Die verhinderte Apokalypse
Der nukleare Fallout eines zum Atomkrieg eskalierenden Kalten Krieges hätte wesentlich mehr Länder ausgelöscht als angenommen.
Robert Oppenheimer, der „Vater der Atombombe“, sagte später angeblich einmal: „Ich bin zum Tod geworden — zum Zerstörer von Welten.“ Seine Erfüllungsgehilfen wären die USA und die Sowjetunion gewesen; wäre es ab den 1960er Jahren zu einem Atomkrieg zwischen den beiden Supermächten gekommen, wären wohl über eine Milliarde Menschen den Folgen zum Opfer gefallen – viel mehr, als ursprünglich gedacht und auch geplant. Durch den radioaktiven Fallout hätte die Bezeichnung „Weltkrieg“ eine ganz neue Dimension erhalten: Selbst unbeteiligte Länder wären verheert oder sogar vollständig ausgelöscht worden.
von Shane Quinn
1961 war der Vereinigte Generalstab der USA, eine den Präsidenten beratende Gruppe militärischer Führungspersönlichkeiten, zu dem Schluss gekommen, dass die vorgeschlagenen Atomangriffe gegen China, die UdSSR und die Alliierten des Warschauer Paktes zu mehr als einer halben Milliarde Todesfälle — etwa 600 Millionen Todesopfern — führen würden.
Ob nun bewusst oder unbewusst — die von dieser Gruppe vorgenommene Schätzung spiegelte die Wirklichkeit nicht exakt wider. Die tatsächliche Todesrate hätte sich auf etwa eine Milliarde belaufen — wahrscheinlich sogar 1,2 Milliarden, also das Doppelte der ursprünglichen Schätzung.
1962 besaß die UdSSR knapp 2.500 Atomwaffen und hatte auch schon längst die weit stärkeren Wasserstoffbomben entwickelt. Was jedoch fast niemand außer der sowjetischen Führungsriege wusste: Moskau war im Besitz von nur vier interkontinentalen ballistischen Raketen, die den amerikanischen Kontinent mit nuklearen Sprengköpfen zu erreichen in der Lage waren. Im Arsenal des US-Militärs befanden sich damals 170 dieser Langstreckenraketen.
Die US-Geheimdienste hatten jedoch die Anzahl der sowjetischen atomaren Mittelstreckenraketen und Bomber, die sich in leichter Angriffsentfernung zu jedem europäischen NATO-Mitgliedsstaat befanden, grob unterschätzt. Der Kreml war damals im Besitz vieler hundert ballistischer Raketen längerer und mittlerer Reichweite sowie von Düsenflugzeugen — dafür gerüstet, einen US-Angriff auf russischem Boden zu erwidern. Selbst unter Aufbietung aller Möglichkeiten hätte ein atomarer Angriff der USA nur einen Bruchteil der nuklearen Fähigkeit der Sowjetunion, einen solchen Anschlag zu erwidern, zunichte gemacht.
Nach einem Erstschlag der USA wäre bei einem Gegenschlag ein wesentlicher Teil der noch vorhandenen sowjetischen Atomwaffen vor allem — oder ausschließlich — auf folgende NATO-Länder abgefeuert worden: Westdeutschland, Frankreich, Großbritannien, Italien, die Niederlande, Belgien, Griechenland und die Türkei. Jedes einzelne Land wäre damit ausgelöscht worden — entweder durch Präzisionstreffer der sowjetischen Sprengköpfe oder durch den vom Wind verbreiteten radioaktiven Fallout.
In den frühen 60er Jahren des 20. Jahrhunderts waren mehr als 4.000 Atomwaffen in den oben genannten Ländern stationiert — worüber Moskau durch permanente Geheimdienstinformationen unterrichtet war.
Nukleare Teilhabe
Es ist von Bedeutung, dass Großbritannien — das im Oktober 1952 erstmals eine Atomwaffe testete — ab September 1954 der Stationierung noch schlagkräftigerer US-Atombomben auf eigenem Gebiet zustimmte. Diese Strategie der „nuklearen Teilhabe“ beschränkte sich jedoch nicht auf das Vereinigte Königreich.
Folgende NATO-Mitgliedsstaaten taten es daraufhin Großbritannien gleich und akzeptierten US-Atomwaffen auf ihrem Grund und Boden, wodurch sie de facto zu Atommächten wurden: Westdeutschland im März 1955, Italien im April 1957, Frankreich im August 1958, die Türkei im Februar 1959, die Niederlande im April 1960, Griechenland im Oktober 1960 und schließlich Belgien im November 1963.
Im Falle eines nuklearen Konfliktes zwischen den Supermächten unseres Planeten wäre die Liste der ausgelöschten Länder nicht auf militarisierte Nationen beschränkt geblieben. Großbritannien, eine wesentliche NATO- und Atommacht, stellte ein besonders wichtiges Ziel in den sowjetischen und später russischen Atomkriegsplanungen dar. Vergeltungsschläge des Kreml gegen das Vereinigte Königreich hätten sehr wahrscheinlich zu einem ausgeprägten radioaktiven Niederschlag geführt, der sich westwärts bis über das neutrale Irland ausgebreitet hätte — sind es doch nur gute 600 Kilometer von London nach Dublin.
Bei Finnland ging man davon aus, dass es eines der ersten Länder gewesen wäre, das nach einem US-Atomschlag gegen Leningrad (heute Sankt Petersburg; Anmerkung der Übersetzerin) und dessen U-Boot-Häfen vernichtet worden wären.
Man rechnete damit, dass diese radioaktive Vergiftung sich auf den Nachbarn Schweden ausbreiten und somit dieses unbeteiligte, neutrale Land auslöschen würde. Auch das NATO-Mitglied Norwegen westlich von Schweden wäre wegen des Fallouts von erheblicher Zerstörung betroffen gewesen.
Die Schweiz, eine verschwiegene Nation an der Grenze Frankreichs und Deutschlands, befand sich in der „Schusslinie“ und wäre durch den nahen Fallout verwüstet worden — wie auch das neutrale Österreich mit seinen Grenzen zu Deutschland und die Warschauer-Pakt-Staaten Tschechoslowakei und Ungarn.
Auslöschung des Warschauer Pakts
Von 1960 an formulierten Pläne des US-Militärs die Auslöschung aller Alliierten der Sowjetunion im Warschauer Pakt — also neben der Tschechoslowakei und Ungarn auch Ostdeutschland, Polen, Rumänien, Bulgarien und Albanien. Die Bevölkerung der am Warschauer Pakt beteiligten Länder betrug im Jahr 1960 — ausgenommen die Sowjetunion — 93 Millionen Menschen.
Während der Erarbeitung dieser Pläne sagte General Thomas Power, der 55-jährige Oberbefehlshaber der Strategischen Luftstreitmacht, im Dezember 1960: „Ich hoffe, dass keiner von euch Verwandte in Albanien hat — da befindet sich nämlich eine Radaranlage, die mitten in unserer Einflugschneise liegt, und wir werden sie zerstören.“
Albanien sollte früh ausgelöscht werden, wonach andere Länder bald folgen sollten. Die atomare Zerstörung des Warschauer Paktes hätte auch eine Verstrahlung zur Folge gehabt, die sich südwärts über die NATO-Länder Griechenland und Türkei ausgebreitet hätte. Nachdem diese beiden Länder an Rivalen des Warschauer Paktes angrenzten, wären sie jedoch mit hoher Wahrscheinlichkeit sowieso zerstört worden — hätte Moskau doch diese Erstangriffe mit eigenen Angriffen gegen NATO-Mitglieder und De-Facto-Atommächte beantwortet, die US-Sprengköpfe gegen Russland gerichtet hatten.
Zudem wäre auch Titos Jugoslawien mit seinen Grenzen zu diversen Staaten des Warschauer Paktes ausradiert worden — wenn nämlich am Boden zerberstende US-Atomwaffen zu einem in unmittelbarer Nähe entstehenden Fallout geführt hätten.
Wären die Nuklear-Programme so ausgeführt worden, wie es die Befehlshaber vorgesehen hatten, wäre nahezu der gesamte europäische Kontinent — einschließlich der Gesamtheit der NATO-Alliierten Washingtons in West- und Südeuropa — entweder durch direkte Angriffe oder durch deren verheerende Folgen ausgelöscht worden.
1961 war bereits jeder städtische Bereich in der Sowjetunion mit mehr als 25.000 Einwohnern für einen Angriff mit einem Atomsprengkopf vorgesehen.
Um diese Pläne im rechten Verhältnis zu betrachten, sollte man wissen, dass die Sowjetunion als Landmasse größer war als die USA und Kanada zusammen. Russland selbst ist das größte Land der Erde — zur Sowjetunion gehörten jedoch noch weitere 14 Nationen, die sich Tausende von Meilen durch Osteuropa und Zentralasien ausbreiteten, von Estland und der Ukraine bis Kasachstan und Turkmenistan.
Mit seinen neuen jetgetriebenen Langstreckenbombern war es dem Pentagon möglich, jedes Stadtzentrum in der Sowjetunion zu treffen. 1961 belief sich das atomare Material der USA bereits auf 22.200 Bomben — ein deutlicher Anstieg seit 1960 mit 18.600 Waffen. 1961 verfügte der Kreml über gut ein Zehntel des Washingtoner Arsenals — 2.470 Atombomben.
Eine Volkszählung im Jahr 1959 ergab 210 Millionen Sowjetbürger. Großangelegte Atomangriffe hätten den Großteil der sowjetischen Bürger getötet — auch hier entweder durch die direkten Folgen von Angriffen auf Städte, die dem Erdboden gleichgemacht worden wären, oder durch den sich ausbreitenden Fallout.
Wie der ausscheidende Präsident Dwight D. Eisenhower darstellte, bestand der Plan für Konflikte mit dem sowjetischen Russland — hauptsächlich aus Budget-Gründen — darin, einer direkten Eskalation atomare Erstschläge folgen zu lassen. Dabei wären konventionelle und „eingeschränkte Kriegsführung“ umgangen worden.
Eisenhower waren die Schätzungen des Pentagons bezüglich Hunderter Millionen Todesopfer bekannt; obgleich er verständlicherweise entsetzt war, akzeptierte er — wie auch sein frischgebackener Nachfolger John F. Kennedy — die Vorschläge.
Auslöschung Asiens
China, das viertgrößte Land der Erde, wäre zeitgleich mit der Sowjetunion angegriffen worden. Nach 1950 war dies fester Bestandteil der US-Pläne für einen nuklearen Angriff und Kriegsplaner durften dies nicht ändern. Als er gefragt wurde, ob man die Chinesen nicht verschonen könne, verwarf General Power selbst diesen Vorschlag, indem er sagte: „Ich hoffe, darauf kommt niemand — das würde den Plan tatsächlich zunichtemachen.“
Im Jahr 1961 hatte das US-Militär über 1.000 Düsenjäger in Reichweite der großen Landmassen der Sowjetunion und Chinas positioniert; zusätzlich hätte man bei Bedarf auf Hunderte Jets auf Abruf zurückgreifen können. Die Flugzeuge waren auf Flugplätzen wie in Kunsan, Nord-Korea, und Kadena in Japan stationiert; zudem befanden sich noch viele mehr auf Flugzeugträgern rund um den sino-sowjetischen Block und auf US-Stützpunkten wie in Westdeutschland.
Viele der US-amerikanischen Flugzeuge des Typs B-47, B-52 und B-58 waren mit Wasserstoffbomben bestückt — ihre Sprengkraft reichte von fünf bis zu 25 Megatonnen. 25 Megatonnen entsprechen 25.000 Kilotonnen an Explosionskraft. Zum Vergleich: Die Nagasaki-Bombe enthielt 21 Kilotonnen — die zerstörerischsten Wasserstoffbomben waren also weit mehr als 1000-mal so stark wie die Bombe, die Nagasaki dem Erdboden gleichgemacht hatte.
Im Jahr 1962 war Washington bereits im Besitz von 500 dieser 25-Megatonnen-Mammuts. Eine einzige davon enthielt mehr Feuerkraft als alle Bomben und Granaten zusammen, die bis dahin in sämtlichen Kriegen der Menschheitsgeschichte abgeworfen worden waren.
Die 660 Millionen Einwohner Chinas im Jahr 1961 stellten die Bevölkerung der Sowjetunion in den Schatten. Ende des Jahres 1960 errechnete eine Einsatzbesprechung des US-Militärs, dass die anvisierten nuklearen Angriffe und der darauf folgende Fallout in China etwa 300 Millionen Menschen töten würden.
Auch Angriffe auf alle chinesischen Städte waren in den Kriegsplänen des Pentagons vorgesehen. Da China nur etwa halb so groß war wie die Sowjetunion, hätte es schneller en masse angegriffen werden können.
Der Fallout hätte auch keine großen Entfernungen zurücklegen müssen — so hätte die Zahl der Todesopfer in China wahrscheinlich eher bei 600 Millionen gelegen. China sah sich bereits bedroht, weil schon von Januar 1958 an US-Atomraketen auf der Insel Taiwan gehortet wurden — keine 200 Meilen von der Ostküste Chinas entfernt. Diese Matador-Marschflugkörper befanden sich in Reichweite großer Ballungsräume wie Shanghai und Hongkong.
Hunderte chinesischer und sowjetischer Städte in Schutt und Asche zu legen hätte gravierende Folgen für viele andere asiatische Staaten gehabt. Hier wäre vor allem Indien zu erwähnen, das im Norden an China grenzt und in den frühen 1960er Jahren eine Bevölkerung von über 450 Millionen hatte. Atomwaffenangriffe in ganz China hätten einen radioaktiven Fallout verursacht, der sich südwärts über Indien ausgebreitet und weitere Millionen Todesopfer gefordert hätte.
Afghanistan mit seinen Grenzen zu China und der Sowjetunion wäre komplett vom Fallout verhüllt und damit verheert worden, während der Nachbar Pakistan, der an China und Indien angrenzt, seinen gerechten Anteil an Radioaktivität abbekommen hätte. Weitere Länder an den südlichen Grenzen Chinas — wie Nepal, Bhutan, Burma (Myanmar), Laos und Vietnam, fünf Länder mit zusammen 65 Millionen Einwohnern im Jahr 1960 — wären wahrscheinlich großflächig radioaktiv verstrahlt worden.
Der große Militärapparat der Sowjetunion hätte drastisch auf atomare Angriffe auf sowjetischem Boden durch die USA, ausgehend von Luftwaffenstützpunkten der westlichen Supermacht in Japan, Südkorea, Guam und so weiter, reagiert. Im Jahr 1961 bevorratete Okinawa fast 800 US-Atombomben, während sich in Südkorea etwa 600 solcher Waffen befanden. Auf Guam, einer winzigen Insel im westlichen Pazifik, lagerten etwa 300 Atomsprengköpfe der USA.
Mit Sicht auf Europa verfügte die Sowjetunion über eine wachsende Anzahl von ballistischen Flugkörpern und über Bomben, die auf US-Militärstützpunkte im pazifischen Raum gerichtet waren — eine weitere Tatsache, die den US-Geheimdiensten verborgen war.
Erstschläge der USA gegen die südliche und östliche Sowjetunion hätten sicher nicht ausgereicht, um einen massiven russischen atomaren Rückschlag gegen US-Verbündete wie Südkorea und Japan zu verhindern. Von diesen beiden Ländern wäre nach einem Atomkrieg nichts als Staub geblieben und Nordkorea wäre in der Folge durch den nahen Fallout aus der zerstörten Hauptstadt Südkoreas, Seoul, vernichtet worden.
Shane Quinn ist Journalist und schreibt vor allem über außenpolitische Themen. Dabei wurde er von Autoren wie Noam Chomsky inspiriert. Er schreibt regelmäßig für Global Research.
Redaktionelle Anmerkung: Dieser Text erschien zuerst unter dem Titel „Pentagon Nuclear War Plans: Fallout Would Have Wiped Out Many More Countries than Previously Estimated“. Er wurde von Gabriele Herb aus dem ehrenamtlichen Rubikon-Übersetzungsteam übersetzt und vom ehrenamtlichen Rubikon-Korrektoratsteam lektoriert.