Die verspätete Klage
Mehrere US-Bundesstaaten klagten gegen den Facebook-Mutterkonzern Meta. Dies erregte Aufsehen, obwohl inhaltlich nur Altbekanntes gegen Social Media ins Feld geführt wurde.
Die kürzlich erfolgte Jugendschutz-Klage von über 30 US-Bundesstaaten gegen den Konzern Meta ist als solche zweifellos aufsehenerregend. Aber ihre Inhalte sind im Grunde kaum wirklich neu zu nennen. Schon seit etlichen Jahren ist wissenschaftlich und durch viele Publikationen in den Industrienationen durchaus bekannt, dass Social-Media-Technologien gewissermaßen methodisch versuchen, Nutzerinnen und Nutzer, dabei namentlich die suggestibleren Minderjährigen, auf den eigenen Plattformen geschickt zu binden und zu beeinflussen. Die Klage gegen die Muttergesellschaft von Facebook kommt so gesehen überraschend spät.
Online-Dienste wie Facebook, Instagram und der Chat-Dienst WhatsApp schadeten Kindern und Jugendlichen, heißt es in der in Kalifornien eingereichten, über 200 Seiten langen Klageschrift. Und: Meta ignoriere die negativen Auswirkungen, um mehr Gewinn zu machen. Stets sei Meta bewusst gewesen, dass junge Nutzerinnen und Nutzer leichter zu beeinflussen und etwa durch Like-Funktionen und häufige neue Benachrichtigungen immer wieder an die Bildschirme zu locken seien. Die Nutzung solcher Plattformen störe das Lern- und Ess-Verhalten sowie den Schlaf. Für diese Anschuldigungen berufen sich die klagenden Staaten insbesondere auch auf Enthüllungen der Whistle-Blowerin Frances Haugen aus dem Jahr 2021. Doch im Ansatz sind diese Dinge eigentlich viel länger bekannt.
Das lässt sich allein schon für Deutschland aufzeigen – hier freilich ohne Anspruch auf Vollständigkeit. So hat der bekannte Hirnforscher Manfred Spitzer bereits vor über einem Jahrzehnt in dem Bestseller „Digitale Demenz. Wie wir uns und unsere Kinder um den Verstand bringen“ aus dem Jahr 2012 grundsätzlich betont: „Digitale Medien machen süchtig und rauben uns den Schlaf.“ Bei Kindern und Jugendlichen werde durch digitale Medien die Lernfähigkeit drastisch vermindert; die Folgen seien Lese- und Aufmerksamkeitsstörungen, Ängste und Abstumpfung, Schlafstörungen und Depressionen, zudem Übergewicht und Gewaltbereitschaft.
Mit Blick auf Facebook zeigte dann 2013 eine Studie von Forschern der Technischen Universität Darmstadt und der Humboldt-Universität Berlin, in der 600 deutsche Facebook-Mitglieder befragt wurden: Über ein Drittel fühlte sich während und nach der Nutzung des sozialen Netzwerks schlecht, einsam, müde, traurig oder frustriert.
Eine Sendung in 3sat warnte im Februar 2013 mit Blick auf Facebook laut Programmankündigung: „Für viele jugendliche Nutzer des sozialen Netzwerks wandelt sich der vermeintliche Spaß in einen Albtraum.“ 2014 veröffentlichte Philippe Wampfler das Buch „Generation ‚Social Media‘. Wie digitale Kommunikation Leben, Beziehungen und Lernen Jugendlicher verändert“; und der damalige Landesbischof der Evangelisch-Lutherischen Kirche in Bayern, Heinrich Bedford-Strohm, geißelte ausdrücklich „zu viel Facebook-Besoffenheit“. 2015 publizierten Gerald Lembke und Ingo Leipner das vielsagende Buch „Die Lüge der digitalen Bildung. Warum unsere Kinder das Lernen verlernen“. Und ich selbst schrieb in dem Buch „Digitaler Turmbau zu Babel. Der Technikwahn und seine Folgen“ damals:
„Wenn sogar noch jenseits der ohnehin gegebenen Verführungsmacht des Digitalen für Kinder und Jugendliche von Erwachsenenseite zusehends dafür gesorgt wird, dass smarte Technologien Unterrichtsprozesse prägen – und zwar auch gegen den Widerstand einzelner Schülerinnen und Schüler beziehungsweise Eltern, die sich dem Trend entgegen stellen möchten –, dann freuen sich nicht nur Industrie und Wirtschaft…“
Tatsächlich soll ja aktuell die Digitalisierung des Schulunterrichts erneut forciert werden – entgegen der mahnenden Schrift von Ralf Lankau „Kein Mensch lernt digital“ von 2017 und trotz in der neuesten PISA-Studie festgestellten, inzwischen teils katastrophalen Bildungsmängel! Ebenfalls bereits 2017 klärte die Neurobiologin Gertraud Teuchert-Noodt in dem Aufsatz „Cyberattacke auf die Nervennetze des Gehirns“ in der Zeitschrift „Umwelt – Medizin – Gesellschaft“ über die kritischen Seiten der digitalen Technik auf. 2018 veröffentlichte der namhafte Netz-Experte Jaron Lanier das Buch „Zehn Gründe, warum du deine Social Media Accounts sofort löschen musst“. Und damals – vor einem halben Jahrzehnt! – warnte der Kinder- und Jugendpsychiater Christoph Möller: „Facebook und Twitter erzeugen ein stärkeres Verlangen als Tabak und Alkohol.“
Um diese Zeit mehrten sich die kritischen Einsichten selbst in Tech-Kreisen. So vermeldete Welt kompakt im Januar 2018:
„Manager und Entwickler bekunden öffentlich, wie sehr sie es bereuen, ihre Erfindungen auf die Menschheit losgelassen zu haben – Erfindungen wohlgemerkt, die sich als hocherfolgreich erwiesen haben und durch die sie stinkreich geworden sind.“
Gemeint sind da „jene Valley-Dissidenten, die die Unternehmen, für die sie einst gearbeitet haben, mittlerweile als Teufelswerk verdammen“. Zudem geißelte der frühere Google-Manager Tristan Harris die dämonische Kraft des Handys, dessen Gebrauch abhängig, weniger aufmerksam und vermindert kommunikationsfähig, ja im Teenager-Alter depressiv mache – und überhaupt wehrlos gegenüber den absichtlich so gestalteten Geräten, die archaische Impulse und Belohnungssysteme aktivierten. Ähnlich erklärte Loren Brichter, der Entwickler der App Tweetie: „Smartphones sind nützliche Werkzeuge, aber sie machen süchtig. Ich bereue die Nachteile.“ Auch Chris Marcellino, Mitentwickler einer Apple-Push-Technologie, räumte öffentlich ein, die neuen Technologien sprächen dieselben neuronalen Pfade an, wie das bei Glücksspiel oder Drogen der Fall sei. Namentlich die Sozialen Medien gerieten vermehrt unter Druck. Justin Rosenstein, der 2007 für Facebook den erhobenen „Gefällt-mir“-Daumen kreiert hatte, bezeichnete jetzt solche Likes als eine Pseudobefriedigung, die gezielt süchtig machen sollten. Auch der einstige Facebook-Manager Chamath Palihapitiya erklärte, er fühle sich zutiefst schuldig für das, was die Sozialen Medien den Menschen angetan hätten:
„Die auf schnelle Befriedigung und Dopamin-Ausschüttung angelegten Feedback-Schleifen, die wir geschaffen haben, zerstören die Gesellschaft. Kein zivilisierter Diskurs mehr. Keine Kooperation. Desinformation. Unwahrheiten.“
Künstlich gepulste elektromagnetische Felder
Nicht unterschlagen werden soll hier zudem das Problem der künstlichen Strahlung, die meist mit der Nutzung von Social Media verbunden ist. Für die Gesundheit von Kindern und Jugendlichen kommt es in erhöhtem Maße in Betracht, weil sie auf künstlich gepulste elektromagnetische Felder empfindlicher reagieren dürften als in der Regel Erwachsene. Manche Studien belegen eine Vielzahl von Beeinträchtigungen weit unterhalb der derzeit geltenden Mobilfunk-Grenzwerte. Eine Resolution des Russischen Nationalkomitees zum Schutz vor Nicht-Ionisierender Strahlung (RNCNIRP) zählte bereits 2008 die Risiken auf:
„Dazu gehören unter anderem neurologische Störungen, cardiovaskuläre Effekte bereits bei Kindern, Störungen des Immunsystems bis hin zu steigendem Risiko für Hirntumore bei zunehmender Handynutzung, aber auch – für die Schule besonders bedeutsam – Kopfschmerzen, Tagesmüdigkeit, Reizbarkeit und Nervosität, Lern- und Verhaltensstörungen, die immer mehr Kinder betreffen. Die Erfahrung vieler Eltern und Lehrenden bestätigt die Zunahme dieser Symptome in den letzten Jahren.“
Wegen des noch nicht vollentwickelten Nerven- und Immunsystems reagiere der kindliche und jugendliche Organismus grundsätzlich empfindlicher auf die Funkstrahlung.
Zehn Jahre später erklärten Wissenschaftler in einem internationalen Appell, veröffentlicht von der Kompetenzinitiative e.V.:
„Die Wirkungen umfassen ein erhöhtes Krebsrisiko, zellulären Stress, einen Anstieg gesundheitsschädlicher freier Radikale, genetische Schäden, Änderungen von Strukturen und Funktionen im Reproduktionssystem, Defizite beim Lernen und Erinnern, neurologische Störungen und negative Auswirkungen auf das Allgemeinbefinden der Menschen.“
Im März 2020 räumte die deutsche Bundesregierung zur Frage der „Auswirkungen von hochfrequenter elektromagnetischer Strahlung auf die menschliche Gesundheit und Umwelt“ ein, die Minderung der Mobilfunk-Immissionen an Orten wie Schulen, Kindergärten, Kinderhorten, Spielplätzen oder ähnlichen Einrichtungen sei nach ihrer Kenntnis „regelmäßig“ Gegenstand von Erörterungen zwischen dem Bundesamt für Strahlenschutz und den Kommunen. Dabei versteht sich fast von selbst, dass von Seiten der Industrie und Wirtschaft eher geringes Interesse daran besteht, in dieser Hinsicht kritisch und aufklärend zu informieren. Die „wissenschaftliche“ Studienlage ist hier insofern nicht unbedingt aufschlussreich, als mit gewissen Einflüsse von Seiten der Geldgeber auf die Resultate realistischerweise oft zu rechnen ist.
Bei den aktuellen Vorwürfen gegenüber der Facebook-Muttergesellschaft Meta durch US-Bundesstaaten ist die Frage der Strahlenbelastung freilich ausgespart: So ernst sie zu nehmen ist, würde sie doch einen ganz eigenen Topf aufmachen. Zu erwarten steht, dass die Klage in Bälde vor Gericht verhandelt wird. Sollte sie erfolgreich sein, wäre das für Meta vermutlich sehr kostspielig. In Europa müssen die einschlägigen Dienste künftig der EU-Kommission detailliert berichten, welche Risiken für die Bürgerinnen und Bürger bestehen – und entsprechende Schutzmaßnahmen ergreifen. Aber warum kümmert man sich hierzulande nicht intensiver und nachhaltiger um den Schutz gerade von Kindern und Jugendlichen vor den verschiedenartigen Risiken der digitalen Medien, statt diese in den Schulen immer mehr zu etablieren?