Die verwundete Gesellschaft
Es gibt unfassbar viel aufzuarbeiten — es ist an der Zeit, unser Herz zu öffnen und damit anzufangen.
Frodo hat keine andere Wahl, er muss Mittelerde verlassen. Der bekannte Held aus J. R. R. Tolkiens „Herr der Ringe“ fühlt sich nicht mehr dort zu Hause, wo er einst heimisch gewesen. Er hat eine lange, beschwerliche Zeit hinter sich, darunter viele Kämpfe. In einem wurde er schwer verwundet. Und obwohl er versucht, sein altes Leben wieder aufzunehmen, sich wieder dem einst so vertrauten Dorfalltag anzuschließen — es mag ihm nicht mehr gelingen. Eines Tages fragt er sich: „Wie knüpft man an, an ein früheres Leben? Wie macht man weiter, wenn man tief im Herzen zu verstehen beginnt, dass man nicht mehr zurückkann? Manche Dinge kann auch die Zeit nicht heilen, manchen Schmerz, der zu tief sitzt und einen fest umklammert.“ Wie knüpft man an, an ein früheres Leben? Millionen Menschen fragen sich das ebenso. Auch sie haben gekämpft, auch sie wurden verwundet. Was geschehen ist, geschah tatsächlich und nicht in einer von einem begabten Schriftsteller erschaffenen Sagenwelt. Die von der Weltgesundheitsorganisation (WHO) ausgerufene COVID-19-Pandemie und die dadurch ausgelösten massiven Restriktionen haben durch zig Biografien eine Schneise der Verwüstung geschlagen. Die rote Linie wurde weit überschritten. Und das, obwohl im Jahr 2020 schon bald deutlich wurde — zumindest für alle, die es wissen wollten —, dass das von Regierung und Leitmedien verbreitete Panik-Narrativ nicht der vorliegenden Datenlage entsprach.
Millionen Menschen, die sich der Dauer-Propaganda und den dazugehörigen menschenunwürdigen Maßnahmen verweigerten, wurden geächtet, verschmäht, kriminalisiert. Sie verloren ihre Jobs, wurden aus ihren Familien ausgestoßen, von Freunden gemieden. In den Schulen wurden Kinder unnötig mit Masken und Tests gequält, alte Menschen wurden ungefragt isoliert und starben einsam.
In George Orwells „Animal Farm“ heißt der Leitfaden: „Four legs good, two legs bad ― Vierbeiner sind gut, Zweibeiner sind schlecht“. Der Slogan der Mainstreampresse war ebenso schlicht gestrickt: „Impfbefürworter gut, Impfgegner schlecht“. Die Diskriminierung gegen einen Teil der Bevölkerung war offiziell erlaubt, es gab regelrechte Hetzorgien; man verstieg sich sogar darin, das sei gar keine Diskriminierung. Man wähnte sich in seinem Ausgrenzungsfuror völlig im Recht ― und jeder der sich davon anstecken ließ, sollte, wenn er vor sich als Mensch bestehen will, irgendwann dahin kommen, sich zu fragen, warum.
Wie konnte es so weit kommen, dass Menschen ihr Menschsein verloren haben, ihre Empathie, ihre Herzenswärme? Wieso kann wieder und wieder geschehen, dass Machthaber einen derartigen Einfluss auf die Bevölkerung haben?
Haben wir denn nichts gelernt? Wie umgehen mit der Gefahr, dass der Mensch in der Masse zu einem unberechenbaren Monster mutiert?
Es ist an der Zeit, aufzuarbeiten. Und zwar: wir alle zusammen. Die Sache ist nur, dazu haben die meisten, lapidar gesagt, überhaupt keine Lust. Es wird weggedrängt, nach dem Motto, jetzt ist es ja vorbei. Man spürt dabei mitunter das Unbehagen derer, die mitgemacht haben. Das zeigt, dass es vielleicht doch so etwas wie Scham gibt. Dass man vielleicht ahnt, über die Stränge geschlagen zu haben. Wer ins Gespräch mit pandemieunkritischen Freunden geht, kennt vielleicht auch das seltsame Schweigen, das sonderbare Starren ins Leere, sobald die Sprache auf die Coronazeit kommt. Es scheint fast, als wurde mehrheitlich noch gar nicht begriffen, was da wirklich geschehen ist.
Ich stimme nicht ein in ein anerkennendes „Jetzt berichten die Öffentlich-Rechtlichen endlich über die Opfer“. Denn diese Berichte würde es vermutlich gar nicht geben, zumindest nicht in dieser Brisanz, hätte man von Anfang an umfassend informiert und alles offengelegt. Ich kann nur wiederholen: Ende 2020 konnte jeder, der wollte, wissen, dass der Impfstoff nicht das leistet, was behauptet wurde. Daher gilt nicht und unter keinen Umständen: „Wir haben es nicht besser gewusst.“
Regierungstreue Medien haben sich von Anfang an disqualifiziert und sie tun es weiterhin. Denn die Diffamierung gegen Menschen, die frei über ihren Körper entscheiden wollen, geht ungehemmt weiter. Da verkündete Markus Lanz großspurig, er wolle aufarbeiten und lud ausgerechnet Meister-Propagandist Karl Lauterbach dazu ein, der dann zusammen mit dem Journalisten Heribert Prantl unwidersprochen über sogenannte Querdenker herzog.
Die sogenannte „Aufarbeitung“ der Zeit war ebenso wenig ernstzunehmen. Und Sascha Lobo kann sich immer noch nicht beruhigen und hetzt weiterhin gegen diejenigen, die sich gegen Maßnahmen und Serum ausgesprochen haben.
In zig Berichten vieler Medien hat sich sowieso festgesetzt, die betreffenden Menschen — es sind etwa 20 Prozent der Bevölkerung — weiterhin zu framen als solche, die mindestens geistig minderbemittelt sind und immer auch verdächtig, gewalttätig zu sein. We eigentlich soll man sich das vorstellen? Will man in Zukunft ohne die 20 Prozent weitermachen?
Mache ich Vorwürfe? Ich will keine machen. Mich interessiert nicht, mein Herz zu verdunkeln. Aber ich kann auch nicht einfach weitermachen, als wäre nichts passiert. Im Grunde können wir das alle nicht. Ohne Aufarbeitung werden wir uns als Gesellschaft nicht erholen. Das fällt uns schon jetzt vor die Füße. Und staut sich immer weiter und weiter. Ja, wir müssen das Klima retten, und zwar das gesellschaftliche Klima. Oder sollen die Kinder und Kindeskinder unter anderen Vorzeichen irgendwann wieder das ganze Diffamierungs- und Ausgrenzungsprogramm erfahren müssen? Mit der Umsetzung der Klima-Agenda wird ohnehin bereits der nächste gefährliche Kurs eingeschlagen. Der kanadische Premierminister Justin Trudeau machte deutlich: „Was wir aus der Covidkrise gelernt haben, werden wir auf die Klimakrise anwenden.“
Es gilt also: Nicht lockerlassen. Auch weil wir endlich lernen müssen, wie es geht. Denn: Wir sind keine guten Aufarbeiter. Trotz der unermüdlichen, wertvollen Erinnerungsarbeit in unserem Land wurde in Bezug auf den Nationalsozialismus immer noch nicht genug: getrauert! Denn darum geht es ganz wesentlich. Der Münchner Therapeut Wolfgang Schmidbauer erkannte, die wichtigste Fähigkeit des Therapeuten sei, Trauer zu ermöglichen. Ein dazu passendes Buch, übertragen auf die Gesellschaft, hat Alexander Mitscherlich im Jahr 1967 veröffentlicht: „Die Unfähigkeit zu trauern“. Der Psychoanalytiker untersucht darin die Abwehrhaltung des Einzelnen und der Masse gegenüber Schuld und Mitschuld an politischen Verbrechen. Überzeugt davon, dass Psychoanalyse angewandt auf „das geistige Klima in Deutschland“ heilsam wäre, war auch der Philosoph Theodor W. Adorno, der viel über die Aufarbeitung von Vergangenheit nachdachte.
Wann also trauern wir gemeinsam?
Auch das, was in der DDR geschehen ist und mit dem Osten Deutschlands in den Jahren nach der Wiedervereinigung, wurde noch längst nicht ausreichend aufgearbeitet. Auch hier ein ähnlicher Reflex: Jetzt seid doch froh, dass ihr an den Westen angeschlossen seid, was wollt ihr denn noch! Wieder wollte man nicht zuhören, wieder tat man so, als sei alles in bester Ordnung.
Der Vergleich mit DDR und Nationalsozialismus ist nicht gewünscht, ich weiß. Auch das soll dazu dienen, die dringend notwendige Aufarbeitung zu verhindern. Die Fallstricke lauern überall. Denn: Dass sich eine Gesellschaft um ihre Wunden kümmert und dadurch nicht nur heil, sondern wacher und unbeugsamer wird, ist nicht im Interesse der Regierenden.
Umgekehrt sollte dem, der sich für das Verdrängen entscheidet, klar sein, dass er Machtinteressen zuarbeitet. Ohnedies schadet man damit auch sich selbst. Um zu verdrängen, muss man enorm viel Kraft aufwenden; das macht müde und erschöpft.
Es geht weder darum, ein Opfer zu sein, noch darum, anzuklagen, es geht darum, dass benannt werden muss. Zig Menschen tragen immer noch, und es ist ihr gutes Recht, viel Groll in sich. Es gibt Schmerzen, die einfach nicht nachlassen wollen. Es gibt Wunden, die nicht verheilen. Es gibt Tränen, die immer noch nicht geweint wurden.
Wann also trauern wir gemeinsam?
Viel zu viel Unausgesprochenes liegt in der Luft, in Familien, unter Freunden, unter Kollegen. Lassen wir nicht zu, dass dieses Unausgesprochene Macht über uns bekommt. Vor allem: Warten wir nicht auf Entschuldigungen. Sondern gehen wir ins Gespräch, wenden wir uns einander zu, stellen wir Fragen. Wie war das für dich? Was hast du gefühlt? Was hat dich verletzt? Was brauchst du jetzt?
Wie viele Jahre es dauern wird, bis wir aufgearbeitet haben, kann wohl niemand zuverlässig sagen.
Gewiss ist: Je mehr wir unser Herz öffnen, desto besser wird es uns gelingen.
Also: Öffnen wir es.
Redaktionelle Anmerkung: Der Beitrag erschien unter dem Titel „Die verwundete Gesellschaft. Oder: Warum wir aufarbeiten müssen!“ bei Radio München.