingt: Fakten, Fakten, Fakten — oder auch: Punkt, Ende, Schluss, das war‘s.
Sollte der Erfinder dieser Losung, Helmut Markwort, angesichts der Faktenbesessenheit noch empfänglich sein können für die christliche Heilsgeschichte oder die Aussicht auf ewige Höllenqual? Wohl kaum! Gleichwohl stehen wir als Menschen anthropologisch betrachtet unter einer metaphysischen Wolke, die uns forttreibt in unserem Wunsch, es solle mit dem Tod eben doch nicht alles vorbei sein. Aber der letzte Denker, der sich auf diese verzweifelte Herausforderung, aus dem Schicksal des „Nicht mehr sein“ etwas an ewigem „Sein“ zu bewahren, eingelassen hat, war der dänische Philosoph Sören Kierkegaard.
Die Alternative, die der Denker aus Kopenhagen den Menschen aufzeigt, ist der „Sprung in den Glauben“ — wobei ich allerdings eher an Van Halens Rocksong „Jump“ denken muss als an das Risiko, von Gott nach dem Absprung ins Ungewisse nicht sanft aufgefangen zu werden. Als kulturelles Konzept wird sich das Angebot Kierkegaards an das hochfrisierte Individuum aber ohnehin nicht mehr durchsetzen können.
Phillip Aries immerhin glaubt, dass wir Modernen uns dieser neuen Herausforderung in mehrfacher Hinsicht nicht gewachsen zeigen und deshalb in einer Art Panik und Paradoxie gefangen bleiben. Sein vergleichendes Bild dazu: In der Moderne verwildert der verdrängte oder häufig auch hysterisch inszenierte Tod zusehends, aber er taucht um so machtvoller in unserem Rücken wieder auf; von dort regiert er als permanente Drohung, in unser Leben hinein, verhindert aber so ein irgendwie gelungenes Leben — bei den Griechen hieß das „eu dzän“.
Von gelungenen Leben ist in Coronazeiten bekanntlich nicht mehr die Rede: Entweder man spricht vom erfolgreich verlaufenden Leben oder ausschließlich in medizinokratischer Definition von der Lebenserhaltung. Vom Leben und seinen Intensitäten selbst ist kaum die Rede. Wäre das also unser Schicksal: unser sterbliches Dasein fixiert auf puren Erhalt und faktenversessen verengt; und im Rücken der Tod, den wir aus unserer Kultur zu unser aller Nachteil ausgeschieden haben? Wir sind damit bei aller Abstraktion mitten drin in der Erzählung von der „Pandemie“
Es wäre aber zu leicht, zu sagen, dass allein die zu Ende erzählte Heilsgeschichte uns dieses Schicksal bereitet hat — es deutet vieles darauf hin, dass wir unsere Verfallenheit an den Tod in unserer konkrekten Existenz in der Zeit abbilden. Dass das vielleicht berühmteste philosophische Buch des letzten Jahrhunderts den Titel „Sein und Zeit“ trägt, ist da kein Zufall.
Die analoge Uhr tickt hörbar, die digitale hingegen schweigt sich aus. — Eine kurze Phänomenologie der Zeit
Die Zeitlichkeit: Gibt es dazu mehr aufzulisten als Paradoxien? Um uns möglichst lange zu erhalten und etwas zu erreichen, brauchen wir Zeit — viel Zeit. Das versuchen wir, indem wir sie beschleunigen, wobei uns, wie wir bald merken, die Zeit ausgeht. Sie wird vielen zur „knappen Ressource“, anderen jedoch verschafft sie das Gefühl lähmender Unendlichkeit. Aber wir wollen auch aus der Zeit aussteigen, um in ein anderes Maß der Zeit zu wechseln oder der ihr innewohnenden Tendenz der Verramschung, des schnellen Verbrauchs zu entgehen.
Die größte Paradoxie aber zeigt unsere moderne Zivilisation an dieser Wegscheide: Wir richten unser Dasein an der Selbststeigerung und Selbstoptimierung aus, wobei die Entwicklung hin zum Besseren, Höheren, Erfolgreichen wie ein Pfeil nach oben strebt. Aber der Pfeil beschreibt irgendwann dann einen Bogen und fällt je nach anfänglichem Kraftaufwand in Elipsenform oder in Form der einfachen Gravitation nach unten. In diesem Sinne wird die Zeit zunächst in den Dienst des modernen Credos genommen: der möglichst nie aufhörenden Progression. Nicht nur immer weiter, sondern auch immer höher. Aber wir laufen, schmerzlich paradox dazu, als Individuen auf eine Stunde zu, die mit einem Schlage alles zunichte macht.
Schön wäre ja, am Ende des Lebens zu sagen: „Geschafft“ — aber wäre das nicht absurd? In Hinsicht worauf haben wir es denn „geschafft“? Es stehen für uns — streng genommen — ja keine Belohnungen in Aussicht, sondern nur die Hilfsbekundungen derer, die uns überleben und unser gedenken; aber so recht vertrauen kann der moderne „Homo clausus“ — Norbert Elias — dieser Perspektive einer über den Tod hinausreichenden Solidaritätsgemeinschaft nicht. Geradezu makaber wirkt da eine Coronapolitik, die Masken und Abstände als solidarische Handlungen verschreibt, dabei aber ideologisch selektiv verfährt.
Was also bleibt? Sind nicht die einzigen und wahren Narrative, die noch glaubhaft erzählt werden können, die vom menschlichen Scheitern, während der erstrebte und erreichte Erfolg die berüchtigte Leere eines „omne triste est“ nach sich zieht — oder einen Zustand, wie Paul Virilio ihn skizziert hat mit dem Szenario vom „rasenden Stillstand“: Das Bild von einem Schwimmer der mittels eingebauter Unter-Wasser- Rotoren trotz kraftvollem Vorwärtsdrang auf der Stelle verharrt und doch von der Illusion einer sinnreichen Aktivität zehrt, oder von der Vision, dass er sich vorwärts bewegt bis in die Unendlichkeit hinein. Und da gibt es ja auch noch eine weitere Paradoxie gerade rund um das „Immer Gleiche der Zeit“. W
ir erleben diese Wiederkehr des Gleichen entweder äußerst negativ — etwa als Vorstellung von der Hölle —, oder stimmen mit diesem Zeitmodell positiv gestimmt in die Poesie Nietzsches ein, der fern einer gerichteten Transzendenz und nach dem „Tod Gottes“ das ewig sich drehende Rad des Seins feiert, als eine Einstimmung in ein „Amor fati“: eine Liebe zur Welt und zu unserem Schicksal darin; denn außer diesem Schicksal — was bleibt uns da?
Eine Einsicht schält sich heraus: Wo wir uns als Subjekte der Zeit im Vorteil wähnen, da werden wir zu ihrem Objekt.
Corona — oder Die neue Normalität des Zeitlichen
Ein historisch vergleichender Ausritt in den Alltag, unter dem es rumort.
Der jüdische Autor Joachim Fest beschreibt in seinem bemerkenswerten Werk über Hitler den Zusammenklang zwischen dem Regierungsstil und den Alltag im Nationalsozialismus. Eigentlich habe es da — wie Fest ausführt — keinen Regierungsstil gegeben, sondern eine in die Praxis umgesetzte Weltanschauung, die auf Volksgemeinschaft und Uniformität abzielte. Die höchste Priorität bestand darin, die Alltäglichkeit als solche in eine höhere erhabenere Form zu gießen. Entsprechend sieht Joachim Fest den Fokus der Nazis ausgerichtet auf eine Feier, die quasi nicht enden sollte.
Ein wogendes Fahnenmeer und ständige Aufmärsche, dazu unzählige Zusammentreffen von Organisationen, die dem Individuum einen Mythos zuwiesen, sorgten dafür, dass die Akzeptanz für diese Symbolpolitik bis zuletzt sehr hoch lag. Irgendwie war immer etwas los — Tag für Tag, fast so etwas wie ein dionysischer Rausch, der Staatsbesuche ebenso kleidete wie das Treffen der Bauern und Abgesandten der Landsmannschaften und das gemeinsame Sockenstricken für angehende Soldaten-Gebärmütter.
Die Kehrseite dieser nationalsozialistischen Zusammenschweißpolitik im Alltag zeigen die Autoren Viktor Klemperer und Sebastian Haffner auf: ein ridiger Selektionismus und ein zunächst schwelender Rassismus kündigen sich da an, der sich vor allem gegen die Juden, aber auch kritische Intellektuelle richtete.
Klemperer beschreibt in seinen Tagbüchern minutiös den Alltag zwischen 1933 und 1938 als eine wahre Orgie von Anordnungen und Sprachregelungen, etwa in dieser Art: Der Jude muss den Parkbankplatz räumen, wenn ein Volksdeutscher sich dort platzieren möchte, Juden dürfen nicht mehr ins Kino gehen, sie müssen einen Stern tragen, sie werden Opfer von Denunziationen, die sich als notwendige Aufklärung drapierten und so fort. Wir nähern uns da schon einem Verhaltensmuster, das wir aus der jüngsten Zeit kennen.
Sebastian Hafner zeigt sich hingegen heute noch erschrocken über sein damaliges Verhalten gegenüber jüdischen Mitstudierenden, er muss sich die leisen Verlockungen und Einflüsterungen der Macht eingestehen, die selbst Intellektuelle wie ihn zu Opportunisten und Nutznießern des allgemeinen Antisemitismus werden ließen. Es schien ja alles nicht so schlimm und geschah im Rahmen einer „Sprache des Dritten Reiches“, in Form von Verwaltungsakten und Maßnahmen und im Zeit-Modus der langsam einsickernden und antrainierten Gewöhnung, die zunächst verhinderte, dass man sich allzuviel Sorgen und Vorwürfe machen musste.
Rauschhafte Stunden im Kollektiv und eine zugleich knochentrockene Rassismus-Auslese nach Eichmann-Art bestimmten also den Alltag, der aber so nie ein wirklicher Alltag werden konnte, wie der Phänomenologe Edmund Husserl ihn noch kurz zuvor bestimmt hatte: als ein eher unauffälliges Geradehin des Lebens nämlich, gefügt in ein Kontinuum der Zeit, eher unbewusst als bewusst erlebt.
Drängen sich hier nicht schon einige strukturelle Vergleiche auf mit den gestalteten Zeitläuften in Coronazeiten? Auch das letzte Jahr erschien uns ja als eine Zeit, die von einer staatlichen Spitze aus eine neue Alltäglichkeit ausrief, in die zahlreiche Anordnungen, verbunden mit Drohungen und neuen Sprachregelungen, einflossen.
Die sogenannte Pandemie lebt geradezu von sich oftmals schnell ablösenden Neologismen, die uns jeweils einen neuen Wahrheitsstand und Gewöhnungsgrad des Normalen antrainierten. Das „Geradehin“ Husserls wurde dabei ziemlich massiv außer Kraft gesetzt: Es war auch an der Front der staatlichen Agenda immer etwas los, was die Menschen auf Trab hielt; statt eines täglichen Fahnen- und Aufmarschmeers überzog ein Maskenmeer das Land. Dessen Geometrie wurde der Abstand, dessen Zeitrhythmus gaben die Anordnungen vor.
Der Alltag, so von oben dekretiert, zerstörte aber hier wie im Nationalsozialismus — gerade diese Alltäglichkeit und das zeitliche Gleichmaß darin. Das heraklitische „Phanta rhei“ — alles fließt — schwand und wich einem hektischen Flow. Eine erhitzte „Unruh“ gab mehr als die üblichen 120 Schwingungen vor. Das wirklich Erstaunliche aber war, dass dies alles gerade von denen hingenommen wurde, die als Garanten des Alltags und des gesunden Menschenverstandes galten: die Mehrheit.
Kleiner Exkurs in die Anfänge des Corona-Alltags — ein Sein in der Zeit
Das erste, was er am Morgen macht, nachdem er den Laptop eingeschaltet hat: die neuesten Zahlen abrufen für die einzelnen Länder. Italien, Frankreich, Spanien: die Infektionskurven gehen inzwischen relativ konstant nach unten. Die neu hinzugekommenen positiv Getesteten bewegen sich zahlenmäßig bei 300 bis 500 täglich, die Zahl der Toten schwankt von Tag zu Tag ein wenig mehr. Nun gilt es, den R-Faktor für Deutschland abzulesen; von gestern auf heute ist er von 0,68 auf 1,1 hochgeschossen — beunruhigend, das hätte er sich anders vorgestellt. Deutlich verstimmt wechselt er mit nervös zitternden Fingerkuppen auf YouTube, um dort die Aufzeichnung einer Talkshow anzuklicken, in der ein Virologe, den er sympathisch findet, auf einen Politiker mit medizinischer Ausbildung trifft.
„Wer wird hier die Nase vorn haben?“, meldet sich ein für den Tagesanfang ungewöhnlicher Jagdinstinkt in ihm. Doch außer schon Bekanntem kommt nichts dabei heraus — bis einer der beiden fast beiläufig darauf hinweist, dass wir alle in den nächsten Jahren mit dem Virus leben müssten — eine zwar verständliche, aber eben auch schockierende Annahme. Gerade während dieser ihm zugemuteten Dystopie schießt ihm ein Satz durch den Kopf, der während der ersten Wochen nach dem Lockdown-Dekret Plakate und Fernsehscreens ausfüllte: „Wir bleiben zu Hause“: ein Appell an ein pluralis majestatis, das ihn an Altenpflegerinnen und -pfleger von einst erinnert, die betagte und etwas verwirrte Menschen in dieser würdelosen All-Gemeinheit von den Normalen, Gesunden und Funktionierenden absonderten: „Wie geht es uns denn heute Herr Müller?“
Ebenso unvermittelt hängt sich an diese erinnerte Schamlosigkeit die Gewissheit: Es ist schon wieder Freitag. Die Zeit scheint wie zusammengepresst in all den täglich aufgestockten Nachrichten, Verlautbarungen, Anordnungen, Grafiken und Gesinnungsgefechten. Und dann auch noch dieser SPD-Politiker L., der jeden Tag dem asketischen Zuchtmeister Johannes Calvin immer ähnlicher wird.
Wenn er seine Befindlichkeit in den letzten drei Monaten beschreiben sollte, so schwankte sie zwischen einer Gier nach Versicherung, die ihm körperliche Unversehrtheit und Meinungshoheit — in einer Zeit massenhaft zerbrechender Freundschaften — gleichermaßen einräumt und einer Erwartung, dass sich alles irgendwie irgendwann mal auflöst: So denkt er nun in einem plötzlichen Anfall von Bitterkeit — und befindet sich doch kurz darauf schon wieder auf einer bleiernen Zeitschiene, die ihm kein gelebtes Leben gewährt.
Er sieht sich verheddert und umstellt von einer erhitzten Faktenstaffage, die ihn immer wieder aufs Neue hintreibt zur Datenwelt auf der Laptop-Screen. Sie gibt vor, was zählt: Nun ist — so liest er — auch eine 27-Jährige an Corona gestorben. Darauf muss er wie in einem notwendigen Ausgleich eine Statistik abrufen, die ihm die verschwindende Wahrscheinlichkeit von Coronatoten unter 50 Jahren bestätigt.
Was bleibt, haftet in der Einnerung
Im Maßnahmenhype dieser unserer „Coronazeit“ wird die Zeit gestaffelt, unterteilt fragmentiert – und zugleich als ein Kontinuum beschworen, das sich selbst zerstört und so einen drohenden Leerraum zurücklässt, in den neue Maßnahmen einströmen können. Dieses Muster funktioniert und strukturiert die große Erzählung von der Pandemie in Form einer aufgereihten Kette von neu gesetzten Nomina:
Der R-Wert gehört dazu, der PCR-Test, die Wellen, die Maske, die Hot spots, die Mortalitätsrate, die Genesungsrate, der Abstand, die Inzidenz, die Mutation, die Supermutation, der Schnelltest. Zuletzt läuft diese Nomen- und Normenkette auf ein Ende zu, das Ruhe zu geben verspricht: Die Impfung, zunächst anempfohlen, dann gefordert, vielleicht auch bald erzwungen.
Mit dem aktuellen Diskurs über das Warum und das Wie der Impfung wird fast alles ausgelöscht, was vorher noch die Momente des Narrativs Pandemie betraf. Wir erfahren hingegen heute ein neues, uns übergestülptes Zeitmaß: Es ist der Augenblick, der uns aus dem Zeitkontinuum löst und uns in ein neues überführt. Da — so lockt die Zukunft — ist dann erst mal Ruhe. Es ist die Ruhe des „Faktischen”, das sich eine neue Wahrheit erfunden hat: Der Feind, das Virus, ist erfolgreich zurückgeschlagen. Nun sollen die Kritiker endlich Ruhe geben. So glaubt gar mancher doch, wieder in das alte Zeitmaß vor Coronazeiten zurückzufinden. Geht das?
Pascal und seine zwei Apercus zur Zeitlichkeit
Noch einmal ein Rückgriff auf einen der großen Denker und Grübler am Anfang der Neuzeit: auf Blaise Pascal. Ihn erfasste vor mehr als 400 Jahren ein „Schauder“ angesichts der entdeckten Unendlichkeiten des kosmischen Raums, der dafür sorgte, dass die schon genannte Erzählung von der christlichen Heilsgeschichte radikal auseinander brach. Wie sollte in dieser unfassbaren Unendlichkeit noch ein Gott im personalen Stil des Mittelalters möglich sein? Da drängte sich schon eher die Vorstellung von einem „Deus absconditus“ auf, einem abwesenden Gott, dessen man nicht mehr habhaft werden konnte, während der Mensch fortan zusätzlich mit seiner eigenen Endlichkeit in dieser räumlichen Unendlichkeit zu kämpfen hatte.
Allerdings zeichnet Pascal, der Grübler, noch ein zweites Bild, das die Situation des modernen Menschen betrifft. Er sieht alles Übel dadurch gesetzt, dass der Homo sapiens es nicht mehr aushält, allein und still in seinem Zimmer zu sitzen. Gepeinigt von einer Unruhe, die weniger aus der Gottesferne rührt als vielmehr aus der Vergeblichkeit, seine eigene Endlichkeit in einer kosmisch unendlichen Welt zu akzeptieren, verfällt er in Befindlichkeiten wie Nervosität und nagenden Zweifel, die ihm ein neues disparates Zeitmaß aufzwingen.
Wer ist er als endliches Individuum in einer über ihn hinwegfegenden Welt? Ist er noch ein „Ens creatum “, Teil eines Ganzen, und damit verbunden mit allem Sein — oder wird er schon unter hoher Beschleunigung herausgeschleudert ins Ungewisse, Unfassbare? Pascal mag auch schon vorausgesehen haben, wie das Ticken der Uhr und das Rauschen des Unendlichen nicht mehr in Einklang zu bringen sind. So schreitet der Mensch von einer Ecke des Zimmers in die andere, getrieben von der Sucht nach Vergessen, nach Ruhe, aber auch Ablenkung — was alles ein modernes Zeitmanagement erfordert, Strategien der Zeitbeschleunigung Zeitreduktion und der Zeitvermehrung.
Es entsteht so eine Dissonanz, die durchweg als polare Erfahrung zwischen Stillstand und Betriebsamkeit sichtbar gemacht wird. In dieser Dissoziation drängt sich der Wunsch auf, aus dem Zimmer zu laufen. Da ansonsten das moderne Individuum das Gefühl hat, etwas zu verpassen.
Was Pascal damals aber noch nicht sehen konnte: der Homo clausus, der es in seiner Klause nicht aushält, verfügt heute über eine Sozial-Network-Kanzel, ein Cyper space, das ihm die Möglichkeit bietet, so zu leben, als ob er in tiefer Sozialität mit anderen lebte. Ja nicht nur das, sondern sich auch zu erweitern. Die Kanzel verschafft ihm die Möglichkeit, ganz bei sich zu sein — und doch mit anderen zu kommunizieren. Allerdings bleibt er in diesem analog-digitalen Zustand gleichwohl ein Gefangener der Zeit — und seine Bemühungen, sich zu erweitern, sich zu steigern, sich zu erhalten, gehen fehl.
Die Pandemie als Große Erzählung und die verlorene Poesie des Lebens
„Alle Absichten des Menschen auf Unsterblichkeit enthalten etwas von der Sucht, zu überleben. Man will nicht nur immer nur da sein, man will da sein, wenn andere nicht mehr da sind“ (Elias Canetti).
„Wir haben die Lust am Leben eingetauscht gegen die Gier, nicht sterben zu müssen“ (Peter Strasser).
Leben in der Pandemie: im Standby-Modus oder als Provisorium, ein Umherirren zwischen Aufmerksamkeits- und Abschaltwahn. Unserer Alltagsexistenz geben wir kaum noch die Chance, ein kraftvolles „Jetzt“ auszubilden; ja, es scheint so, als ob wir den Augenblick fürchteten und ihn erst einmal in die Zukunft abdrängten — wo er aber nie ankommt. Solcher Aufschub hinterlässt nervöse Gereiztheit, Depression und Panik.
Wenn man sich in den Untiefen dieser — zugegeben etwas wilden — Phänomenologie modernen Zeiterlebens umschaut, ahnt man bald, wie sehr die heutige Corona-Politik in ihrer Macht-sichernden Beliebigkeit diese Erosion unseres Zeitbewusstseins beschleunigt — mit den genannten emotionalen Folgen.
Die Erosion vollzieht sich als „Angriff der Gegenwart auf die übrige Zeit“, so Alexander Kluge: auf Vergangenheit und Zukunft. Offensichtlich zielt das Krisenmanagement der Corona-Agenten genau darauf: Sie möchten uns in einem Zustand der Desorientierung und kollektiver ADS halten, in dem Erfahrung nicht zählt.
Wie war das denn noch? Die Bilder von Bergamo erlaubten Politikern, in einen Krisenmodus zu wechseln; die Herausforderung lautete: unbedingt verhindern, dass auch bei uns diese Bilder von überfüllten Klinikfluren unser Bewusstsein fluten.
Die Regisseure des Coronaszenarios schöpften in ihrer Agenda weder aus wissenschaftlicher Erkenntnis noch loteten sie Alternativen aus. Man folgte in seinem Handeln lieber einem tumben Reiz-Reaktionsmuster, das sich in einem Dauerlockdown ein irisierendes Gesicht gibt. Die Folge: Wir werden gedrängt in eine Art Delirium präsens, sind Getriebene in einem verhetzten Zeitkontinuum. So zerfällt Identität und unser Dasein wird unheilvoll fragmentarisiert.
Diese Corona-Krise schwebt eben nicht als düstere Wolke über uns; sie zeigt sich als ein Programm einer dramatischen Reduktion von Leben — den Luhmannschen Begriff von Komplexität benutze ich hier bewusst nicht: Die Ressource Sinn stirbt; die Zukunft wird mit Alternativlosigkeit zugestellt, mithin verfehlen wir den erfüllten Augenblick, als uns Erinnernde, Entscheidende und Hoffende — wohl auch Trauernde. Wir brauchen eine zeitgemäße Existenzphilosophie, eine neue Sprache des Lebens — ob mit oder ohne Virus!