Die Vergessenskultur

Nachkriegsdeutschland hat den Völkermord an den Juden nur höchst unzureichend aufgearbeitet. Nun soll dies durch einseitige Solidarisierung mit Israel kompensiert werden. Exklusivauszug aus „Nakba 2.0“.

Sind wir Deutschen wirklich die Aufarbeitungs-Musterknaben, als die wir uns gern inszenieren? Nazis waren nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs nicht plötzlich verschwunden oder durch Zauberhand in lupenreine Demokraten verwandelt worden. Sie lebten gut integriert in der Nachkriegsgesellschaft und waren sogar Teil der Adenauer-Regierung. Man versuchte sich zwar die Vergebung von Juden durch finanzielle Unterstützung Israels zu kaufen. Jedoch fällt dabei meist unter den Tisch, dass erst der durch die Nazis erzeugte Fluchtdruck viele Menschen zur Auswanderung ins Heilige Land motiviert hat. Nun will die deutsche Politik durch „Solidarität mit Israel“ späte Wiedergutmachung leisten. Was natürlich nicht funktionieren kann, denn wir verstricken uns so in neue Verbrechen an den Palästinsern und erweisen uns auch als noch als falsche Freunde. Denn der sichere Fluchtraum, den Israel für viele verfolgte Juden einmal darstellen sollte, gibt es wegen des brandgefährlichen Nahostkonflikts nicht mehr.

vom Autorenkollektiv KLARtext-Blog

Am 10. September 1952 schlossen Deutschland und Israel ein Wiedergutmachungsabkommen:

„In Erwägung, dass während der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft unsagbare Verbrechen gegen das jüdische Volk verübt worden sind und dass die Regierung der Bundesrepublik ihren Willen bekundet hat, in den Grenzen der deutschen Leistungsfähigkeit die materiellen Schadensfolgen dieser Taten wiedergutzumachen, und dass der Staat Israel die schwere Last auf sich genommen hat, so viele entwurzelte und mittellose jüdische Flüchtlinge aus Deutschland und den ehemals unter deutscher Herrschaft stehenden Gebieten in Israel anzusiedeln, und deshalb einen Anspruch gegen die Bundesrepublik Deutschland auf globale Erstattung der entstandenen Eingliederungskosten geltend gemacht hat, zahlt die Bundesrepublik Deutschland an den Staat Israel einen Betrag von 3.000 Millionen DM.“

Ferner 450 Millionen DM, „die der Erweiterung der Ansiedlungs- und Wiedereingliederungsmöglichkeiten für jüdische Flüchtlinge in Israel dienen“ (2).

Berechnungsgrundlage für Entschädigungen an den jüdischen Staat Israel sind nicht die 6 Millionen ermordeten Juden. Es sind auch nicht alle Überlebenden, sondern nur die Überlebenden, die sich in Israel angesiedelt haben. Dabei wurde nie versucht, die Einnahmen, die Deutschland durch die Tötung und Emigration der deutschen Juden hatte, mit der Wiedergutmachung gegenzurechnen. Denn das Vermögen aller deutschen Juden, die ihren gewöhnlichen Aufenthalt ins Ausland verlegten, wurde nach der 11. Verordnung zum Reichsbürgergesetz vom 25. November 1941 zugunsten des Deutschen Reiches enteignet. Darunter fiel auch das Vermögen der in den Gaskammern des Auslands erstickten Juden.

Finanzberater Adenauers bei der Wiedergutmachung war mit dem Antisemiten Dr. Friedrich Karl Vialon jemand, der im Dritten Reich jüdisches Hab und Gut eingetrieben hatte. Auch der Antisemit Dr. Globke war ein Wegbereiter der Wiedergutmachung für die Besiedlung Israels. Er war Staatssekretär unter Adenauer und sein Personalchef. Dr. Globke war Kommentator der Nürnberger Rassengesetze von 1935, der in seinen Kommentaren formulierte: „Artfremden Blutes sind in Europa regelmäßig nur Juden und Zigeuner“ (3).

Die deutsche Amnestie für die Mörder von Millionen Juden tritt gegenüber der Wiedergutmachung an Israel in den 1950er-Jahren und dem nahezu bedingungslosen Einsatz für die Existenz und die Sicherheit des jüdischen Staates in Israel heute vollständig in den Hintergrund. Der Philosemitismus, der den einzigartig brutalen, mörderischen Antisemitismus der Vergangenheit als Staatsräson abgelöst hat, wirkt als Heilmittel, sich von der faschistischen Vergangenheit reinzuwaschen. Die Vergangenheit fällt einer „Erinnerungskultur“ zum Opfer, die die Amnestie für Hunderttausende Mörder in die Finsternis des Vergessens abschiebt.

Andererseits ist daran auch Israel beteiligt. Israel forderte von Deutschland die „globale Erstattung der entstandenen Eingliederungskosten“ für einwandernde Siedler, sonst nichts.

„Ben Gurion stellte dafür (für die Wiedergutmachung ab 1952) gegen erheblichen jüdischen Widerstand einen Persilschein von nationaler Größe aus: Das neue Deutschland sei ein ganz anderes als das alte. In der Tat mordete es nicht mehr. Doch legte es, wo es konnte, über die Mörder die schützende Hand“ (4).

Es ist kaum zu glauben, dass das neue Deutschland bei der Verfolgung der Täter des Holocaust ganz anders als das alte faschistische Deutschland gewesen ist.

Die Rechtsgrundlage der Amnestie waren doch Gesetze des Hitlerfaschismus von 1941, nach denen Massenmord überwiegend nur Verurteilungen wegen Beihilfe erzeugte und hunderttausendfache faktische Freisprüche. Artikel 103 Absatz 2 des Grundgesetzes von 1949 erlaubte es nicht, ein neues demokratisches Gesetz zu beschließen, das rückwirkend bis dahin unbekannten Massenmord als Mord bestrafte.

Adenauer fing den Ball auf, den Israel ihm zugespielt hatte: Schon einen Monat nach dem Abkommen mit Israel meinte Adenauer, dass mit der „Naziriecherei“ jetzt doch wohl Schluss gemacht werden müsse. „Wenn tatsächlich grauenhafte Verbrechen an den Juden begangen worden waren“, so das (ehemalige) NSDAP-Mitglied Kurt-Georg Kiesinger einige Jahre später, „dann unter Missbrauch des Namens unseres Volkes. (...) Nicht Anerkennung von Schuld, sondern die Entlastung von ihr bildet den historischen Kern der Rede von der Verbundenheit mit Israel als deutscher Staatsräson“ (5).

Nicht Deutschland zahlte für seine Verbrechen, sondern die arabischen Bewohner Palästinas. Zwei Drittel von ihnen, das heißt 750.000 Palästinenser, wurden 1948 von jüdischen Verbänden mittels Terror aus ihrer Heimat vertrieben. Ihr Vermögen und ihr Land wurden entschädigungslos zugunsten der jüdischen Einwanderer enteignet, unter denen auch viele Holocaust-Überlebende waren. Ihnen und ihren Nachkommen wird die Rückkehr in die Heimat verweigert. Die von Deutschland finanzierten Eingliederungsmaßnahmen für jüdische Einwanderer und Siedler bauten auf der zionistischen Grundlage auf, dass Juden einen Anspruch auf Palästina hätten, die seit Jahrhunderten dort lebenden Bewohner jedoch nicht. Ihre Vertreibung aus Israel ist bis heute ein bedeutendes Ziel der zionistischen Regierung.

Andererseits ist Judentum nicht identisch mit Zionismus. Nicht wenige jüdische Israelis kritisieren die brutale Unterdrückung der Palästinenser und treten für einen demokratischen säkularen Staat für Juden und Palästinenser ein.

Es ist ein Trauerspiel, dass Deutschland die Solidarität mit Israel nutzt, um vom straflosen antisemitischen Massenmord unter seiner Regie abzulenken und dabei in Kauf zu nehmen, dass dem Holocaust entkommene Juden und ihre Nachfahren sich eine „sichere Heimstätte“ im Nahen Osten durch die Verwandlung des palästinensischen Volkes in ein Volk von Flüchtlingen verschaffen wollen.

Wohlgemerkt: Hitlerfaschismus und Holocaust waren eine treibende Kraft für die Auswanderung von Juden nach Israel. Von daher gibt es eine Verantwortung Deutschlands für die Eingewanderten. Dass Deutschland die Einwanderung von Juden finanziell unterstützt hat, entsprach dieser Verantwortung. Auf keinen Fall richtig war und ist aber, dass die Hilfe mit einem beiderseitigen Persilschein für Nazimörder verbunden war und dazu beitrug, Palästinenser aus ihren angestammten Gebieten zu verjagen, um den jüdischen Charakter und die Entarabisierung Israels zu sichern. Die somit erfolgte Konnotation, dass Palästinenser für das deutsche Verbrechen des Holocaust bezahlen sollen, für das Deutschland mit Duldung durch Israel keine Verantwortung übernahm, ist untragbar. Sie wird niemals eine tragfähige Basis für Frieden im Nahen Osten sein.

Der israelische Präsident Isaac Herzog brachte den terroristischen Überfall vom 7. Oktober mit dem Holocaust in Verbindung: Seit dem Holocaust seien nicht so viele Juden an einem Tag getötet worden (6). Herzog zieht damit einen Vergleich vom Hamas-Massaker zu einem Holocaust, mit dem die Hamas wie damals die Nazis angeblich die jüdische Bevölkerung Israels ausrotten wolle. Ähnliche Vergleiche wurden bisher von vielen Experten als Holocaust-Relativierung eingeordnet. Die Hamas soll jetzt als angebliche Erbin des Hitlerfaschismus ausgelöscht werden. Ausgerechnet Netanjahu, der israelische Faschisten in seine Regierung aufgenommen hat, nannte gegenüber Kanzler Scholz die Hamas die „neuen Nazis“.

Herzog macht die palästinensische Bevölkerung Gazas kollektiv für einen „Ein-Tages-Holocaust“ verantwortlich und rechtfertigt die tägliche Tötung Hunderter Zivilisten in Gaza. Nach diesem medienwirksamen Framing, eben das Massaker mit dem Begriff „Holocaust“ zu umrahmen, bezahlten bis jetzt weit über 18.000 Zivilisten, darunter viele tausend Kinder mit ihrem Leben für den Holocaust, den Deutschland verursacht hat.


Redaktionelle Anmerkung:

Tobias Weißert ist nicht der Autor, sondern hat uns diesen Text seiner Freunde übermittelt. Die Autoren sind die Betreiber des Klartext-Blogs und dort einzusehen.

Dies ist ein Auszug aus „Nakba 2.0? Israel: ethnische Säuberung als politisches Programm und die deutsche Staatsräson“. Er erschien zuerst unter dem Titel: „Nakba 2.0? Israel: ethnische Säuberung als politisches Programm und die deutsche Staatsräson“ auf dem Blog KLARtext.