Die Zärtlichkeit der Völker
45 Jahre nach dem sandinistischen Umsturz in Nicaragua fängt Petra Hoffmanns Dokumentarfilm „Ein Traum von Revolution“ aufflammende Solidarität und enttäuschte Hoffnungen ein. Teil 2 von 2.
Die Filmemacherin und ehemalige Brigadistin Petra Hoffmann spricht im Interview über Nicaragua, ihren Dokumentarfilm „Ein Traum von Revolution“ und darüber, was geblieben ist von der Sehnsucht nach Glück und vom Kampf um eine gerechtere Welt. Petra Hoffmanns Nicaragua-Dokumentation ist zugleich eine sehr persönliche Geschichte. Seit ihrer ersten Brigade Anfang der 1980er-Jahre hat sie das Land immer wieder besucht, bis es irgendwann nicht mehr ging. Aus dem einstigen Hoffnungsträger der Revolution ist ein Tyrann geworden. Daniel Ortega regiert das Land heute im Stil des Somoza-Clans, gegen den er mit vielen anderen gekämpft hatte. Einstige Mitstreiter der sandinistischen Revolution kamen ins Gefängnis oder gingen ins Exil, darunter viele Frauen und Männer, die der Sache ein Gesicht gaben wie Dora María Téllez und Ernesto Cardenal. Ein Gespräch über Petra Hoffmanns Dokumentation und warum Revolutionen trotz allem keine Auslaufmodelle sind.
Jonny Rieder: Du warst Anfang der 1980er-Jahre zum ersten Mal in Nicaragua. Was hat dich bewegt, nach 45 Jahren einen Film über diese Zeit und die Geschichte der Sandinistischen Revolution zu machen?
Petra Hoffmann: Ich bin in den 80er-Jahren nach Nicaragua gegangen, weil ich den Kampf gegen Diktaturen höchst unterstützenswert fand und noch immer finde. Ich wollte nie in die Fußstapfen einer Generation von Kriegsverbrechern treten. Den Film will ich bereits seit 10 Jahren machen. Es hat sich leider so lange hingezogen, die Finanzierung zu schließen und einen Sender zu finden, den das Thema interessiert.
Es ist schade, dass viele Interviews, die ich in früherer Zeit geführt habe, nicht mehr eingebaut werden konnten. Die Leute wollten nicht mehr im Film auftauchen aus Angst vor Repressionen durch die Ortega-Murillo-Diktatur. Das zeigt die Komplexität und die manchmal frustrierenden Aspekte einer Filmproduktion.
Darin ähneln sich Filmproduktion und Revolutionen.
Ich betrachte Revolutionen als Produkte ihrer Zeit. Wenn eine Revolution stattfindet, geschieht dies in den seltensten Fällen so wie erwartet. Sie sind in dem Moment, in dem sie geschehen, unwiderruflich, unwiderstehlich und oft auch unvorhersehbar, wie Hannah Arendt es formuliert hat. Die Utopie einer besseren Welt, die Vorstellung, die Welt grundlegend verändern zu können, ist das Vorrecht junger Menschen. Insofern werden wir sicher weitere Aufstände erleben.
Das Zeitalter der Revolution ist nicht vorbei, obwohl sich heute Regimewechsel oft schleichend vollziehen.
Aber die Globalisierung kann dazu beitragen, Proteste zu fördern. Daher glaube ich, dass trotz der enttäuschten Hoffnungen und der gerechtfertigten Kritik die Motivation zur Revolution bestehen bleibt, insbesondere in Zeiten, in denen die soziale Ungleichheit zunimmt. Der Kampf um Verteilungsgerechtigkeit bleibt bestehen, wie wir an den Flüchtlingsströmen ablesen können.
In der Geschichte gab es immer wieder revolutionäre Regierungen, die vielversprechend anfingen, dann stark nachließen und immer mehr gegen die Menschen regierten, etwa Fidel Castro in Kuba, Robert Mugawe in Zimbabwe und aktuell der sandinistische Präsident Nicaraguas, Daniel Ortega, wobei Ortega anders als Castro und Mugawe nicht durchgängig im Amt war. Woher kommt dieser Gesinnungswandel, diese ausschließliche Ausrichtung auf Machterhalt um jeden Preis?
Revolutionen hängen von vielen Faktoren ab, die sich von Land zu Land stark unterscheiden. Sie unterliegen keinem didaktischen Handlungsschema, das vorgibt, wie sie umzusetzen sind. Die Rahmenbedingungen sind immer und überall anders. Die Revolutionäre und Revolutionärinnen können zudem nicht den allumfassenden Überblick haben, den wir als Außenstehende ihnen oft fälschlicherweise zumessen. Fehlentwicklungen lassen sich oft erst im Nachhinein erkennen.
In der jeweiligen Situation müssen oftmals schnelle Entscheidungen getroffen werden. Manche erweisen sich im Nachhinein als Fehler … Diejenigen, die den Umsturz tragen, die im Untergrund protestieren und kämpfen, sind selten dieselben, die dann während und nach dem Machtwechsel in Entscheidungspositionen sitzen.
In Nicaragua spielten Frauen zum Beispiel eine wichtige Rolle im Untergrundkampf gegen Somoza. Bei der Machtübernahme wurden sie allerdings an den Rand gedrängt und im Laufe Zeit immer weniger berücksichtigt. Daniel Ortega signalisierte bereits als Guerillero seinen Machthunger. In dieser Situation mochte das sogar zielführend gewesen sein. Auch haben seine Erfahrungen im Gefängnis unter Somoza, wo er gefoltert wurde, und die Opfer des Guerillakampfes wohl tiefe Narben hinterlassen. Es geht nicht spurlos an einem vorbei, wenn man tötet oder zusieht, wie Menschen getötet oder gefoltert werden.
Die Revolution in Nicaragua stand unter dem ständigen großen Druck, einerseits bessere Lebensverhältnisse zu schaffen, andererseits die Umsturzversuche der Contra abzuwehren, die mit ungleich größeren finanziellen, militärischen und logistischen Mitteln ausgestattet waren — powered by Uncle Sam.
Nach dem Sieg der Revolution gab es nur eine kurze Zeit der Freude für die Kommandanten, da die Contra-Bewegung — finanziert und ausgebildet durch die USA/CIA — in 11 Jahren (1979 bis 1990) rund 50.000 Menschenleben forderte. Es war kaum möglich, alle Vorhaben der Frente (1) umzusetzen, da 40 Prozent des Staatshaushaltes in die Verteidigung floss.
Die Wahlniederlage von 1990 war für Ortega völlig unerwartet und führte zu einer tiefen Enttäuschung. Die vielen Opfer, die für die Verteidigung der Revolution gebracht worden waren — auch von ihm persönlich —, machten die Niederlage umso bitterer.
Ortega entschädigte sich dann aus der Staatskasse ...
Und als er bemerkte, dass er ungestraft davonkam — sei es durch die Bereicherung mittels der Piñata (2), der illegalen Aneignung von Grundstücken und Aktien —, dürfte er dies als Freibrief verstanden haben, der ihm suggerierte, sich nun alles erlauben zu können. Hinzu kamen sein geschicktes Agieren und Manipulieren innerhalb der Partei, das es ihm ermöglichte, alle Kritiker auszustechen und den Vorsitz der Partei zu übernehmen.
Sogar einen seiner schärfsten Kritiker, Thomas Borge, konnte er ausbooten. Selbst in der Opposition während der Regierung Violetta Chamorro hatte Ortega noch eine unüberhörbare Stimme, die er nutzte, um seine Rückkehr an die Macht zu sichern, was ihm 2007 schließlich gelang.
Mit neuen Verbündeten?
Ab diesem Zeitpunkt galt Ortegas Interesse ausschließlich dem Machterhalt, und den sicherte er sich, indem er auch ehemaligen Gegnern Zugeständnisse machte, zum Beispiel dem Unternehmerverband und der Kirche. Pakte zwischen dem herrschenden Parteibündnis und den alten Regime-Eliten sicherten ihm den Weg. Seine ehrgeizigen Ziele hießen ab diesem Zeitpunkt: Alle Macht in die Hände des Ortega-Clans und alles an sich raffen, was geht. Der Somoza-Clan besaß 40 Prozent des landwirtschaftlich genutzten Bodens und ganze Industriezweige, also wollte Ortega nun mindestens genauso viel …
Dein Film zitiert die Journalistin Sofía Montenegro zum Thema Geschlechtergerechtigkeit:
„Schließlich ist der Machismo ganz wesentlich eine Hinterlassenschaft der Kolonisatoren. Unsere Gesellschaft ist das Ergebnis einer großen Vergewaltigung, der Vergewaltigung indianischer Frauen durch weiße Eroberer. Das hat eine große Wirkung, kulturell und psychologisch, auf die Bildung der Bevölkerung.“
Was sie sagt, erinnert mich spontan an Nigel Coles Spielfilm „We Want Sex“ (Originaltitel: Made in Dagenham) von 2010. Er handelt von englischen Arbeiterinnen, die Ende der 1960er-Jahre für höhere Löhne kämpfen beziehungsweise für gleiche Löhne wie ihre männlichen Kollegen, von den durchweg männlichen Gewerkschaftsführern und Politikern aber keine Unterstützung erhalten, weil sie Frauen offenbar nicht für gleichwertig halten. Welche Rolle spielt(e) der Machismo — auch innerhalb der Sandinisten — als Demokratie-Hemmer in Nicaragua?
Die revolutionären Bewegungen der 1970er-Jahre waren links, aber verstanden sich auch als Macho-Avantgarde. Sie waren gegen die Diktatur, aber wollten die Gender-Hierarchie beibehalten, erzählte María Teresa Blandón 2017.
Seit den Anfängen einer autonomen Frauenbewegung in Nicaragua in den 1990er-Jahren engagiert sich die ehemalige Sandinistin in feministischen Studienzentren. Die ausschließlich mit Männern besetzte Dirección Nacional, die Nationale Führung der Frente Sandinista de Liberación Nacional (FSLN), kommentierte sie:
„Es war ihre Bestätigung als maskuline Avantgarde. Sie waren die neun Götter der Revolution. Die Männer waren nicht bereit, Frauen in die Führungsriege aufzunehmen, in den revolutionären Olymp.“
Welche Eindrücke hattest du selbst vom nicaraguanischen Machismo?
Für mich gipfelte der Machismo, verbunden mit der sich seit Mitte der 1980er-Jahre verschärften Kriegslogik, in der Parole der FSLN, die Gebärmütter der Frauen hochleben zu lassen, weil diese neue Soldaten zur Welt bringen.
Ein weiterer Beitrag zum Scheitern der Revolution?
Ich denke, dass das revolutionäre „freie“ Nicaragua nicht alleine an den „Hauptwidersprüchen“ scheiterte und dem von den USA gegen die Sandinisten geführten Krieg. Es scheiterte auch, weil basisdemokratische Ansätze mehr und mehr auf der Strecke blieben und Macht — gerade auch die von Männern — nie freiwillig aufgegeben wird. Am Ergebnis haben auch Frauen ihren Anteil: Frauen, die wie die Ortega-Gattin Rosario Murillo selbst Verfechterinnen eines machistisch-klerikalen Rollenbildes sind. Aber auch andere, weil sie Männern glaubten, sich unterordneten oder zu geduldig waren, als das historische Moment auf ihrer Seite schien.
Wie wurden die Brigadisten in Nicaragua aufgenommen? Du lieber Himmel, jetzt kommen die Gringos und erklären uns, wie man Schulen baut? Oder erfreut über die Solidarität aus Ländern, deren Regierungen meist (in Deutschland seit 1982 unter Helmut Kohl) direkt oder indirekt die Contra unterstützten?
Dafür gibt es keine einheitliche Antwort. Je nachdem, wo wir unterwegs und im Einsatz waren, erwarteten uns entweder weit geöffnete Türen, viel Neugier und Gastfreundlichkeit, bei der das wenig Vorhandene mit uns geteilt wurde.
In Konfliktregionen gab es auch immer eine große Portion Skepsis. Was wir da wollen, und was die Regierung mit unserer Hilfe denn wohl vorhat? Diese Fragen standen den Menschen dort in die Gesichter geschrieben. Insgesamt jedoch sind viele intensive Kontakte entstanden, eben durch das Zusammenleben und -arbeiten.
„Als ich nach drei Monaten wieder nach Deutschland zurückkehre, habe ich Schwierigkeiten, mich wieder einzuleben. Die Bilder vom Krieg verfolgen mich im Schlaf. Was passiert mit meinen Freunden in Acoyapa?“ (3) — einer deiner Kommentare im Film.
Hattest du gegenüber deinen nicaraguanischen Freunden und Mitstreitern Schuldgefühle oder ein schlechtes Gewissen, als du nach einigen Monaten nach Deutschland zurückgekehrt bist, während jene dortbleiben mussten und einen immer schlimmeren werdenden Krieg ertragen mussten? Und hat dich das bewegt, erneut nach Nicaragua zu reisen?
Ja, das war so. Ich hatte auch ein schlechtes Gewissen und bin deswegen zurückgekehrt. Aber wir glaubten auch an unsere nicaraguanischen Freunde und Freundinnen und an ihre Utopie.
Und wir glaubten an die Kraft der persönlichen Beziehung. Viele gemeinsame Erlebnisse verbinden uns bis heute. Es war schon so etwas wie Solidarität, die wir versuchten zu praktizieren, und es ist uns auch zum Teil gelungen, obwohl wir auch viel in den Sand gesetzt haben. Projekte, die bis heute überlebt haben, machen aber auch stolz.
Und wie hat deine Nicaragua-Erfahrung dein Leben in Deutschland beeinflusst?
In den nachfolgenden Jahren habe ich versucht, nicht dem Konsumterror zu verfallen und möglichst fair hergestellte Produkte zu kaufen. Das Thema fairer Handel ist für mich nach wie vor sehr wichtig. Nicht nur die „Sandino-Dröhung“ (4).
Das ist gar nicht so einfach immer umzusetzen, wenn man eine Familie ernähren muss und der eigene Geldbeutel gerade nicht so gut gefüllt ist. Wir wissen ja alle, dass wir eigentlich anders einkaufen müssten, um gerechtere Strukturen zu schaffen. Konsequent bin auch ich nicht immer. Leider.
Was ist aus deinen damaligen Idealen geworden?
Wir alle hatten Ideale, wir hatten Träume, wir hatten Hoffnungen. Und wenn ich sagen würde, wir hatten die Illusion, dass wir sehr schnell eine gerechtere, egalitärere Welt in Nicaragua schaffen könnten, dann sind wir sicher desillusioniert, weil das nicht umsetzbar war.
Ich fühle eine gewisse Ratlosigkeit. Vor 40 Jahren ging es uns um eine global gerechte Welt. Heute ist die Welt in dieser Hinsicht schlimmer dran denn je. Das macht unglücklich, aber nicht hoffnungslos. Meine Ideale sind nicht verloren gegangen, aber die konkrete Umsetzung ist mitunter schwierig. Einfach durch die Zwänge, in denen man steckt.
Das Leben zieht einem manchmal den Zahn. Die Lebensumstände, in denen man steckt, ermüden und hindern einen gelegentlich daran, das umzusetzen, was man eigentlich für richtig hält. Dora Maria Téllez und die anderen im Exil in Costa Rica machen dennoch Hoffnung auf eine bessere Zukunft für Nicaragua.
Am Ende des Films sagst du: „Ich hoffe, eines Tages nach Nicaragua zurückkehren zu können.“ Verbindest du damit auch eine Hoffnung für mehr Engagement?
Ich weiß nicht, ob die nachfolgenden Generationen aus der internationalen Solidaritätsbewegung mit der sogenannten Dritten Welt der 1980er-Jahre etwas lernen können. Mit dem Film möchte ich versuchen, das Verständnis von sozialen Bewegungen und das Wissen über deren Entwicklungsbedingungen und innere Dynamiken zu erweitern. Nicht die Sentimentalität steht bei mir im Vordergrund, sondern das Reflektieren über die Welt zwischen Vergangenheit und Gegenwart. Aus heutiger Sicht ist die Entscheidung, während eines Krieges nach Nicaragua zu gehen, nicht mehr so leicht nachzuvollziehen.
Doch in den 1980er-Jahren gab es eine breite Unterstützung der sogenannten Dritte-Welt-Bewegung. Für viele war der Mord an Salvador Allende in Chile ein Schlüsselerlebnis. Auch die Absetzung der Militärdiktatur in Argentinien und die Solidarisierung mit den Müttern der Plaza de Mayo war ein großes Thema. Ich finde es wichtig, auf die 1980er-Jahre hinzuweisen, als es noch große Massenbewegungen gab, die die Straße bevölkerten: die Friedensbewegung, die Ostermärsche, die Anti-AKW-Bewegung et cetera. Ich würde mich sehr freuen, wenn mein Film Mut machen würde, wieder mehr aktiv für Verteilungsgerechtigkeit einzustehen.