Die Zeit der Seher
Mit Modellrechnungen und unsicheren Prognosen halten die Regierenden und ihre Berater die Panikmache aufrecht. Teil 1/2.
Es ist eine Zeit gekommen, wo Menschen auf der Bühne des kleinen und großen Weltgeschehens erscheinen, die bestimmte Ereignisse dank wundersamer Fähigkeiten vorhersehen können. Das sind Politiker, die regieren, und Experten, die den Regierenden, aber auch dem gemeinen Volk etwas vorrechnen. Für ihre Vorhersagen gilt wie beim Lotto: Alle Angaben ohne Gewähr. Oder wie bei Arzneimitteln: Zu Risiken und Nebenwirkungen fragen Sie Ihre Regierung oder Ihren Virologen.
Beeindruckt und auch erschüttert erleben wir, dass die im Sommer verbreitete Vorhersage, es komme ein „zweite Welle“, in der Tat zutrifft. Und auch das World Economic Forum (WEF), die Bill & Melinda Gates Foundation und das Johns Hopkins Center for Health Security haben im Oktober 2019 in bewundernswerter Weitsicht den Pandemie-Ausbruch gar bereits simuliert (1).
Nun haben sich neue Seher gemeldet. Sie kommen nicht aus dem Morgen-, sondern aus dem Saarland und haben einen „Online-Simulator“ entwickelt, der — „frei verfügbar und einfach zu bedienen“ — die kommende Zeit „aufgrund aktuell verfügbarer Daten“ prognostiziert. RTL.de hat schon mal ein wenig herum simuliert und äußert sich am 3. November 2020 unter der Titelzeile „Corona-Simulator zeigt: Die Prognose für Deutschland ist düster“ folgendermaßen (2):
„Man wählt einfach ein Bundesland oder Deutschland als Ganzes aus und stellt ein Datum ein, bis zu dem die Entwicklung gezeigt werden soll. Dazu kann man noch bestimmen, welche Kategorien die Grafiken anzeigen sollen, und zusätzliche Werte wie die Reproduktionszahl einblenden.
Gibt man beispielsweise für Deutschland den 30. Oktober ein, sieht man, dass die von Kanzlerin Angela Merkel vorgerechneten 19.200 täglichen Neuinfektionen bis Weihnachten mehr als realistisch sind. Denn dem Simulator zufolge erreicht die Bundesrepublik bereits in ungefähr zwei Wochen diesen Wert.“
Erschreckende Simulationen
„Die Zahl der im Krankenhaus behandelten Patienten wächst demnach von ungefähr 2.400 auf knapp 6.400. Von ihnen werden etwa 1.200 auf Intensivstationen liegen, 760 künstlich beatmet. Auf die Todeszahlen wirkt sich das zunächst noch nicht stark aus: Das Modell prognostiziert für den 30. Oktober 29 Covid-19-Todesfälle.
‚Das kann das Land doch verkraften‘, sagen jetzt vielleicht einige, aber falls die jetzt beschlossenen Gegenmaßnahmen nicht greifen, ändert sich das möglicherweise sehr schnell.
Und wie. Denn nur
„zwei weitere Wochen später sind es bereits mehr als 57.000 Neuinfektionen und rund 18.500 Covid-19-Patienten werden im Krankenhaus behandelt, mehr als 3.400 benötigen intensive Betreuung, etwa 2.000 müssen künstlich beatmet werden. Und die Zahl der täglichen Todesfälle wächst auf 84 an.“
Dann wird immerhin eingeschränkt:
„Das sind erschreckende Zahlen, aber es handelt sich um eine Simulation, die davon ausgeht, dass die Pandemie in Deutschland ungebremst weiterläuft.“
Und hinzugefügt:
„Das Modell wird ungenauer, je weiter man in die Zukunft blickt.“
Ein bis dato unbekanntes Phänomen.
„So zeigt es für den 24. Dezember fast 700.000 Neuinfektionen und rund 1.500 Todesfälle an.“
Wie sagte bereits Ursula von der Leyen: „Weihnachten wird dieses Jahr ein anderes Weihnachten sein“ (3).
Wundersame Berechnungen
Doch zurück ins Saarland und zu RTL:
„‚Derzeit seien vor allem jüngere Menschen infiziert‘, sagt Forschungsleiter Thomas Lehr. Entsprechend niedrig sei auch die Zahl der Patienten in Krankenhäusern und auf Intensivstationen. ‚Wir erwarten jedoch bereits in zwei bis drei Wochen eine Versiebenfachung der dann nötigen intensivmedizinischen Betreuung im Vergleich zum Sommer und gehen bundesweit von 200.000 Covid-19-Erkrankten, also aktiven Fällen aus, wenn die Infektionsraten so bleiben wie derzeit.‘ Dann werde es auch wieder eine stärkere Durchmischung mit älteren Bevölkerungsgruppen geben.
‚Die Zahl der Todesfälle steigt bereits jetzt auf beunruhigende Weise‘, sagt Lehr. ‚Sie könnte sich mit mehrwöchiger Verzögerung stark erhöhen, denn nach wie vor stirbt ein Fünftel der Covid-19-Intensivpatienten.‘ Viel hängt davon ab, wie viele ältere Menschen über 60 Jahre sich in den kommenden Wochen anstecken. Doch die größte Schwäche des Modells ist wohl, dass sie künftige Altersstrukturen bei den Neuinfektionen noch nicht vorhersagen kann.“
Der Studienleiter schließt mit der Feststellung:
„Wir sind sehr erfreut, wie präzise unsere Berechnungen die tatsächliche Entwicklung vorhersagen können.“
Diese Einschätzung teilt nicht jeder, insbesondere wenn eine kleine Nachforschung zu Tage fördert, dass „Forscher des Braunschweiger Helmholtz-Zentrums für Infektionsforschung (HZI) und seines Saarbrücker Standortes Helmholtz-Institut für Pharmazeutische Forschung Saarland (HIPS) zusammen mit Evotec, einem führenden Wirkstoffforschungs- und Entwicklungsunternehmen, gezielt nach neuen effektiven Wirkstoffen zur Behandlung von Tuberkulose (TB) und Malaria suchen. Die Bill & Melinda Gates Foundation (BMGF) fördert das jetzt gestartete Projekt von 2020 bis 2022 mit insgesamt 2,3 Millionen Euro. Insgesamt werden etwa zehn Wissenschaftler und Techniker in den kommenden drei Jahren am Standort Saarbrücken sowie in Braunschweig und bei Evotec-Lyon an der Entwicklung neuer Wirkstoffe gegen Tuberkulose und Malaria arbeiten“ (4).
Einflussreiche Sehhelfer
Bei Wikipedia ist zu lesen:
„Das Helmholtz-Institut für Pharmazeutische Forschung Saarland (HIPS) ist eine außeruniversitäre Forschungseinrichtung, welche 2009 durch den Abschluss einer Kooperationsvereinbarung zwischen dem Helmholtz-Zentrum für Infektionsforschung (HZI) und der Universität des Saarlandes (UdS) gegründet wurde“ (5).
Und im selben Jahr meldet der Informationsdienst Wissenschaft:
„Vor drei Jahren erhielt das Fraunhofer-Institut für Biomedizinische Technik (IBMT) ein Projekt der Bill & Melinda Gates Foundation zum Aufbau einer beispielhaften HIV-Biobank für die Impfstoffentwicklung gegen AIDS (Collaboration for AIDS Vaccine Discovery — CAVD). Dass das Projekt nach Deutschland und ins Saarland kam, war zweifellos das Ergebnis einer kontinuierlichen Biotechnologieförderung durch die Landesregierung, die Fraunhofer-Gesellschaft sowie der innovativen Kryotechnologie-Entwicklungen am Fraunhofer IBMT.
Das Saarland beherbergt nun die wohl modernste Biobank der Welt, mit elektronischer Identifizierung der Proben, tieftemperaturtauglichen Speicherchips an jedem Probenröhrchen und einem hohen Grad an Automatisierung. Am 31. Juli 2009 wurde das Projekt (…) in allen Punkten erfolgreich abgeschlossen. In einem letzten Schritt wurde in diesem Jahr die Biobank mit den angegliederten Laboren nach den europäischen als auch amerikanischen GCLP-Richtlinien (Good Clinical Laboratory Practice) zertifiziert.
Unmittelbar nach Abschluss des Projektes erhielt das Saarland mit dem IBMT nun den Zuschlag für ein zweites Projekt, in dem einmal die Erweiterung der Forschungsbank und deren internationale Vernetzung vorangetrieben werden soll, zum anderen dringend benötigte Laborautomaten, die die Impfstoffentwicklung beschleunigen werden, aufzubauen sind. Das Gesamtbudget für das Zweijahresprojekt liegt bei 5 Millionen US-Dollar, wovon die Gates Foundation mit den angegliederten Forschergruppen 3,2 Millionen, das Saarland 0,5 Millionen und die Fraunhofer-Gesellschaft 1,3 Millionen US-Dollar beisteuern“ (6).
Natürlich hat dies alles nichts zu bedeuten. Natürlich.
Erstaunliche Vorsorge
Und in einem weiteren Bericht über den „Online-Simulator“ im Onlinemagazin Business Insider hält es Projektleiter Fehr für nahezu ausgeschlossen, dass der „Lockdown“ am 30. November endet, da der Zeitraum von einem Monat zu kurz sei und im „Dezember könne es sogar doppelt so viele Infizierte auf den Intensivstationen geben wie am höchsten Punkt der ersten Corona-Welle“ (7).
Mitte September berichtete das Morgenmagazin der ARD über die Landrätin von Bad Kreuznach, Bettina Dickes, die, wie sie sagte, „aus Angst vor einer Corona-Welle und auf Basis der damaligen Prognosen des Robert Koch-Institutes“ im März 50 Beatmungsgeräte bestellt hatte. „Ich hatte die Bilder aus Italien vor Augen.“ Die Geräte lagern weiterhin originalverpackt im Keller, die Rechnung über 2,2 Millionen Euro ist noch offen, wird berichtet und:
„Die Christdemokratin kann und will die Beatmungsgeräte nicht einfach so verschenken. Wie der Kauf genau abgerechnet werden soll, ist aber noch unklar. Teile der Opposition im Kreistag drohen mit einer Schadenersatzklage gegen sie.“
Tja, damals hatte auch Gesundheitsminister Jens Spahn geäußert, Deutschland sei, medizinisches Gerät betreffend, gut gerüstet — und bestellte dann mehr als 26.000 Beatmungsgeräte zu horrenden Preisen. Bis Ende August wurden davon knapp 7.700 ausgeliefert, aber lediglich 2.000 von den Bundesländern angefordert. So versuchte der Bund, Aufträge zu stornieren, was laut Auskunft nur in 2.500 Fällen gelungen ist. Mehrere hundert Geräte wurden an andere Länder verschenkt.
In einen regelrechten Kaufrausch geriet man auch in Sachen Masken. Nach Angaben des Gesundheitsministeriums sollen bis Ende 2021 noch 4,2 Milliarden OP-Masken und 1,7 Milliarden FFP2- und FFP3-Masken geliefert werden. 257 Millionen Masken hat der Bund bereits wieder kostenfrei an zahlreiche Länder abgegeben (8, 9).
Angstmachender Virologe
Ja, jeder, der es möglich machen kann, sichert sich ein möglichst großes Stück vom Angstkuchen. Schön, dass die Konditoren bereits nachgeliefert haben. Und wo alle so eifrig sind, darf selbstredend der Meister-Patissier nicht fehlen. Christian Drosten hat einen neuen Begriff in die Alltagssprache eingeführt, nämlich Triage, sogleich erklärt von den Stuttgarter Nachrichten:
„Das Wort Triage stammt vom französischen Verb ‚trier‘, was ‚sortieren‘ oder ‚aussuchen‘ bedeutet. Das System kommt aus der Militärmedizin: Ende des 18. Jahrhunderts fanden sich im ‚Königlich-Preußischen Feldlazareth-Reglement‘ erste Angaben, wie Verwundete nach Schweregraden eingeteilt werden sollten“ (10).
Der neue heiße Scheiß im Corona-Vokabular also. Und wieso vieles klingt auch dies auf Französisch so nobel, so kultiviert, wo es doch auf schlecht Deutsch gesagt darum geht, wen man über die Klinge springen lässt. Aber geben wir dem Star-Virologen das Wort:
„Wir haben auf der Intensivstation einen Patienten, der ist alt und der liegt da seit einer Woche. Der hat eine Überlebenschance von 30 bis 50 Prozent — vielleicht, je nach Situation auch 60 — und dann kommt ein Patient, der ist 35 und hat drei kleine Kinder und der hat die gleiche Krankheit und der hat einen schweren Verlauf und wenn Sie den nicht jetzt an ein Beatmungsgerät anschließen, dann ist er übermorgen tot. Das wissen Sie als Intensivmediziner. Was machen Sie? Sie müssen einen der älteren Patienten abmachen. Das ist, was Triage bedeutet“ (11).
Nein, Herr Professor, Sie fahren nach Bad Kreuznach zu Frau Dickes. Die hat noch genügend Geräte im Keller und ist froh, wenn’s dort ein wenig übersichtlicher wird. Und sie macht Ihnen bestimmt einen guten Preis.
Erstaunlicher Widerspruch
Überraschenderweise gab’s Widerspruch aus den eigenen Reihen, denn der Präsident der Deutschen Interdisziplinären Vereinigung für Intensiv- und Notfallmedizin (Divi), Uwe Janssens, sagte nach zunächst lobenden Worten, man sei von solchen Zuständen trotz Personalknappheit weit entfernt und führte aus:
„Seine Äußerungen zu einer möglicherweise drohenden Triage in Deutschland kann ich jedoch nicht nachvollziehen und halte sie für unverantwortlich. Indem er auf diese Weise davor warnt, macht er den Menschen unnötige Angst. Herr Drosten sollte sich aus der Diskussion um Kapazitätsengpässe auf Intensivstationen heraushalten“ (12).
Unmöglicher Dampfplauderer
Zur Dauer der „Maskenpflicht“ äußert laut merkur.de „Promi-Virologe Christian Drosten eine düstere Prognose: ‚Es ist unmöglich, genaue Vorhersagen zu machen, aber das nächste Jahr wird ein Jahr sein, in dem wir Masken tragen.‘ Auch ein rascher Einsatz eines Impfstoffes würde Drosten zufolge nichts daran ändern: ‚Denn auch wenn wir mit den Impfungen beginnen, wird der größte Teil der Bevölkerung weiter Masken tragen müssen.‘“
Für Drosten ist sicher: „Ostern ist die Pandemie nicht beendet“ (13, 14).
Weihnachten wird anders. Ostern also auch. Eiersuche mit Mindestabstand und Maske — da wird so manches Osterei versehentlich von Brillenträgern zertreten werden, wenn die Sehhilfe mal wieder beschlägt.
Die Panik-Maschinerie läuft und läuft und läuft. 24 Stunden, 7 Tage. Neuestes Gimmick: der Geisterbahn-Joystick aus dem Saarland. Jeder hundertste User bekommt einen Mund-Nasen-Schutz gratis. Jeder Tausendste einen Gutschein im Wert von 100 Euro für ein Beerdigungsinstitut seiner Wahl. Allerdings: Nur bei teilnehmenden Händlern.
Quellen und Anmerkungen:
(1) https://www.centerforhealthsecurity.org/event201/scenario.html
(2) https://www.rtl.de/cms/duestere-corona-prognose-fuer-deutschland-simulator-zeigt-steigende-zahlen-fuer-die-zukunft-4634400.html
(3) https://www.faz.net/aktuell/politik/ausland/von-der-leyen-mahnt-weihnachten-wird-anders-sein-17024224-p2.html
(4) https://www.uni-saarland.de/en/university/news/article/nr/21370.html
(5) https://de.wikipedia.org/wiki/Helmholtz-Institut_f%C3%BCr_Pharmazeutische_Forschung_Saarland
(6) https://idw-online.de/en/news332056
(7) https://www.businessinsider.de/wissenschaft/gesundheit/corona-simulator-ende-des-lockdowns-nach-einem-monat-unrealistisch-c/
(8) https://www.tagesschau.de/inland/beatmungsgeraete-verschenken-ausland-101.html
(9) https://www.youtube.com/watch?v=4QYS0OLuG7A
(10) https://www.stuttgarter-nachrichten.de/inhalt.christian-drosten-virologe-erklaert-corona-massnahmen-mit-vermeiden-der-triage.9df2a102-ac3a-4e8d-942f-881023088588.html
(11) https://www.merkur.de/welt/coronavirus-christian-drosten-virologe-worst-case-szenario-deutschland-zweite-welle-zr-90087962.html
(12) https://www.presseportal.de/pm/30621/4751813
(13) https://www.merkur.de/leben/gesundheit/coronavirus-wie-lange-mundschutz-maskenpflicht-virologe-christian-drosten-dauer-prognose-impfstoff-impfung-zr-90050534.html
(14) https://www.t-online.de/gesundheit/krankheiten-symptome/id_88858168/corona-ausbruch-virologe-drosten-pandemie-ist-ostern-nicht-vorbei.html