Die Wiederentdeckung der Tränen
In dunkler werdenden Zeiten könnte Sensibilität eine rettende Arche sein, die uns über einen Ozean der Empathielosigkeit trägt.
„Alle großen Leute sind einmal Kinder gewesen“ (Antoine Saint-Exupéry). Und sie waren damals empfindlicher und empfänglicher. Dennoch entscheiden sich Kinder, entweder weinerlich oder stark und standhaft zu sein. Die Mauern, die unsere Weinerlichkeit umschließen, existieren nicht wirklich. Das gilt auch für unseren Mut zur Stille. Wir hätten die Mauern nie errichtet, wenn unsere Mitmenschen nicht mit Grobherzigkeit und Tränenlosigkeit auf unsere kindliche Offenheit und Unvoreingenommenheit reagiert hätten. Diese so entstandenen Grenzen sind zu vergleichen mit Geschwüren, die nach außen wuchern, um ihren Wirt zu schützen. Niemals stammen sie ganz von innen, sondern haben ihren Ursprung immer in Umständen und Verhältnissen als Reliquien der Vergangenheit. Doch in unserem Inneren ist eine unzerstörbare Oase, ein Kontinuum, das sich definieren lässt als die Arche der Sensibilität. Diese Arche, diese Rettung trägt jeder in sich. Es bedarf der Auflösung der gebräuchlichen These, dass sie nur wenigen, nur 20 Prozent der Menschen zu eigen ist.
von Henry Leonid Steffens
Die Notwendigkeit der Sinne
Sensibilität ist ein Tabuthema. Sogar die Psychologen vermeiden es noch. Etwas Verweichlichtes, Mimosen- und Gazellenhaftes liegt in der Luft. Auch der „eingebildete Kranke“ findet hier oft sein Synonym. Warum werden sie, die wachsamsten Antennen, vermieden, verschüttet, verkrümmt? Weil es gefährlich ist für das System, das nie durchschaut werden will. Es will keine Tiefe, keine Durchdringung, keine Veränderung. Das System will den status quo beibehalten. Es will das alte System. Solange es ein System gibt, wird es alt sein.
Aber wenn wir uns nicht für unsere Sensibilität öffnen, werden bald unsere groben Filter verstopfen. Wir werden im Alltag verbleiben. Nie werden wir uns die Dinge selbst ansehen, offen und unvoreingenommen. Wir werden weiter kleine Pläne schmieden, die uns begrenzen, und werden uns alles bloß vorstellen, was so viel wie in-den-weg-stellen heißt. Wir werden weiter unseren rechtspolitisch verfärbten Traditionen vertrauen, anstatt zu sehen.
Grob wird unterschieden zwischen empfindsamen und weniger empfindlichen Babys. Aber niemals sind sie so empfindungslos wie die Börsenmakler und Politiker.
Wohin geht diese frühere Empfindlichkeit? Sie versinkt hinter den Mauern eines allzu bestimmten Individuums. Diese inneren Mauern spiegeln sich in anderen wider: den Landesgrenzen, dem Bundesgrenzschutz, den Stadtgrenzen, Stadtteilsgrenzen, Grundstücksgrenzen, den meist allabendlich zugezogenen Vorhängen. Letztlich in unserem Gefühl der Verschiedenheit von Ich und Welt. Das frühe Kind hat diese Grenzen nicht. Die Erfahrungswelt des Säuglings ist also realer als die des Bürokraten und eines jeden, der sich auf seine Nationalität beruft. Das sehen wir, wenn wir wenn wir nur den klaren Blick über uns hinaus heben und den Planeten aus der Ferne zu betrachten wagen.
Sensibilität als Positivum
Sens-ibel heißt sinn-fähig oder sinn-voll. Das ergibt sich aus der französischen Übersetzung von Sinn: „sens“ und dem Suffix „ibel“, der so viel bedeutet wie -fähig. Der einzige Sinn, den wir finden können, ist der, der unsere Sinne berührt. Kunst im weitesten Sinne zu schaffen ist äußerst sinnvoll und gelingt in Qualität nur dem, der sensibel ist für die Kunst. Zudem meine ich, dass auch gute Psychologie oder beflügelnder zwischenmenschlicher Austausch Kunst ist. Denn in Reinform sind sie höchst selten geworden. Wären sie die Regel, bräuchte man schließlich keinen überhebenden Begriff mehr für sie erfinden.
Und die Sensiblen, die zu alldem fähig sind, erhalten hier nicht ihren rechten Platz. Warum? Doch nur weil wir in Gesellschaften, Systemen, Beziehungen leben, die vom Groben dominiert werden. Und zudem verdeckt das Grobe das Feine, das Sensible, sodass man es unmöglich erkennen kann. Das Grobe ist nicht in der Lage, das Feine zu sehen. Hingegen ist das Feine in der Lage, das Grobe zu erkennen. Nicht umsonst wird „fein“ in der Sprache so oft mit „richtig“, „gut“, „fein gemacht“ gleichgesetzt. Die offensichtliche Frage bleibt: Warum ist die Herrschaft des Groben so stabil? Meiner Meinung nach sind nur grobe, unsensible Menschen in der Lage, Herrschaft anzustreben. Herrschaft, Dominanz widerspricht den „feinen“ Ethiken der Sensiblen, ob sie dies nun bewusst erkennen oder nicht.
Diese Gedanken führen uns noch zu keiner Lösung. Zwar tragen auch Sensible die Möglichkeit einer Dominanz in sich, werden diese aber nie anstreben, da sie dem Wesen alles Feinen widerspricht.
Es sei denn, sie wurden sehr in ihren Grundfesten erschüttert und dadurch grob. Das Feine hält sich vornehm zurück wie in den „feinen Gesellschaften“. Sensible werden immer den Mitmenschen, seien sie noch so dominant, den Vortritt erlauben. Möglicherweise, weil Sensibilität auch mit Unsicherheit, Leichtigkeit, Flüchtigkeit assoziiert wird? Ergibt sich also wieder die Frage: Warum existiert überhaupt Grobes oder sogenanntes Grobes?
Ich denke, das Grobe und Feine zu definieren, ist sehr schwierig. Man kann versuchen, anhand menschlicher Erfahrung Schlüsse über die Beschaffenheit und die Unterschiede zwischen Grob und Fein zu ziehen. Dann kann man zum Schluss kommen, dass das eine das andere bedingt, wie das Böse das Gute. Doch man kann auch untersuchen, inwieweit sie sich unterscheiden. Möglicherweise existiert das Grobe nur unter dem Deckmantel des konzentrierten Individuums, das eine Elefantenhaut, ein dickes Fell, eine harte Schale umgibt. Doch der weiche, zarte, feine Kern braucht keine harte Schale.
Sensibilität als Arche
Mir sagte einmal jemand, das Leben beinhalte natürlicherweise ein gewisses Maß an Grobem. Sicher, im Verhalten, in äußeren Umständen. Und wie sieht es innen aus? Um unser Inneres sind die Wände, die groben Schalen. Selbst wenn jemand zu einem verhärmten Menschen geworden ist, dann lässt sich diese Entwicklung einzig begründen in verhärmten äußeren Umständen seiner Vergangenheit. Innere Umstände sind nie von sich aus verhärmt oder grob. Ich denke, in der freien Welt gibt es immer die Möglichkeit zum Groben. Doch wie werden Menschen so krank, sich für diese Möglichkeit zu entscheiden? Sie müssen ihrerseits grob behandelt worden sein. Doch von wem? Es ist die gleiche Frage wie die nach der Henne und dem Ei. Ich denke, diese Entwicklungen sind komplizierter, als sich mit Worten ausdrücken lässt.
Nach meiner Auffassung gibt es das „unnatürliche“ Verhalten, das gelegentlich mit dem groben zu vergleichen ist. Dieses müsste ausgelöscht werden! Diese radikale Formulierung ist der ständigen Konfrontation mit unnatürlichem Verhalten geschuldet, ohne dadurch abzustumpfen. Und die Formulierung ist nicht mit radikalem, wiederum unnatürlichem Tatendrang der Auslöschung bestimmter Menschengruppen verknüpft. Ich denke, jeder Sensible kann hier seine sanften Qualitäten einsetzen.
Es gilt, den groben Menschen in seiner ummauerten Sensibilität zu berühren, nie zu provozieren, zu konfrontieren oder anzugreifen. Es ist ein Berühren ohne Berührung. Die sensible Wunde darf nicht direkt „angefasst“ werden. Dies geschieht am besten durch bloße, sensible Anwesenheit.
Es ist ein geduldiger Prozess, genauso wie kreative Arbeit, erzielt aber auch längere, vielleicht bleibende Wirkung. Hingegen erreicht die grobe Konfrontation manchmal intensive, schnelle Wirkung, verblasst aber sofort und schlägt oft in Aggression um.
Die empfohlene Verhaltensweise steht im Gegensatz zu unserer schnelllebigen Zeit ohne Geduld, Ruhe und Träume. In Zeiten der kriegerischen Auseinandersetzung, der unversöhnlichen Dispute, sehe ich es als beste Einstellung, auf alle Angriffs- und Verteidigungsmechanismen zu verzichten. Der „Krieger“ sieht nur sein Schwert, doch spürt er unbewusst deine Präsenz, wird irgendwann seine Waffenhände senken und seine Mauern werden einstürzen.
Ohne Angriffs- und Verteidigungsmechanismen bist du unverletzbar. Denn Verletztheit gehört schon zur Verteidigung. Nicht verletzt zu sein, heißt wirklich sensibel sein. Mir ist dieses Ziel noch nicht ganz gelungen. Das Feld reicht weiter, als man gern annehmen würde. Es geht über Schwert und Schild hinaus, doch das grenzenlose Gefühl ist wichtiger als jede genaue Definition, jede Grenze.
Sensibilität und System
Wenn alle Neugeborenen sensibel sind, und später einige psychisch oder physisch Gewaltbereite dies nicht mehr zu sein scheinen, liegt nahe, dass diesen Menschen die Empfindsamkeit und Empathie von ihren Mitmenschen genommen wurde. Vermutlich leben sie immer noch in einer solchen Umgebung. Wir wissen, auf welchen Prinzipien unser System aufgebaut ist, und wir sehen die große Gefahr, unter diesen Prinzipien zu verkümmern. Wenn aber Sensibilität zu den Grundcharakteristika alles Lebendigen gehört, müssten eher die gesellschaftlichen Bedingungen dieser Sensibilität angepasst werden, statt dass die Sensiblen ihre Wahrnehmung einbüßen und Methoden zur gesellschaftlichen Kompatibilität erfinden. Dann würde es keine Großstädte, Großmärkte und Großbaustellen mehr geben, denn diese tragen dazu bei, dass Empfindung und Intelligenz der Menschen geringer werden.
In den Schulen würden Fächer wie Empathie, Zukunftsgestaltung und Transzendenz unterrichtet, statt pragmatischem Denken in Mathematik, Physik und Geschichte. Und wir würden uns nicht alle „lieb haben“ müssen, sondern könnten endlich fundamentales Verständnis füreinander aufbringen durch die Empfindsamkeit, die uns alle vereint.
Wer versucht, das System mittels Einzelaktionen und Einzelthemen zu retten, ist eher mit einer Symptomrettung beschäftigt. Der Symptomverursacher ist hingegen der menschliche Geist beziehungsweise der sich nicht des Gefühls bedienende Verstand. Daraus resultieren als Symptome Krieg, Armut und Wettstreit. Wir können weiter Brunnen bauen und Bäume pflanzen, was ich nicht ablehne. Das ist jedoch alles umsonst, wenn wir die Trockenheit und Armut in den Köpfen der Mächtigen nicht berühren. Die Bäume werden erneut gerodet und die Brunnen werden „verdursten“. Ein sensibles System zu schaffen, ist die beste Voraussetzung für Gerechtigkeit, Freiheit und Brüderlichkeit. Dieses Fundament muss geschaffen werden, sonst werden wir mit allen Hilfestellungen und Impulsen nicht auf den Geist treffen, um eine dauerhafte Veränderung zu bewirken.
Empfindsamkeit als Geist
Statt bei eher abgehobenen, sehr vergeistigten Menschen fühlen sich manche wohler bei greifbaren, überschaubaren, machbaren Ideen. Nun, die geistigen Inhalte wären „greifbar, überschaubar, machbar“, wenn wir uns dafür sensibilisieren würden. Und ich denke, dieser Prozess würde die Welt verändern, würde die greifbaren, machbaren, überschaubaren Dinge verändern. Nach meiner Auffassung würde uns der Geist eher sensibilisieren als der machende, überschaubare Verstand.
Oft wird der Geist mit Leere gleichgesetzt, mit Weite, Raum gebend, statt Raum nehmend. Wenn wir die Quantenphysik mit einbeziehen, scheint sich immer mehr herauszustellen, dass wir nicht aus fester Materie bestehen. Dass es vielleicht keine greifbare, machbare, überschaubare Materie gibt, sondern einzig das Dazwischen, das Flirren, die Energie. Dies legt zum Beispiel der Aufbau der Atome nahe. Diesen wissenschaftlichen Aspekt gilt es zu achten – es sei denn, wir wollten uns nur unterhalten und eine schöne Zeit haben jenseits dieser Natürlichkeit, jenseits der Sensibilität, die wie ein offener Raum ist, dessen Atmosphäre wir mit Filtern, geschlossenen Fenstern, versicherten Türen zur besseren Konzentration verpesten. Allein die Transzendenz ermöglicht uns die Sensibilität, die wir bitter nötig haben.
Die offenen Stellen
Das hat zur Folge, dass ich an Bestimmtheit und Abgeschlossenheit zweifle. Leider behandeln wir die meisten Dinge abgeschlossen, denn das gibt uns Sicherheit und das Gefühl, Herr der Lage zu sein. Ich habe all dies weitestgehend aufgegeben. Denn jede Konzentration auf Bestimmtes führt zu Scheuklappen. Würden wir unsere Umgebung offen wahrnehmen, würden die Grenzen der bestimmten Konzentrationen zerfließen und wir müssten unsere lang erarbeitete Kontrolle aufgeben oder unseren „Herrn über den Dingen“ vom Thron stürzen. Doch dazu muss jeder etwas tiefer unter die Oberflächen, die Gutenachtdecken der Sicherheit schauen. Erst dann entdeckt er darunter etwas wirklich Waches, etwas noch nicht Eingeschlafenes. Dieses Wache hat die Eigenschaft, unsicher zu sein. Das macht seine Wachheit aus.
Sinnlichkeit könnte dazu beitragen, Konflikte der Welt zu lösen. Doch die Mächtigen sehen in der Sensibilität eine Wunde, ein Loch, und sie stopfen alle Löcher zu. Dabei sind nicht die Wunden das Problem, sondern unsere Bandagen um sie herum.
Henry Leonid Steffens, geboren 1995 in Hamburg, versucht in unkonventionellen, locker assoziierten Auseinandersetzungen mit philosophischen, psychologischen und wissenschaftlichen Themen in der Literatur sowie mit den ästhetischen Aspekten in Entwürfen für Architektur, Design und Musik, die „Berührung“ sichtbar zu machen. Für ihn gibt es keine Grenze zwischen den Dingen, somit auch keine herkömmliche Berührung, sondern lediglich ein möglicherweise unpersönliches Spüren und Sehen. Währenddessen brach er alle Schulen aufgrund erhöhten Individualismus, äußerster Sensibilität und autistischer Tendenzen ab und gründete nach langer Zeit der reflektierenden Isolation eine Fremdhilfegruppe für Hochsensible.