Die Wurzeln der „Wiesn“

Das Münchner Oktoberfest steht ursprünglich für die Dankbarkeit und Naturverehrung unserer Vorfahren.

Wer heute an das Oktoberfest in München denkt, der hat oft nicht mehr als ein rituelles Saufgelage vor Augen. Doch nur die wenigsten Menschen wissen, was es kulturhistorisch mit diesem Fest auf sich hat. Im Grunde handelt es sich um die Mega-Variante einer Kirchweih, eine christliche Tradition, die bis ins frühe Mittelalter zurückreicht und bei der sowohl Katholiken wie Protestanten die jährliche Weihe ihrer Gotteshäuser zelebrieren. Gleichzeitig ist es eng verbunden mit dem Ende der Erntesaison. Ritualisierte Feste beweisen, dass uralte Überlieferungen des Dankes und der Freude über die unerschöpflichen Gaben der Natur bis in unsere digital bestimmte Welt überlebt haben. Auszug aus Renate Reuthers Essayband „Feste feiern — dann aber richtig“.

September — überall im Land läuten wieder die Glocken. Kirchweih. Auf den Dörfern wird ein verlängertes Wochenende gefeiert. Mit Musik und Tanz, Festtagspeisen und reichlich alkoholischen Getränken wird der Ausnahmezustand erklärt. Mancherorts erinnert noch der traditionelle „Bocksbraten“ an die bacchantischen Ursprünge des Festes. Spanferkel und Ochsen am Spieß künden vom Beginn der Schlachtsaison. Mit Sahne, Eiern und Schmalz wird verschwenderisch gebacken. Jetzt nach der Getreideernte im August steht wieder frisches Mehl zur Verfügung. Der Charakter eines Erntefestes ist noch heute unverkennbar.

Über die Jahrhunderte hatten Bauern und Ackerbürger seit dem Frühjahr unermüdlich Felder und Gärten bearbeitet. Der Viehbestand war gewachsen. Es war Zeit und Gelegenheit, der Natur zu danken. Nachhaltiges Wirtschaften war bis zum Aufziehen des Kapitalismus eine Notwendigkeit für das Überleben. Durch die Einlagerung von Vorräten konnte man dem kargen Winterhalbjahr zuversichtlich entgegenblicken. Es ist kein Zufall, dass diese „Kirchweihen“ ganz überwiegend zum Ausgang des Sommers stattfinden.

Aber wie hätten die Kirchen landauf landab gerade nach der arbeitsreichen Erntesaison fertiggestellt sein können? Waren doch nur die wenigsten Handwerker am Bau Spezialisten. Die meisten Arbeiten mussten durch die fronpflichtigen Menschen vor Ort erfolgen, die noch mindestens einen Zehnt ihrer Arbeitsleistungen für die Herrschaft erbringen mussten. Alle logistischen Dienste oblagen den Besitzern von Pferde- und Ochsengespannen, die in Erntezeiten unentbehrlich waren. Der Gleichklang von Ernteabschluss und „Kirchweihe“ muss eine andere Erklärung haben.

Eigentlich handelt es sich bei Kirchweih/Kerwa/Kirmes/Kirtag um alte Dorffeste, bei denen sich alles um eine „Kür“ drehte. Es fanden Wahlen und Wettbewerbe statt. Eigentlich müssten die Feste „Kürtag“ oder „Kürmes“ heißen. Reste dieser Tradition haben sich in der Wahl eines Schützenkönigs oder einer Weinkönigin erhalten. Mannschaften konkurrierten, man konnte sich eine Trophäe in gefährlicher Höhe vom Kirchweihbaum pflücken oder beim Kartenspiel („Schafkopf“) ein lebendes Tier gewinnen.

Die phonetische Ähnlichkeit von Küren und Kirche nutzte die Geistlichkeit, den Zweck der Veranstaltung umzudeuten und in ihr Hoheitsgebiet zu ziehen. Dabei sind die Wurzeln leicht bis in die naturreligiöse Zeit zu verfolgen. Das keltische Quartalsfest zur Getreideernte Anfang August und das Fest der römischen Göttin Diana zur Augustmitte gehören in diese Traditionslinie. Mit der drohenden Zerstörung unserer Lebensgrundlagen durch die verordnete Zeitenwende gewinnt die Naturverehrung unserer Vorfahren brennende Aktualität.



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