Die wahre Zeitenwende
In seinem neuen Buch beklagt Eugen Drewermann die Kumpanei der Kirchen mit den Kriegstreibern und plädiert für die Bergpredigt als Heilmittel gegen Angst und Gewalt.
Sich behaupten. Verbündeten helfen. Diktatoren abschrecken. Gegen Aggressoren Härte zeigen … Für alle diese Vorgehensweisen lassen sich Begründungen finden. Aber genügen für solche Erkenntnisse nicht ein Verteidigungsminister oder eine Talkshow-Wehrexpertin? Braucht es noch Christen, um das Altbekannte nachzubeten? Schließlich hatte Jesus, der Religionsstifter, in einer an Klarheit nicht zu überbietenden Weise vor einer Spirale der Gewalt gewarnt, die auf Angst, Misstrauen und Rache basiert. Was ist aus der Friedensbotschaft des Mannes aus Nazareth geworden, auf den sich das „christliche Abendland“ noch heute beruft? Was haben seine „Nachfolger“ daraus gemacht? Wer als Christ in Waffenlieferungen einen Ausdruck von Nächstenliebe sieht, sollte in seinen eigenen Kreisen eigentlich isoliert sein, ein krasser Außenseiter. Tatsache ist aber, dass die Kriegsbejahung auch in Kirchenkreisen Mainstream ist — ab und zu abgemildert durch wägende Skrupel. Wer weitgehend isoliert dasteht, ist vielmehr Eugen Drewermann, der unermüdliche Mahner gegen die Logik des Krieges und die unfassbare Grausamkeit der militärischen Praxis. Noch immer trifft man den heute schon 83-Jährigen auf vielen Friedensveranstaltungen, seine leidenschaftlichen, geschliffen formulierten Reden haltend, unermüdlich und fast verzweifelt gegen den Strom einer wahnwitzigen Kriegsbegeisterung anschwimmend. Der letzte Pazifist. Oder einer der letzten. Sein neues Buch „Nur durch Frieden bewahren wir uns selbst“ fasst noch einmal Drewermanns zentrale Argumente gegen eine Politik der Angst und der Gewalt zusammen. Und es zeigt einen Weg auf, wie wir da wieder herauskommen können: die Bergpredigt. Dieses neue Buch ist Drewermanns Vermächtnis an die Menschheit, die vor einem sich verdunkelnden politischen Horizont in Richtung Abgrund taumelt.
Eugen Drewermann liest viel, und immer führt ihn seine Lektüre auf die richtige Spur, weil sie aufzeigt, dass alles zur Lösung der aktuellen welthistorischen Probleme Nötige schon einmal gedacht wurde. Die tonangebenden Mächte haben nur auf die wirklich weisen und gütigen Denker nie gehört. Mahatma Gandhi sagte:
„Es gibt keinen Weg zum Frieden; der Frieden selbst ist der Weg.“
Und George Bernard Shaw:
„Seit 2000 Jahren höre ich, dass man mit der Bergpredigt nicht regieren könne. Aber so versucht es doch — wenigstens einmal!“
Tatsächlich scheint es, als habe die Christenheit die Lehren ihres Namensgebers eher gleichgültig zur Kenntnis genommen, um dann doch ohne Zögern das Gegenteil zu tun. Nicht wenige entschieden sich, zurückzuschlagen anstatt „die andere Wange hinzuhalten“, den Splitter stets im Auge des anderen zu suchen, Steine auf vermeintliche Sünder zu werfen und das Schwert zu ziehen, um diejenigen, die uns bedrohen, zur Strecke zu bringen, bevor sie Unheil anrichten können.
Schauen wir nur auf den Kasernenhof, jene konzentrierte Brutstätte der Gewalt, mit der vermeintlich das Gute verteidigt werden soll. Drewermann verurteilt die Abrichtung von Soldaten zum Töten und Sterben endlich mit der gebührenden Vehemenz.
„Kein Staat auf Erden, der nicht seine 18-jährigen auf den Kasernenhöfen mit den mörderischsten Waffen, die er nur hat erfinden können, ausstattet und sie im Umgang damit schult — das gezielte Töten von Menschen gilt als allgemeine Bürgerpflicht.“
Um einem von der Propaganda als Unmenschen markierten „Feind“ Paroli zu bieten, muss den jungen Soldaten ihre eigene Menschlichkeit mit den denkbar entwürdigenden Methoden ausgetrieben werden, müssen sie — entseelt und bis zur vollkommenen Willenlosigkeit gedrillt, zu Werkzeugen des Tötens und des Sterbens „ausgebildet“ werden.
Der Selbstverrat des Christentums
Wie konnte es so weit kommen? Und — aus Drewermanns Sicht besonders wichtig: Warum sprach die Kirche nicht schon von Beginn an ein klares Verdammungsurteil über den Krieg, die gewalttätigste Form des Nächstenhasses?
Eugen Drewermann sieht den Keim des kirchlichen Selbstverrats schon im 3. Jahrhundert. Der Urheber war „Konstantin‚ der Große‘, indem er im Jahre 312 seinen Thronkonkurrenten Maxentius in der Schlacht an der Milvischen Brücke mit einer Soldateska besiegte, auf deren Schilde er das Kreuz Christi hatte malen lassen“. In einem Traum soll Jesus dem Kaiser gesagt haben: „In diesem Zeichen sollst du siegen.“ Das bedeutet aber auch: In diesem Zeichen sollst zu niedermetzeln, töten, verstümmeln.
„Die Perversion der Person und Botschaft Jesu hätte ärger nicht ausfallen können: Das grässliche Instrument, mit dem Jesus für die Verweigerung jeglicher Gewalt hingerichtet worden war, figurierte und fungierte jetzt als ein magisches Symbol sadistischer Siege auf dem Schlachtfeld; der gütige Gott Jesu Christi nahm die blutige Maske kriegerischer Götter (…) an.“
Bald nach dem Sieg wurde das Christentum „Staatsreligion“, wo es doch unbedingt Menschenreligion hätte bleiben müssen — mit dem nötigen Abstand zu jenen Kräften, deren Autorität doch immer nur eine höchst relative sein kann — gemessen an der Autorität Gottes. Und die Kirche ließ sich einfangen, nutzt die „Chance“, von der Verfolgten- auf die Verfolgerseite überzuwechseln. Nun musste man als römischer Bürger Christ sein.
„Deutlicher ließ sich nicht sagen, dass das Bekenntnis zu Christus, dass die christliche Theologie in kirchlichen Händen zu einer bloßen Herrschaftsideologie verkommen war. Seither benutzte die Kirche den Staat, um mit juristischen und notfalls militärischen Mitteln die Einheitlichkeit ihrer Bekenntnisformeln bei ihren Mitgliedern und gegen ihre Gegner durchzusetzen, und der Staat umgekehrt versicherte sich des kirchlich vermittelten Segens Gottes bei allen Unternehmungen, die für die Stabilisierung seines politisch erzwungenen Zusammenhalts als relevant erschienen.“
So entstand der große, Jahrhunderte überwölbende Pakt zwischen Thron und Altar. Trotz all der schmerzhaften Kirchenspaltungen — jener zwischen West- und Ostkirche im Jahr 1054 und der durch Martin Luther angestoßenen Reformation ab 1517 blieb die Einigkeit doch in einem Punkt gewahrt: Dass Kriege gerechtfertigt sind, fanden und finden die Mehrheit der Kirchenvertreter aller Konfessionen.
Um 200 n. Chr., so erzählt es Drewermann, sei dies noch anders gewesen. Der Christ der vorkonstantinischen Zeit hätte sich entscheiden müssen zwischen Militärdienst und Gottesdienst.
„Ein getaufter Christ, der sein Leben auf den Gott der Güte und Vergebung gründet, kann es nur als Verrat empfinden, wenn er als Soldat in den Methoden der endlosen Menschenschlächterei in Staatsauftrag verbleibt oder dahin zurückkehrt.“
Und das Resümee:
„Tatsächlich gewann das Christentum auf diese Weise den Rang einer Weltreligion, doch dass es sich damit selbst verriet, wollte es nicht bemerken und wagt es bis heute sich kaum einzugestehen.“
Nicht nur in Bezug auf das Thema „Krieg“ lässt sich konstatieren: Die Religion fiel „als Korrektiv des Politischen aus“.
Töten, was uns töten könnte
Eugen Drewermann beschreibt in den weiteren Kapiteln seines Buches die Psychologie der Angst und der scheinbar präventiven Gewalt, die den meisten Kriegshandlungen nach seiner Auffassung zugrunde liegt. Darüber hat er bereits auf vielen Plätzen des Landes hinreißende Reden gehalten, deren Mitschnitte gewiss in dieses neue Buchprojekt eingeflossen sind. Drewermann fungiert dabei teilweise als „Advocatus diaboli“ und gibt die Logik und Gefühlslage der Kriegstreiber, wie er sie versteht, wieder.
„Denn wir müssen uns schützen, wir verlangen nach Sicherheit, und gegen eine Gefahr, die uns tödlich bedroht, ist nur anzukommen, wenn wir den Tod in eine Waffe zum Schutz unseres Lebens verwandeln; unter dem Diktat der Todesangst müssen wir töten, was uns töten könnte.“
Angst ist der Dreh- und Angelpunkt in der Deutung des 2005 aus der Kirche ausgetretenen Theologen, der auch Psychoanalytiker ist. Andere Begründungsansätze für die fortlaufende Kriegspolitik in vielen Ländern sind dagegen bei Drewermann kaum ein Thema. Etwa Machtgier, Sadismus oder schlicht die „Erfordernisse“ globaler Machtpolitik. So schreibt Eugen Drewermann über den Menschen, der der Kriegslogik folgt:
„Nur wofern er dem anderen so viel an Angst bereitet, wie er vor diesem selbst empfindet, wähnt er sich in einem solchen Gleichgewicht des Schreckens relativ in Sicherheit.“
Es ist sogar meine einzige Kritik an dem Buch „Nur durch Frieden bewahren wir uns selber“, dass Drewermann ein „Wir“ als handelndes Subjekt anzunehmen scheint, welches Staatenlenker wie Bürger gleichermaßen umfasst und eher von dumpfen Emotionen angetrieben wird denn von kalter Berechnung. Von einer Psychopathologie der Kriegsbeteiligung geht Drewermann aus, er sieht gar eine „blühende Paranoia“.
Richtig ist daran, dass Angst die meisten Bürger gewiss in die Zustimmung oder Duldung unfassbar grausamer Kriegshandlungen hineintreibt. Geschürt aber wird diese Angst von den Regierungen, bei denen man eher eine gewisse emotionale Kälte und machttaktische Berechnung voraussetzen muss. An Staatskritik lässt es der Autor insgesamt aber nicht fehlen.
Der Soldat als „steuerbarer Automat“
Ausführlich behandelt Eugen Drewermann auch den Vorgang der Ausbildung zum Soldaten, die zuvor harmlose und friedliche Menschen in einem Prozess bewusst gesteuerter charakterlicher Deformation binnen kurzem in tötungsbereite Maschinenmenschen verwandelt.
„Mit der Mechanik streng zu befolgender Befehle wird ihnen die Seele aus dem Körper geschraubt, und was übrigbleibt, ist ein von außen steuerbarer Automat.“
Damit hat Eugen Drewermann die nekrophile Tendenz der Militärdressur erkannt, eines Prinzips, das dem Lebendigen und der Bestimmung des Menschen zu autonomer Selbstentfaltung entgegengesetzt ist. In seinem Roman „Im Westen nichts Neues“ aus dem Jahr 1928 schreibt Erich Maria Remarque aus der Perspektive des ehemaligen Soldaten: „Wir sind gefühllose Tote, die durch einen Trick, einen gefährlichen Zauber noch laufen und töten können.“ Weiter räsoniert Remarque, dem Drewermann eine ausführliche Analyse widmet:
„Wie sinnlos ist das alles, was je geschrieben, getan, gedacht wurde, wenn so etwas möglich ist! Es muss alles gelogen und belanglos sein, wenn die Kultur von Jahrtausenden nicht einmal verhindern konnte, dass diese Ströme von Blut vergossen werden, dass diese Kerker der Qualen zu Hunderttausenden existieren.“
Die Zurichtung der „Heimatfront“, also zum Beispiel der öffentlichen Meinung in Deutschland, ist ebenfalls Thema von Drewermanns Betrachtung, denn „zum einen muss die gesellschaftliche Meinung moralisch nach- und aufgerüstet werden, um kriegsbereit gemacht zu werden, und zum zweiten muss das Gewissen des Einzelnen umtrainiert werden, um das Soldatsein, letztlich das Töten von Menschen, als einen Beruf zum Empfang von ausgehandeltem Sold zu betrachten, als einen Job also, ganz so normal wie der eines Metzgers“.
Im Licht der Betrachtungen Drewermanns erscheinen mir viele aktuelle Veröffentlichungen zum Thema „Krieg“ unzureichend, weil sie erstens die Kriegsrealität nicht genau und drastisch genug darstellen und weil sie zweitens eine klare Verurteilung nicht nur der Machthaber verschiedener Krieg führender Staaten, sondern auch des Prinzips „Militär“ als solchem scheuen.
Oft werden globalpolitische Betrachtungen angestellt, die im „Mainstream“ eher den NATO-Staaten, in „Alternativmedien“ eher Russland mit einigem Verständnis begegnen, ohne die furchtbare Realität des Krieges einmal wirklich schonungslos heranzuzoomen.
Das wahre Gesicht des Staates
Eugen Drewermanns Betrachtungen laufen notwendigerweise auf eine vehemente Staatskritik hinaus, welche die Mächtigen im heutigen Deutschland ja offenbar so fürchten, dass sie dafür unlängst einen Delegitimierungs-Straftatbestand erfanden. Sigmund Freud schrieb sehr hellsichtig zu diesem Thema:
„Der einzelne Volksangehörige kann in diesem Krieg mit Schrecken feststellen, was sich ihm gelegentlich schon in Friedenszeiten aufdrängen wollte, dass der Staat dem Einzelnen den Gebrauch des Unrechts untersagt hat, nicht weil er es abschaffen, sondern weil er es monopolisieren will wie Salz und Tabak.“
Und Drewermann ergänzt: „Im Krieg zeigt der Staat sein wahres Gesicht.“ Denn „würde ein Staat offen erklären, dass seine moralische Friedfertigkeit nur eine Tarnung, eine chronifizierte, ihm wesenseigene Lüge sei, verlöre er seine Berechtigung in den Augen seiner erschrockenen Bürger; also muss er, wie Freud es beschreibt, jeden intellektuellen Widerstand mit Geheimhaltungen und Fehlinformationen sowie Gewaltmaßnahmen in Form von Kontrolle und Strafe niederhalten und propagandistisch ein Bild der Lage zeichnen, das sein Verhalten zumindest als Notmaßnahme und als vaterländische (oder ‚wertebasierte‘) Pflicht erscheinen lässt“. Begeht der Einzelne einen Mord, wird dieser als Verbrechen verfolgt; „Tapferkeit aber nennt man es, wenn das Morden im Namen des Staates geschieht.“
Damit wird klar, dass Kritik an Kriegen ohne ein libertär-antiautoritäres Element, ohne Staatskritik unvollständig wäre, ja teilweise in die Irre führt. „Man muss Gott mehr gehorchen als den Menschen“, heißt es in der Apostelgeschichte. Kirchenvertreter sollten das schon mal gelesen haben.
Die Kirche „müsste, um das Beispiel Jesu nicht zu verraten, dem Einzelnen das Gewissen stärken, nein zu sagen gegen Krieg und Gewalt. Die Erlösung der Welt und der Menschheit von den Folgen der Abkehr von Gott sollte ihre Aufgabe sein, nicht aber dem Staat das Kriegführen zu erleichtern, indem sie sich als Kirche von ihm Militärgeistliche bezahlen lässt, die den Soldaten beibringen, sie erfüllten mit ihren Kriegseinsätzen inmitten einer gefallenen Welt just Gottes Willen“.
Wir können schlussfolgern, dass wir das, was unser Gewissen als richtig erkannt hat, notfalls auch ohne den Segen einer Kirche oder sogar gegen deren Rat, ausführen dürfen und müssen.
Die wahre Zeitenwende
Interessanterweise interpretiert Eugen Drewermann die Bergpredigt nicht umfassend und im Detail. Er setzt vieles als bekannt voraus. Wichtig ist aber, dass er das berühmte Kapitel aus dem Matthäus-Evangelium „als das geistige Medikament zur Heilung des menschlichen Daseins von seiner tiefsten und verhängnisvollsten Erkrankung in Angst und Gewalt“ bezeichnet. Für die Passage, die sonst eher mit „Selig sind die Sanftmütigen“ übersetzt wird, führt Drewermann als Übersetzung an:
„Richtig leben einzig die Menschen, die jeder Gewalt sich verweigern.“
Diese Version ist politisch relevanter, denn „Sanftmut“ könnte ja auch so gedeutet werden, dass jemand privat ein Softie ist; hier jedoch geht es um mehr: um ein klares „Nein“ zu jeder Beteiligung an Gewalthandlungen.
In welcher Weise kann die Bergpredigt hier den Ausweg zeigen?
„Das Reich Gottes, das Jesus verkündete und dessen Lebensform er in der Bergpredigt darstellt, bedeutet das Ende aller Reiche dieser Erde; es ist ein absoluter Neuanfang in radikaler Abkehr von Krieg und Gewalt; es ist die Verwirklichung jenes Friedens und jener Gewaltlosigkeit, nach welcher im Grunde alle Menschen sich sehnen.“
Und einen Neuanfang bräuchten wir ganz dringend. Drewermann spricht in Anlehnung an die perfide Rede Olaf Scholz‘ am 27. Februar 2022 von der „Bergpredigt als Zeitenwende“. Dieser Untertitel ist eine so flammende wie subtile Anklage gegen die Zeitenwende-Rhetorik der herrschenden Politik.
In Wahrheit propagieren Scholz und Gleichgesinnte ja nur die Fortsetzung des immer gleichen Denkens, dessen Blutspur in der Geschichte wir verfolgen können, also eigentlich das genaue Gegenteil einer „Wende“.
Gemeint ist hier lediglich, dass die einige Jahrzehnte andauernde „Pause“ im Kalten Krieg zwischen Russland und der NATO mit der Scholz-Rede für beendet erklärt wurde. Die Scholzsche Zeitenwende, so Drewermann, „soll nicht nur den ‚Ausfluss der überwiegend pazifistischen Ausrichtung unserer (…) Zivilgesellschaft‘ nachkorrigieren“, wie es die Bundeswehrakademie für Sicherheitspolitik (BAKS) verlauten ließ, „sie enthält implizit zugleich die Aufforderung, die Umkehrbotschaft des Jesus aus Nazareth in ihr Gegenteil zu verkehren und mit politischem ‚Realitätssinn‘ als unverantwortliche Illusion vergessen zu machen.“
Pazifismus ist Angstüberwindung
Wenn Angst das Grundproblem ist, wie Drewermann analysiert, dann ist damit schon der Ausweg angedeutet: „Pazifismus ist Angstüberwindung durch die Kraft des Vertrauens in Gott (durch die „Seele“ als geistiges Zentrum der Existenz, in den Worten Gandhis) und gebunden an die konsequente Ablehnung aller ‚physischen‘ Mittel der Gefahrenabwehr.“ Daran knüpft sich die Entschlossenheit zum Widerstand.
„Wir weigern uns, mit unseren Herrschern zusammenzuarbeiten, wenn sie unsere Lebensinteressen gefährden. Das ist passiver Widerstand“ (Gandhi).
Damit begibt sich der Pazifist auch jenseits des Legalitätsprinzips, er orientiert sich an Werten, die für ihn unter gewissen Umständen gewichtiger sind als das geschriebene Recht des Staates, in dem er lebt. Der Bürger, so Drewermann, dürfe nicht darauf warten, dass ihm der Staat erlaube, Uniformen und Waffen wegzuwerfen: „Man muss den Mut aufbringen, es sich selbst zu erlauben.“
Was die konkrete politische Lage im Kontext des Russland-Ukraine-Kriegs betriff, so sieht Eugen Drewermann den Balken eher im Auge der westlichen Nationen. Unsere Aufgabe wäre es, mit dem Notwendigen zunächst bei uns selbst zu beginnen und die Eskalationsspirale von Angst und Gewalt dort zu unterbrechen, wo wir stehen.
Die „Zeitenwende“ von Kanzler Scholz ist „nichts weiter als ein komplettes Einknicken gegenüber dem globalen unipolaren Hegemonialanspruch der USA. Dafür wird der Krieg geführt, und dafür sterben Hunderttausende von Menschen.“ Auch Wladimir Putins Verhalten sieht Drewermann nicht unkritisch.
„Kein Krieg ist zu rechtfertigen, auch nicht der Überfall Russlands auf die Ukraine; Krieg ist das planvoll inszenierte massenweise Töten von Menschen.“
Seine Schlussfolgerung ist jedoch eine andere als bei den meisten westlichen Putin-Kritikern. „Doch eben deshalb müsste man alles daran setzen, ihn so schnell wie möglich durch Verhandlungslösungen einzustellen.“
Ist Widerstand zwecklos?
Schließlich auch die Frage, was wir mit unserem Engagement für den Frieden überhaupt bewirken können. Haben wir als Kriegsgegner nicht verloren, lange bevor wir eine Auseinandersetzung wagen? Oder stellt sich die Frage anders: Sollten wir für das Prinzip der Gewaltlosigkeit vielleicht sogar bereit sein, unser Leben zu opfern? Hierzu schreibt Eugen Drewermann:
„Lohnt der Friede, auch wenn er in dieser Welt scheinbar ‚utopisch‘ ist, weil er keinen Ort auf Erden im Verwaltungsgebiet der Machthaber haben soll, ein derartiges Opfer? Ist er das Wert: das eigene Leben? Die Frage ist falsch gestellt. Sie lautet eigentlich: Kannst du, willst du wirklich mit dem Krieg weiterleben?“
Grund für die Verweigerung wäre somit nicht die Annahme, dass man durch sie für den Frieden als Ganzes viel erreichen könne, sondern die Erkenntnis, dass man im Fall der Unterwerfung unter die Agenda der Kriegstreiber so viel „Schaden an seiner Seele“ nähme, dass sich etwas anderes als die Verweigerung für einen Menschen von Gewissen verbietet.
Mit diesem Buch hat Eugen Drewermann die Essenz seiner Jahrzehnte überspannenden Arbeit für den Frieden und seiner geistigen Auseinandersetzung mit Krieg und Militarismus vorgelegt. Es ist, als hätte er — vor brisantem historischem Hintergrund — noch einmal all seine Kraft in diesen großen Wurf einfließen lassen, um die Menschen zu warnen. Gegenwind gab es dafür zur Genüge, gerade auch aus kirchlichen Kreisen. Sogar das sonst gemäßigte „Publik Forum“ titelte, Drewermann sei ein „Prophet auf Irrwegen“.
So mancher, der in kirchlichen Kreisen und in der christlichen Presse in Amt und Würden ist, hat längst seinen Frieden gemacht mit dem Krieg. Umso mehr sticht Drewermanns aufrechte Haltung hervor. Er gehört nicht nur zu unseren mutigsten und menschlichsten Intellektuellen — nein leider muss man sagen: Er ist einer der Wenigen aus dem Feld der Intelligenten und Belesenen, die sowohl beim Thema „Corona“‘ als auch beim Thema „Krieg“ ihren Überzeugungen trotz heftigen publizistischen Gegenwinds treu geblieben sind und sich nicht in die fast flächendeckende Propaganda-Matrix der letzten Jahre einbinden ließen.
Während Lügen oft komplizierte argumentative Wege gehen müssen, um zum Beispiel zu erklären, warum das Töten sowohl menschlich als auch christlich gerechtfertigt sein kann, ist die Wahrheit oft bestechend einfach. Aus der Perspektive eines Gottgläubigen formuliert es Eugen Drewermann so:
„Kein Staat der Erde hat das Recht, die Worte außer Kraft zu setzen, die Gott uns in das Herz geschrieben hat und die ganz einfach und kategorisch sagen: ‚Du sollst nicht töten.‘“