Die wirkliche Zeitenwende
Der verstorbene Michail Gorbatschow und westliche Politiker seiner Generation machten den heutigen Staatenlenkern vor, wie Entspannungspolitik funktionieren kann.
Keine Frage: Der Tod Michail Gorbatschows hat in vielen von uns nostalgische Gefühle ausgelöst. Warum schafften es Politiker wie Gorbatschow, Willy Brandt, Helmut Kohl und selbst Ronald Reagan, die Welt durch Entspannungspolitik in eine Epoche zu führen, in der die Angst vor einem Krieg lange Zeit zurückgedrängt werden konnte? Und warum bewirken die heute aktiven Politiker das genaue Gegenteil: eine offenbar nachhaltige Verdunkelung des politischen Horizonts? Es greift zu kurz, wenn der Westen jetzt Gorbatschow gegen Putin auszuspielen versucht. Auf beiden Seiten des eisernen Vorhangs waren damals Werte wie Verständigung, Kompromiss, waren der Abbau von Feindbildern und die ernst gemeinte Frage nach den Interessen und Ängsten der jeweils anderen Seite keine Fremdworte. So war Wandel durch Annäherung möglich. Wollen wir die dunkle Periode überwinden und ein „gemeinsames Haus Europa“ schaffen, müssen wir die richtigen Schlussfolgerungen aus dem Gedenken an Gorbatschow ziehen. Willy Wimmer, ehemaliger aktiver CDU-Politiker und Mitglied des Bundestags, analysiert die Lage auf der Basis seiner reichhaltigen Lebenserfahrung.
Für Russland hat der Monat August eine Bedeutung, wie sie der Monat November für Deutschland zu haben scheint: Man ist froh, wenn der August ohne umwälzende Ereignisse vorbeigeht. Michail Gorbatschow selbst ist Ausdruck dieser Überlegungen. Der Putsch, der ihm letztlich Amt und Land nehmen sollte, fand im August statt, und der August sollte auch der Monat seines Todes sein. Ebenfalls im August versank das Atom-U-Boot „Kursk“ und riss die gesamte Besatzung in den Tod. Dabei sind die Auswirkungen nicht auf Russland beschränkt, wie der Blick auf Michail Gorbatschow zeigt. In ihm wird die Tragik seines Landes und des gesamten Kontinentes deutlich. Eines Kontinentes, den er bis heute wie keine andere Persönlichkeit vor, mit oder nach ihm verändern sollte.
Sich mit seiner relativ kurzen Amtszeit zu beschäftigen bedeutet, seinen Blick auch auf den zu werfen, der in globalpolitischer Bedeutung geradezu hinzugedacht werden muss, wenn man den Namen von Michail Gorbatschow ausspricht: Das war der amerikanische Präsident Ronald Reagan, der kongeniale Partner in den weltumfassenden Veränderungen.
Sie hätten nicht unterschiedlicher sein können. Michail Gorbatschow verkörperte bei allem Charme für Reagan das „Reich des Bösen“. Für Gorbatschow musste Ronald Reagan der Ausdruck des „Kriegs der Sterne“ sein, bereit, die Welt totzurüsten. Es waren diese beiden Persönlichkeiten und die hinter ihnen stehenden Apparate, die nicht durch einen ausgetragenen Konflikt in die Geschichtsbücher eingehen sollten, sondern durch den Handschlag gestandener Persönlichkeiten vor dem isländischen Holzhaus.
Interessen und Verantwortung kamen gleichzeitig auf den Tisch. Im Ergebnis dieses Ausgleichs auf beiden Seiten waren kompliziert erscheinende Abrüstungsvereinbarungen ebenso möglich wie die von Michail Gorbatschow ausgehenden Überlegungen, die widernatürliche Spaltung Deutschlands und Europas zu beenden.
Sich heute mit den politischen Konsequenzen jener Zeit zu beschäftigen bedeutet, den Versuch unternehmen zu wollen, ein ganzes Jahrhundert begreifen zu müssen und noch weiter zu gehen. Die Bildung des Deutschen Reiches 1871 war eine Zeitenwende, die diesen Namen verdiente, da hiermit nicht die zwangsweise Aufgabe deutscher Politik verbunden war.
England und Frankreich waren es gewohnt, sich in dem „deutschen Hinterhof“ nach Gusto zu bedienen — und sei es durch deutsche Soldaten für ihre globalen Militäreinsätze. Mit der Reichsgründung war es damit vorbei, ohne dass man sich in Berlin über die Washingtoner Herausforderung im Klaren gewesen ist. Dieses Deutsche Reich, so George Friedman, durfte keinesfalls über eine für die künftige amerikanische Weltmacht gefährliche systemische Nähe zu Russland verfügen. Es ist nicht von der Hand zu weisen, hier Ursachen für zwei Weltkriege feststellen zu müssen.
Wenn in diesem Kontext der Name Michail Gorbatschow genannt werden soll, muss geradezu eine Präzisierung erfolgen. Wie der deutsche Waffenstillstand 1918 nur mit der Zusage der Alliierten verbunden werden sollte, für den künftigen Friedensschluss die „Vierzehn Punkte“ des amerikanischen Präsidenten Wilson zum Grundbestandteil zu machen, muss davon ausgegangen werden, dass der „Charta von Paris“ im November 1990 als Krönung des Werkes auch von Gorbatschow ein ähnliches Schicksal, diesmal für die Russen, beschieden sein sollte wie „Versailles“ für die Deutschen. Es war nicht das „gemeinsame Haus Europa“, in dem es für alle Platz geben sollte, sondern die NATO an den Grenzen Russlands, mit der Ukraine als Sprengsatz am „Unterleib“ Russlands.
Wie damit fertig werden, ohne unser Stalingrad erleben zu müssen? Es ist dem verdienstvollen Wirken von Albrecht Müller zu verdanken, die Haltung von Willy Brandt zum Bestandteil der politischen Agenda in einem Land wie Deutschland zu machen, das dabei ist, alle seine Fundamente einzureißen. Willy Brandt war es, der sich dem herrschenden Antagonismus entgegenstellte, Wandel durch Annäherung betrieb, mehr Demokratie wagen wollte und die Deutschen zu einem Volk der guten Nachbarn festschreiben konnte. Henry Kissinger hat hinlänglich beschrieben, wie diese deutsche Haltung in Washington bewertet, letztlich akzeptiert und in eigene Überlegungen eingebaut werden sollte. Und heute sagt der amerikanische Präsident Biden vor laufenden Kameras dem deutschen Bundeskanzler Scholz, wie es mit einem deutschen Milliardenprojekt weiterzugehen habe.
Politik hatte in der halbsouveränen Bonner Republik einen anderen Stellenwert als das, was heute für Berlin festgehalten werden muss.
Soll man es mangels eigener Konzepte wieder mit einer Anleihe bei Willy Brandt versuchen, in der Hoffnung, in Russland auf einen Michail Gorbatschow zu treffen? Nicht nur wegen des Krieges auf ukrainischem Boden ist daran nicht zu denken, derzeit jedenfalls nicht. Da wird etwas ausgekämpft, das herbeiorchestriert worden ist. Es ist letztlich jedem, der hinsehen will, klar, um was es geht.
Russland will eine Zukunft als eigenständiges und nicht dem Washingtoner Diktat unterworfenes Land haben. Die USA wollen ihre in zwei Weltkriegen erreichte Position auf dem euroasiatischen Kontinent erhalten. Zusammenarbeit unter den europäischen Nachbarn soll keinesfalls dazu führen, die Frage nach einer fortdauernden amerikanischen Militärpräsenz zu stellen.
Russland will nicht im Sinne der Bratislava-Konferenz vom Jahr 2000 aus Europa hinausgeworfen werden, während die USA sich genau das zum Ziel gesetzt haben. Es ist undenkbar, derzeit zum Kerngeschäft von Gorbatschow und Reagan zurückkehren zu wollen, nämlich über Abrüstungs-und Rüstungskontrollverträge Entspannungspolitik im Helsinki-Maßstab betreiben zu wollen oder zu können.
Das, was machbar ist, soll dennoch angesprochen werden. Es geht um die Beendigung des Krieges, bei dem die Kernfragen gelöst werden, weil dann nach allen Erwartungen das in Europa, was uns umbringt oder umbringen könnte, kaskadenartig verschwinden wird. Wer aus Russland eine Gruppe von untereinander verfeindeten Staaten machen will, der sollte sich über „Politik, die entspannt“ keine Gedanken machen. Das eigene Lager sollte sich an der Nase packen. Dann würde es feststellen, wie sehr Frieden und Entspannung nicht von der anderen Seite, sondern vom eigenen Verhalten abhängen.
Jeden anderen a priori zum Feind machen zu wollen, befördert den dritten Weltkrieg, aber nicht das von Michail Gorbatschow herbeigesehnte „ gemeinsame Haus Europa“.
Das wäre die Lösung und sollte keine Vision bleiben.