Die Verleumdungs-Worthülse

„Verschwörungstheoretiker“ ist zum billigen Kampfbegriff geworden — die alternative Medienszene muss hier differenzieren.

Viele in alternativen Bewegungen Aktive werden mit dem Vorwurf konfrontiert, sie seien im Bunde mit Verschwörungstheoretikern. Etwa wenn sich ihre Kritik gegen Angehörige der sogenannten Elite wendet. Wenn behauptet wird, dass Banker oder andere Reiche und deren Propagandisten in den Mainstream-Medien ihre Macht für verborgene Intrigen missbrauchen. Oft wird unterstellt, diese alternativen Kräfte machten gemeinsame Sache mit „Rechten“. Somit ist es im Interesse der alternativen Medien, eine inhaltliche Klarheit herzustellen. Sie müssen dem Vorwurf, sie paktierten mit Feinden der Demokratie, den Stachel nehmen. Es gibt rechte und inhumane Verschwörungstheorien, aber nicht jede Verschwörungstheorie ist rechts und inhuman. Rationale und emanzipatorische Machtkritik sucht den Fehler meist im System und arbeitet nicht mit Unterstellungen gegenüber einzelnen politischen Akteuren. Zu dieser Differenzierung will der Autor einen Beitrag leisten.

Es geht hier also um die Bedeutung des Begriffes „Verschwörungstheorie“ und um seine Verwendung im Ringen um die öffentliche Meinung. Und darum, inwiefern Feinde der Demokratie von der „rechten Ecke“ aus Verschwörungsvorwürfe so lancieren, dass sie sich an Aktivitäten der Linken beziehungsweise der alternativen Bewegungen andocken lassen. Sie könnten auf diese Weise versuchen, als demokratisch auftretende Demokratieverächter neue Unterstützung zu erschleichen. Dies wäre für diejenigen, gegen die die alternativen Kräfte protestieren, ein willkommenes Instrument der Verunglimpfung und Delegitimierung. Denn das Profitsystem, der militärisch-industrielle Komplex, die strukturelle Gewalt der Klassengesellschaft geraten damit aus dem Blick, aus dem Diskurs, aus dem Zentrum des Protestes.

Verschwörungen gegen die Demokratie

Zunächst ist die Gefahr in Augenschein zu nehmen, die von den Rechten ausgeht, um deren Dimension zu erfassen:

Rechte sind seit je her für persönliche Angriffe mit Rückgriffen auf Verschwörungstheorien bekannt. Bereits im 19. Jahrhundert konnte die aufgeklärte Öffentlichkeit wahrnehmen, welch nachhaltige Auswirkungen Menschenrechtsverletzungen infolge von Verschwörungen der Macht für die Gesellschaft ihrer Zeit mit sich bringen können:

„Am 22. Dezember 1894 verurteilte das Kriegsgericht Paris den Berufsoffizier Alfred Dreyfus wegen Landesverrats zugunsten Deutschlands — die Sache sollte zum Skandalprozess des beginnenden 20. Jahrhunderts schlechthin heranwachsen. Selten dürfte der Bruch mit den Grundsätzen eines rechtsstaatlich korrekten Strafprozesses derart tiefgreifende Konsequenzen für eine moderne Gesellschaft nach sich gezogen haben, wie das Verfahren vor dem Obersten Kriegsgericht (...) zu Paris. Es begann am 19. Dezember 1894 und schloss nach nur drei Tagen Verhandlungsdauer mit dem Urteil gegen den Hauptmann Alfred Dreyfus (1859–1935) — Degradierung, Entfernung aus dem Dienst, lebenslange Verbannung nach Französisch-Guyana. Die Dreyfus-Affäre ist heute vor allem als ein Ausgangspunkt des ‚modernen‘ Antisemitismus geläufig. Doch war sie vor allem auch ein in einer extrem polarisierten Öffentlichkeit ausgetragener Justizskandal“ (1).

Der Antisemitismus wurde drei Dekaden später zum ideologischen Fundament der Propaganda des Faschismus, mit dem dieser dann den Terror des SS-Staates legitimierte. Ein Kernelement dieser Ideologie besagte, dass man sich mit dem gesunden Teil des Volkes gegen eine jüdisch-bolschewistische Weltverschwörung zur Wehr setze.

Ein NSdAP-Plakat aus dem Reichstagswahlkampf von 1932 veranschaulicht dieses Narrativ präzise: Ein sozialdemokratischer Nachtwächter mit Schutzengelflügeln geht Hand in Hand mit einem Banker mit einer Hakennase, die das Judentum symbolisieren soll. Der kleine Mann mit Frack und Melone trägt einen Geldsack mit der Aufschrift „1.000.000“, und die Zeichnung wird mit folgendem Satz illustriert:

„Der Marxismus ist Schutzengel des Kapitalismus — wählt NSdAP“ (2).

Unausgesprochen transportiert die NSdAP mit diesem Plakat die Botschaft, dass das Volk den Schaden von einer Verschwörung linker Kräfte mit Superreichen zu tragen hätte, wenn es nicht die Nazis gäbe.

Auch heute nutzen Rechte gängige Propaganda-Stereotypen, denen zufolge zum Beispiel die Eliten als Gefahr für das Volk dargestellt werden — hier ein prominentes Beispiel aus der AfD: „Alice Weidel: Deutschlands politische Elite übt sich in Dekadenz auf Kosten der Bürger“ (3).

Rosemarie Evers, Anhängerin des Flügels der AfD, für den Björn Höcke steht, schrieb auf Facebook:

„Mit der Angstmacherei wegen des Coronavirus will man die Bevölkerung dermaßen einschüchtern, um dann unbemerkt dem Staat die Ermächtigung zu geben, alle Rechte der Bürger (…) zu beschneiden. (...) Ich habe keine Angst vor der Krankheit, aber vor dem, was uns durch die Politik blüht“ (4).

Die Politik und der Staat werden hier zu Akteuren der Einschüchterung, um die Bevölkerung gefügig zu machen. Die unpersönlich-abstrakten Begriffe „Politik“ und „Staat“ verbinden sich im Kontext mit dem Alice Weidel-Zitat mit der Vorstellung der dekadenten „Elite“ — wer zu ihr gezählt wird, wäre dann einer der Verschwörer, die das vermeintlich einheitliche Volk unterjochen wollen.

Aufklärung über Verschwörung ist kein Kennzeichen rechter Ideologie

Allerdings ist nicht jeder, der eine Verschwörung konstatiert und darüber berichtet, ein Verschwörungstheoretiker. Konspirative Kräfte, die im Verborgenen auf illegale oder illegitime Ziele und Zwecke hin intrigieren, führen Verschwörungen durch; die Dreyfus-Affäre ist nur eines der Beispiele in einer unendlich langen Kette der Geschichte. Berichte über intrigante Machenschaften Mächtiger oder ihrer Gegner werden dann zur Theorie erhoben, wenn sie in Form von Verallgemeinerungen überhöht werden, wenn die Intrige als das generelle Prinzip des Funktionierens einer Gesellschaft dargestellt wird.

Die strukturelle Gewalt einer Gesellschaft wird auf die Machenschaften bestimmter Inhaber von Macht zurückgeführt und damit auf die personalistische Ebene reduziert. Vor diesem einengenden Blick zu warnen, heißt nicht, Verschwörungen, die es gegeben hat oder gibt, in Abrede zu stellen.

Ein recht aktuelles Beispiel ist die sogenannte „Operation Rubikon“ der Crypto-AG, einer Schweizer Firma für Spionage-Verschlüsselungsgeräte, die der Bundesnachrichtendienst in Kooperation mit der CIA betrieben hat. Im September 2018 wurde die Firma in „CyOne Security AG“ umbenannt. Sie war unter anderem konspirativ als Werkzeug der US-Regierung bei den Camp-David-Verhandlungen der USA mit den Kontrahenten im Palästina-Konflikt beteiligt, ebenso im Vorfeld des Balkan-Krieges der NATO gegen Jugoslawien, und sie hat es westlichen Geheimdiensten möglich gemacht, circa 130 Staaten verdeckt auszuspionieren (5).

Die Verwicklung des sogenannten Verfassungsschutzes in die Mordserie der NSU-Terrorgruppe wirft weitere Fragen verdeckter Operationen staatlicher Instanzen auf (6). Die Serie der Ungeheuerlichkeiten reicht bis zum Mord am Kasseler Regierungspräsidenten Walter Lübcke durch Neonazis. Die Serie der skandalösen Verwicklung der Sicherheitsbehörden umfasst Versäumnisse beim Schutz des Getöteten — trotz bekannter Verdachtsmomente — und in Kontakten des Verfassungsschutzes mit dem späteren Mörder (7).

Auch der Mord an US-Präsident John F. Kennedy wirft hinsichtlich der Verwicklung des FBI und der CIA bis heute wichtige Fragen auf (8).

Die Geschichte der Central Intelligence Agency CIA ist von verdeckten Verbrechen begleitet.

Der Putsch gegen den linken iranischen Premierminister Mohammad Mossadegh am 19. August 1953, der zwei- bis dreihundert Tote mit sich brachte, der Mord am linken kongolesischen Ministerpräsidenten Patrice Lumumba und der Mord am sozialistischen chilenischen Präsidenten Salvador Allende am 11. September (!) 1973 sind lediglich die berühmtesten Morde der CIA mit bis heute nachwirkender Beeinflussung der Weltgeschichte (9).

Analysen, die bei Berichten über Verschwörungen stehen bleiben, sind keine

Der Psychologe Ronald Laing sprach 1967 auf dem internationalen Kongress der damaligen Studentenbewegung „Dialektik der Befreiung“ in London von einer doppelten „Unwissenheit“, die das System produziere. Er meinte damit ein Unwissen über das System als Ausgangspunkt vieler Probleme, denen die Menschen im Alltag ausgesetzt sind, und zugleich auch ein Unwissen über diese Unwissenheit (10). Diese mehrfache Blindheit entsteht, wenn die Verarbeitung von Erfahrungen auf der Oberfläche der sinnlichen Wahrnehmung stecken bleibt. Wer keinen Blick für die Zusammenhänge und Entwicklungsstadien von Prozessen des Lebens hat, der hat auch keinen Blick für diese ihn selbst betreffende Wahrnehmungsbeschränkung.

Eine Verschwörungstheorie, die keine Aufklärung über das System transportiert, steht in der Gefahr, systemstabilisierend zu wirken, da der Blick auf Akteure, die die Verschwörung personalisieren, die Erkenntnis über das System versperrt, das einzelne Superreiche, einzelne Despoten, einzelne Intriganten an die Spitze der Gesellschaft spült.

So ist auch das Lied von the Who „Won't get fooled again“ zu verstehen, das von einer Revolution handelt, die insofern misslungen ist, als nach ihrem Erfolg der neue Boss „the same as the old one“, also der gleiche wie der alte ist (11). Es geht also nicht nur um die sogenannte Elite, sondern um das System.

Wenn die Corona-Kritiker sich auf Bill Gates konzentrieren, laufen sie Gefahr, der von Laing diagnostizierten doppelten Blindheit zu verfallen.

Wenn alternative Kräfte es vermeiden, eine Verschwörung eine Verschwörung zu nennen, zum Beispiel weil sie fürchten, dann auch aus einigen sich links verstehenden Spektren — etwa der Antifa-Bewegung — als VTler, also rechtsaffine Verschwörungstheoretiker abgestempelt zu werden, dann folgt ihre Zögerlichkeit als innere Schere der Selbstzensur sogar dem nach, was die CIA vor über einem halben Jahrhundert beabsichtigte, als sie den Begriff „Verschwörungstheoretiker“ in den Diskurs brachte (12).

Die CIA verhält sich — wie viele InhaberInnen von Macht — wie der Dieb, der auf einen Passanten zeigt und ruft: „Haltet den Dieb!“

Die Aufgabe der alternativen und linken Bewegungen besteht darin, sich nicht auseinanderdividieren zu lassen, sondern die Kritik und den Protest gegen undemokratische Machenschaften mit der Aufklärung über das System zu verbinden, in dem InhaberInnen von Macht die Gesellschaft und die Demokratie mit illegalen und illegitimen Mitteln untergraben.


Quellen und Anmerkungen:

(1) https://www.lto.de/recht/feuilleton/f/dreyfus-kriegsgericht-paris-landesverrat-antisemitismus-justizskandal/
(2) https://www.alamy.com/stock-photo-plakat-der-marxismus-ist-der-schutzengel-des-kapitalismus-whlt-nationalsozialisten-108904332.html
(3) https://www.afd.de/alice-weidel-deutschlands-politische-elite-uebt-sich-in-dekadenz-auf-kosten-der-buerger/
(4) https://www.belltower.news/rechtsradikalismus-und-pandemie-fuer-die-afd-heisst-corona-angriff-auf-die-demokratie-97123/ und: Björn Höcke plädierte auf einem geheimen „Flügel“-Treffen am 10. März 2020, seine Gegner in der Partei sollten „AUSgeSCHWITZt“ werden. Quelle: https://www.focus.de/politik/durch-verfassungsschutz-ueberwacht-thueringer-afd-fraktionschef-bjoern-hoecke-entsetzt-mit-auschwitz-wortspiel_id_11773909.html
(5) https://www.heise.de/newsticker/meldung/Cryptoleaks-CIA-und-BND-steckten-jahrzehntelang-hinter-Verschluesselungsfirma-4658033.html
und: https://www.rubikon.news/artikel/der-krypto-krieg
und: https://www.zdf.de/politik/frontal-21/operation-rubikon-100.html
(6) https://www.heise.de/tp/features/Verfassungsschutz-will-NSU-Bericht-fuer-120-Jahre-wegschliessen-3772330.html
(7) https://www.tagesschau.de/investigativ/ndr/luebcke-169.html
(8) https://www.tagesspiegel.de/gesellschaft/panorama/akten-zum-mord-an-john-f-kennedy-eine-schatzkiste-fuer-verschwoerungstheoretiker/20515366.html
(9) https://www.welt.de/geschichte/article119295047/In-diesen-Laendern-ging-die-CIA-ueber-Leichen.html und: https://www.gegenfrage.com/verschwoerungstheorie/ und: Gérard de Villiers: Der Schah. Der unaufhaltsame Aufstieg des Mohammed Reza Pahlewi. München 1976, S. 299
(10) Herbert Marcuse u.a., Dialektik der Befreiung, Reinbek 1969, S. 21
(11) https://genius.com/The-who-wont-get-fooled-again-lyrics
(12) https://archive.org/details/CIADOC1035960/page/n3/mode/2up