Die Wüste wächst
In Mali zeigen sich die Auswirkungen des Klimawandels und des globalen sozialen Ungleichgewichts besonders drastisch.
„Verwüstung“ — dieses schlimme Wort prägt Mali gleich in mehrfacher Hinsicht. Während sich die Sahara Stück für Stück weiterschiebt und die Bevölkerung ungebremst wächst, halten Aufstände und militärische Auseinandersetzungen das geplagte Land in Schach. Knapp die Hälfte der Menschen dort lebt unterhalb der Armutsschwelle. Neokoloniale Militärmissionen werden mehr und mehr abgelehnt. Europa solle Bäume pflanzen, statt Soldaten zu schicken.
Nach Robert E. Munns Schätzungen im Band 3 der „Encyclopedia of global environmental change“ aus dem Jahr 2002 frisst sich die Sahara jedes Jahr 48 Kilometer weit nach Süden in die Sahelzone Malis und drängt diese weiter.
Nathalie Thomas und Sumant Nigam kamen im Fachmagazin der University of Maryland „Journal of Climate“ im Mai 2018 zu dem Schluss: „Die Sahara wächst immer schneller.“ Die Forscher hatten die Niederschlagsdaten für den Zeitraum von 1920 bis 2013 analysiert. Danach dehnte sich die Sahara im Norden und Süden um 10 Prozent aus, also über 200 Kilometer in jede Richtung (siehe Schaubild).
Und eine dritte Zahl: Der aus Schweden, der Schweiz und der EU finanzierte malische Radiosender Studio Tamani führte im Juni 2019 die Expertenschätzung von 7 Kilometer pro Jahr Ausdehnung nach Süden an. Aber gleichgültig, welche Zahl stimmen mag, sie steht seit Jahrzehnten für Hunger, Tod, Vertreibung und Bürgerkrieg — und müsste mit aller Kraft korrigiert werden.
Das Crowther Lab an der ETH Zürich publiziert in seiner neuen Studie, dass zwei Drittel der vom Menschen verursachten CO2-Emissionen durch Aufforstung absorbiert werden könnten (1). Das Projekt „The Great Green Wall“ in China ist eine 40-jährige Erfolgsstory harten stetigen Bemühens der Aufforstung. Leider steht das auch von Deutschland aus der Taufe gehobene Projekt „The Great Green Wall of Africa“ in Mali — im Gegensatz zu Senegal und Nigeria — weit hinter den militärischen Anstrengungen. Und Deutschland täte gut daran, mehr Bäume statt Soldaten zu schicken!
In Mali ist seit 1968 der Regenfall übers Jahr gerechnet um 30 Prozent gesunken, anstatt drei Monate Regenzeit nur noch im Juli und August. In den ersten fünf Jahren kostete die Trockenheit in Folge des Klimawechsels 250.000 Menschen und 3,5 Millionen Stück Vieh das Leben. Dabei sind nur 3,8 Prozent des Landes fruchtbares Ackerland. Und das gibt zu 90 Prozent den Familien kleiner Bauern in Subsistenzwirtschaft nur das Nötigste zum Leben (2). Die Ausbeute an Fisch sank um ein Fünftel, Ernteerträge von Reis und Hirse gingen zwischen 40 bis 50 Prozent zurück.
Abbildung 1. Quelle: The Weather Company 23. Mai 2018: „Größte Wüste der Welt wächst immer schneller — mit verheerenden Folgen“.
Der aufhaltsame Prozess der „Verwüstung“ wird begleitet durch Entwaldung, den Kahlschlag in erster Linie für Brennholz, die Hauptenergiequelle zum Kochen. Nur 18 Prozent der Bevölkerung sind an Elektrizität angeschlossen. Etwa eine Million Ar — ein Ar sind 100 Quadratmeter — von Bäumen und Wald wird in Mali jedes Jahr abgeholzt, was einer Waldfläche von 100 Quadratkilometern entspricht –zum Vergleich: Der Bayerische Wald ist 100 Kilometer lang. Dies geschieht mit den bekannten Konsequenzen von Savannenbildung und Bodenerosion, was dem Fortschreiten der Wüstenbildung Vorschub leistet. Ceterum Censeo: Deutschland sollte Bäume statt Militär nach Mali schicken!
Wenn wir bedenken, dass die Bevölkerung Malis rapide wächst, sich innerhalb von 30 Jahren verdoppelt bei einer Geburtenrate von 6,06 Kindern pro Frau (2016), dann wird verständlich, dass die seit Jahrhunderten geltenden Regeln des Zusammenlebens im Zentrum des Landes zwischen ackerbebauenden Dogons und viehzüchtenden Peuls in Turbulenzen gerieten, wie selbst Präsident Ibrahim Boubacar Keita (IBK) im Exklusiv-Interview mit jeune afrique am 17. Juni einräumte. Durchzugskorridore für die Herden, kollaterale Schäden für den Fischfang inklusive, und traditionelle Weidegebiete im Süden während der Trockenperiode stehen im Streit. Elementare Konflikte, von den Patriarchen der beiden Ethnien nicht mehr beizulegen, wuchsen sich zu blutigen Konflikten aus, in denen seit Anfang des Jahres über 300 Menschen zu Tode kamen.
In Mali zeigen sich die gleichen dramatischen Konsequenzen, wie sie seit Jahren auch die sudanesische Bevölkerung in Darfour erleidet. Erzwungene Migration, blutige Kämpfe ums Land, militärische Aufstände — in Mali unter dem Etikett „Ethno-Djihadismus“.
Die Tradierung kolonialen Denkens, das die Auseinandersetzungen auf ethnisch-rassische Gegensätze zurückführt — Stichwort „Krieg der Zivilisationen“ — wird als gängiges Erklärungsmuster herangezogen. Pars pro toto sei hier Bernard Lugan angeführt, der wie Präsident Trump den Anteil menschlichen Tuns am Klimawechsel leugnet. Bernard Lugan, auch Biograf des Kolonial-Generals von Lettow-Vorbeck, spricht in seinem neuen Buch „Les Guerres du Sahel. Des origines a nos jours“ von einer „Überinfektion der ethnisch-rassischen Wundmatrix der gegenwärtigen Konflikte“ — dem Kampf der Ethnien, also Kulturen als historische Konstante.
Le Monde ist im Juni in einer Serie dem in Nigeria tobenden Weidekrieg nachgegangen, dem in den letzten 5 Jahren 7.000 Tote zum Opfer fielen. Wie sehr das Problem auf den Nägeln brennt, zeigt der von Florian Krampe vom schwedischen Friedensinstitut SIPRI herausgegebene Bericht zu den globalen friedensbedrohenden Auswirkungen des Klimawechsels, den die Deutsche Welle am 26. Juni 2019 vorstellte.
Regierungswechsel nach Volkszorn
Der 23. März markierte eine Zäsur. Das Massaker in Ogossagou, das 157 Menschen vom Stamm der Peuls das Leben kostete, brachte das Fass zum Überlaufen. Der Ministerrat leitete daraufhin Sofortmaßnahmen der Regierung ein: Sanktionierung und Umgruppierung in der Militärführung; als neuer Verteidigungsminister wurde General Ibrahim Dahir Dembele eingesetzt, der bei den Berets rouges in den Militärputsch im März 2012 verstrickt war. Auch in der Staatsverwaltung wurde umstrukturiert, unter anderem wurde General Sidi Alassane Touré als Gouverneur von Mopti abgesetzt. Weiterhin löste die Regierung die den Dogon angehörende waffentragende Selbstverteidigungsmiliz Ambassagou auf.
Zigtausende beantworteten diese Maßnahmen auf der Straße. Aufgerufen vom Hohen Islamischen Rat (HCIM) demonstrierten sie für ein friedliches Zusammenleben und gegen die ausländische Militärpräsenz, aber auch gegen das malische Militär, das zum Beispiel am 9. Juni nicht gegen das stundenlange Massakrieren im Dorf Sobane Da (Region Mopti) eingeschritten war. Dass das vom Präsidenten angeordnete Verbot, in der Region mit Mopeds zu fahren, und die Anordnung, sie zu zerstören — die Mordbanden fahren auf Mopeds zum Massaker —, zur Stabilität beitragen, darf bezweifelt werden.
Präsident IBK sah sich zum Bauernopfer gezwungen, seinen Regierungschef Soumeylou Boubèye Maïga auszuwechseln, um eine drohende Implosion des Staates zu verhindern und vor den internationalen Geldgebern Initiative zu beweisen. Am 22. April ernannte IBK den oppositionellen Ökonomen Boubou Cissé, der 2013/2014 Finanz- beziehungsweise Bergwerksminister gewesen war, zum Premierminister. Am gleichen Tag wählte der Hohe Islamische Rat Cherif Ousmane Madani Haidara an die Spitze und löste Imam Mahmoud Dicko ab, der die islamische Fronde gegen die Regierung führte und weiterhin in kritischer Distanz verbleibt. Auch Soumaila Cissé, der frühere Präsident der Westafrikanischen Wirtschafts- und Währungsunion UEMOA und zweimal gescheiterter Rivale gegen IBK in der Präsidentenwahl, verweigerte sich der „Regierung der Öffnung“.
Bis zum 5. Mai bildete Boubou Cisse sein Kabinett, mit dem Chef der größten Oppositionspartei Tiebile Drame als Außenminister. Ist Präsident IBK den Ratschlägen des weisen Thierno Souleymane Baal aus dem 18. Jahrhundert gefolgt, „einen verdienten, uneigennützigen Mann (zu ernennen), der die Güter dieser Welt weder für sich selbst noch für seine Verwandten erstrebt“?
Programmwechsel?
Am 5. Juni eröffnete der Premierminister verschiedenen ausländischen Diplomaten, innerhalb von drei Monaten einen Rahmenplan, eine Roadmap, auszuarbeiten, um den 2015 mit den Tuareg-Unabhängigkeitsströmungen geschlossenen Friedensvertrag umzusetzen, zum x-ten Mal. Sowohl NGOs als auch die UN-Mission MINUSMA seien in die Beratungen miteinbezogen mit dem Ziel, zum einen Sicherheit und Militär zu verstärken, und zum anderen ein Referendum anzusetzen, um die Verfassung von 1992 und die politischen Institutionen dem Friedensvertrag — und dem französischen Vorbild — entsprechend nachzubessern: Ein Senat soll als zweite Kammer, auch ein Rechnungshof zur Kontrolle der Staatsfinanzen geschaffen werden. Die Behördenstruktur soll regionalisiert und eine ständige soziale Konferenz als Beratungsorgan eingerichtet werden.
Von neuem Zuschnitt der Wahlbezirke ist die Rede, aber nichts zum Kampf gegen die Auswirkungen des Klimawechsels. Die Nationalversammlung hat per Gesetz das eigene Mandat bis Mai 2020 verlängert, ein Verfahren, das — nicht zu Unrecht — als illegitim kritisiert wird. Und wenn das Referendum aufgrund der Sicherheitslage als undurchführbar erscheinen sollte, wird dieses Parlament die Verfassungsreform absegnen?
Außerdem ist vorgesehen, eine spezielle ökonomische Entwicklungszone im aufrührerischen Norden zu schaffen (3) — wohl wissend, wie Aliko Dangote, der reichste Oligarch Afrikas, in Richtung Boko Haram sagte, dass Arbeit für die Jugend die Perspektive sein müsse —, wobei in Mali noch Investoren zu gewinnen wären. Die Regierung könnte dabei auf das Anfang des Jahres vorgestellte Programm zur Entwicklung der Infrastruktur zurückgreifen.
Aber auch die neue Regierung setzt den Schwerpunkt auf die militärische Karte. Präsident IBK sieht sich „im Krieg“, er hat offenbar Algerien im Hinterkopf. Nicht nur gegen djihadistische Mörderbanden, die er mit den faschistischen Okkupanten Frankreichs vergleicht, auch gegen die Milizen, mit denen das Zentrum des Landes „verwanzt“ sei.
Der Prozess der Entwaffnung, Demobilisierung und Reintegration von Aufständischen ist über die Testphase nicht hinausgekommen: Nur 1.600 Kämpfer von den 8.000 Registrierten nehmen an dem Wiedereingliederungs-Programm teil.
Die Armee müsse dringend „rekonstruiert und ausgerüstet“ werden, sagt Präsident IBK. Die 22 Prozent des Haushalts, die der Sicherheit gewidmet seien, könne er nicht überschreiten, der sozialen Aufgaben wegen. Er setzt offensichtlich auf mehr ausländische Militärhilfe: „Unsere Verbündeten müssen verstehen, dass uns in Mali auch Europa verteidigt.“
Der am 26. Juni 2019 mit Russland geschlossene Vertrag zur militärischen Zusammenarbeit dürfte zur Stabilisierung der Lage in Mali beitragen, wie es sich der neue Verteidigungsminister General Ibrahim Dahir Dembele wünscht, insbesondere was Bewaffnung und logistische Ausrüstung betrifft. Diese Kooperation könnte Malis Regierung politisch etwas mehr Spielraum verschaffen, mit größerer Autorität aufzutreten.
Russische Soldaten wie die Gruppe Wagner in der Zentralafrikanischen Republik erscheinen einigen möglich, aber die französische Operation Barkhane und die UN-Mission MINUSMA zu ersetzen — wie von den einen befürchtet und von den anderen begrüßt — wird kaum zu erwarten sein. Der französische Botschafter Joel Mayer stellte sich im Interview mit maliactu am 12. Juli „mit dem Rücken an der Wand“ der Kritik, auch noch unterstützt von General Lecointre in Le Monde vom 13. Juli.
MINUSMA, um ein Jahr bis 30. Juni 2020 verlängert, hat bereits angekündigt, ihre Patrouillen im Zentrum des Landes zu verstärken. Ihr Plan Onyx sieht vor, beim Wiederaufbau von zerstörten Dörfern und bei der Bestellung der Felder mit Saatgut zu helfen. So wäre wenigstens ein Bruchteil der 1,3 Milliarden Dollar produktiv eingesetzt, die der Einsatz von MINUSMA pro Jahr kostet.
Es gelte, die staatliche Souveränität wiederherzustellen, die drohende Afghanisierung zu verhindern, kommentiert Chefredakteur Francois Soudan in jeune afrique am 30. Juni 2019 (4). Zwar haben im Norden Gouverneure ihren Amtssitz ein- und ihre Arbeit aufgenommen, aber große Gebiete des Landes kennen keine Staatspräsenz wie Bürgermeister, Polizei und Schule. 70 Prozent der Staatsbeamten sind von ihren Posten desertiert, das heißt vertrieben worden.
Nationale Versöhnung als Alibi?
Offiziell soll ein neuer Anlauf unternommen werden, einen „inklusiven“ sozialen Dialog mit allen aufzunehmen. Der erste Anlauf, der Cadre national de concertation, der nationale Rahmenplan der Verständigung, geleitet vom Minister der Territorialverwaltung, stieß auf heftige Kritik und Ablehnung. Der neue Premierminister übertrug nunmehr die Leitung des Dialogs einem Diplomaten, Cheik Sidi Diarra, dem früheren Botschafter des Landes in Algerien 1993 bis 2003, bei der UN 2003 bis 2007 und Sonderberater des UN-Generalsekretärs für Afrika in den Jahren 2008 bis 2012.
Präsident IBK setzte am 25. Juni ein Komitee von Vermittlern, Facilitateurs, ein, darunter auch die international bekannte Globalisierungsgegnerin Aminata Dramane Traoré. Die marxistisch-leninistische Partei SADI hat berechtigte Zweifel geäußert, dass auch muslimische Aktivisten in den Dialog miteinbezogen werden, sieht in diesem nationalen Dialog eine Alibiveranstaltung wie sie Präsident Macron in Frankreich mit großem Aufwand durchgezogen hat.
Denn die herrschenden Eliten des Landes und Präsident IBK wissen längst, wo der Bevölkerung der Schuh drückt. Und sie haben es auch schriftlich: im „Weißbuch der Zivilgesellschaft für Frieden und Sicherheit in Mali“ (5). Präsident IBK hat es am 30. Januar 2019 selbst der Öffentlichkeit vorgestellt. In mehreren Jahren erarbeitet wurde die Studie von dem international renommierten Stockholmer Friedensinstitut SIPRI und Conascipal, der malischen Nationalen Koalition für Frieden und gegen den Handel mit Handfeuerwaffen.
Nicht der Mangel an Sicherheit wird in allen drei Zonen Malis als Hauptproblem geäußert, sondern die Arbeitslosigkeit und generell die Armut angeprangert.
Selbst General Febric der französischen Besatzung Barkhane erklärte gegenüber maliactu am 1. Juli 2019, die Malier vor Ort seien „am besten in der Lage, die Krise des Zentrums zu lösen (…) eine fremde Truppe mit einer schlechten Kenntnis der Situation würde sicherlich viel mehr Schwierigkeiten verursachen und die Situation verschärfen.“
Präsident IBK wird den Kampf gegen die Armut aufnehmen müssen — 47 Prozent der Bevölkerung leben unterhalb der Armutsschwelle von 1 US-Dollar Tageseinkommen — um von sich selbst sagen zu können, „der alte Mann wird 2023 abtreten, nachdem er — so Gott will — sein Land auf den Weg des Friedens und des Wohlstands geführt hat“ (6).
Quod erat demonstrandum — was zu beweisen wäre ….
Quellen und Anmerkungen:
(1) ETH Zürich 4. Juli 2019: „Wie Bäume das Klima retten könnten“ (https://ethz.ch/de/news-und-veranstaltungen/eth-news/news/2019/07/wie-baeume-das-klima-retten-koennten.html)
(2) Wieteke Aster Holthuijzen, Jacqueline Rugaimukamu Maximilian (University of Idaho): „Dry, hot, and brutal: Climate change and desertification in the Sahel of Mali“ in: Journal of Sustainable Development in Africa Volume 13, No. 7, 2011) S. 245 — 268
(3) Ibrahim Boubacar Keita: „Nous sommes en guerre“ in: jeune afrique 30. Juni 2019
(4) a.a.O.
(5) SIPRI 31. Jan. 2019: „Livre Blanc de la societe civile pour la paix et la securite au Mali“ https://reliefweb.int/report/mali/livre-blanc-de-la-soci-t-civile-pour-la-paix-et-la-s-curit-au-mali
(6) Ibrahim Boubacar Keita: „Nous sommes en guerre“ in: jeune afrique 30. Juni 2019
Weitere Informationen zum Thema:
Georges Hallermayer: „Mali zwischen Terrorismus & Drogen-Mafia, ländlichem Aufruhr & sozialer Revolte“ in: International. Die Zeitschrift für internationale Politik, Wien, Ausgabe II/2019, S. 47 bis 50.