Die Vertreibung der Weisheit
Im Zuge des grassierenden Jugendwahns werden alte Menschen ignoriert oder weggesperrt. Damit geht der Gesellschaft als ganzer deren Lebenserfahrung verloren.
In einer Gesellschaft, die das Jungsein verherrlicht, wurde das Altwerden auf das Abstellgleis des kollektiven Wunschdenkens geschoben. Jugendlichkeit als Ideal ist heutzutage der Maßstab: Dynamik, Schönheit, Sportlichkeit — stets bereit, sich von den Illusionen einer materialistischen Kultur verführen zu lassen. Doch diese Glorifizierung hat ihren Preis — einen hohen, der weit über das Ignorieren von Falten oder das Streben nach Fitness hinausgeht. Es ist der Verlust von etwas Unersetzbarem: Weisheit. Ein Beitrag zum „Alt und Jung“-Spezial.
Die sprichwörtliche Weisheit des Alters, die seit Anbeginn der Menschheit als Quelle der Vernunft, Besonnenheit und des Gleichmuts galt, hat in der modernen Welt an Bedeutung verloren. Stattdessen huldigen wir der Unvernunft, der endlosen Suche nach Selbstbefriedigung und dem Wettkampf der Ideologien. Alte Menschen, die einst für ihre Lebenserfahrung und ihren Rat geschätzt wurden, werden heute buchstäblich weggesperrt — in Altenheime, in Isolation, in eine Unsichtbarkeit, die sinnbildlich für unseren Umgang mit Weisheit steht.
Die Kultur des ewigen Jungseins
Unser Zeitgeist verherrlicht das Neue, das Schnelle, das Aufregende. Jugend wird mit Wachstum, Entwicklung und Innovation gleichgesetzt. Kein Wunder also, dass wir die alternde Bevölkerung als Belastung wahrnehmen. Die Werbewelt suggeriert, das Leben sei am besten in den jungen Jahren — die Botschaft ist klar: Altsein bedeutet Verlust, Verfall, Unproduktivität. Es erinnert uns an die Vergänglichkeit und schließlich an unseren Tod.
In einer Gesellschaft, die das Jungsein glorifiziert, gibt es keinen Platz für den Tod — und somit keinen für das Altsein. Es gibt unzählige Anti-Aging-Produkte, doch wie viele Pro-Wisdom-Produkte existieren?
Auch wenn alte Menschen in letzter Zeit von der Werbeindustrie entdeckt wurden, so zeigt man sie in der Regel als sportlich, dynamisch und irgendwie „jung geblieben“. In dieser Erzählung übersehen wir, dass Jugend eine flüchtige Bewegung in der Zeit ist — ein Abschnitt, keine Bestimmung. Wenn Altern jedoch als Scheitern betrachtet wird, ignorieren wir eine wesentliche Facette des Lebens: die Tiefe, die Einsicht und das Verständnis, die nur durch Erfahrung entstehen können. Die Weisheit, die das Alter mit sich bringt, hat keinen Platz in einer Gesellschaft, die ewig jung sein will.
Weisheit in Ketten
Die Art, wie wir mit älteren Menschen umgehen, ist ein Spiegel unserer Werte. Altenheime, so notwendig sie für manche sind, symbolisieren mehr als nur Betreuung. Sie stehen für eine Trennung: zwischen Alt und Jung, zwischen Erfahrung und Moderne, zwischen Weisheit und Konsum.
Das Wegsperren der Alten ist mehr als eine physische Isolation. Es ist ein kulturelles Wegsperren der Weisheit.
In alten Kulturen galt es als selbstverständlich, dass Älteste in wichtigen Fragen das letzte Wort hatten. Sie waren Bewahrer des Wissens, Vermittler zwischen den Generationen. Heute haben wir diesen Schatz gegen die Flüchtigkeit des Internets und die Hektik des Fortschritts eingetauscht. Ein Fortschritt, der ankündigt, das Altern zu besiegen — und letztlich den Tod zu überwinden.
Das Fehlen von Weisheit wird besonders in der Politik sichtbar. Anstatt im Dialog Lösungen zu finden, die für alle tragbar sind, erleben wir Politiker, die sich wie Kinder im Sandkasten streiten und ihre Position als einzig Gültige darstellen. Wie oft hören wir in den Nachrichten das Wort "Weisheit"?
Warum Weisheit wieder lebendig werden muss
Wenn wir als Gesellschaft weiter wachsen wollen, müssen wir erkennen, dass Weisheit kein Relikt vergangener Zeiten ist. Sie ist der Kompass, den wir in einer Welt der Überinformation dringend benötigen. Weisheit ist nicht bloß Wissen — sie ist gelebte Erfahrung, die Fähigkeit, die richtigen Fragen zu stellen, statt schnelle Antworten zu suchen.
Die Rückkehr der Weisheit in unsere Kultur erfordert, dass wir den Alten wieder zuhören — nicht aus Höflichkeit, sondern aus echtem Interesse. Es erfordert Räume, in denen Alt und Jung auf Augenhöhe interagieren. Die Älteren brauchen die Energie und Kreativität der Jugend, während die Jüngeren von der Tiefe und Reflexion der Alten profitieren können.
Eine Vision für die Zukunft
Eine Gesellschaft, die Weisheit wieder integriert, ist eine Gesellschaft, die nicht nur nach vorn schaut, sondern auch nach innen. Wir brauchen nicht nur Fortschritt, sondern auch Orientierung. Eine Balance zwischen dem Drang, Neues zu schaffen, und der Fähigkeit, aus dem Alten zu lernen.
Das Altwerden als Krankheit zu betrachten, ist gleichbedeutend mit, ein Leben ohne Weisheit zu führen. Wenn wir diesen Schatz wieder entdecken, können wir das Fundament für eine gerechtere, tiefere und menschlichere Zukunft legen.
Das Alter ist nicht das Ende — sondern die Essenz der Weisheit. Es ist die Zeit, in der das Gelernte Früchte tragen kann.
Die Weisheit des Alters zu ehren, bedeutet, den Kreislauf des Lebens zu ehren. Alt und Jung sind keine Gegensätze, sondern zwei Seiten derselben Münze — und beide werden gebraucht, um das Bild vollständig zu machen.
Ich persönlich liebe das Altwerden: das Zur-Ruhe-Kommen, die innere Stille, den kontemplativen Blick auf den Kreislauf des Lebens. Das Nicht-Angehaftet-Sein, die Würdigung des Augenblicks, nicht mehr irgendwo ankommen zu müssen. Für mich ist es die beste Zeit des Lebens. Der Körper mag nicht mehr so fit sein, doch was man im Gegenzug erhält, ist unbezahlbar.