Die vergessene Not
Im Schatten des Ukrainekrieges nehmen die humanitären Katastrophen in den ärmsten Regionen Afrikas unentwegt und vom Westen ungesehen ihren Lauf.
Das massenmediale Spotlight richtet sich seit Monaten auf die Ukraine und lässt den Rest der Welt geradezu im Dunkeln verschwinden. Während im Westen die Krisen kommen und gehen, bleiben die Hungersnöte und die Verelendung in den bitterarmen Gebieten Afrikas bestehen. Dabei könnte diesen Katastrophen mit einem Bruchteil der aktuellen Rüstungsausgaben Einhalt geboten werden.
Vor 20 Jahren, am 22. Februar 2002, wurde die Hebamme und Lehrerin für Krankenpflege aus Zürich Oerlikon, Vre Karrer (1933 bis 2002) in der somalischen Stadt Merka ermordet. Magda Nur-Frei:
„22. Februar 2002 Verena, Vre, Karrer wird in ihrer Wohnung in Merka brutal ermordet! Wir sind fassungslos. Merka verliert damit eine mutige, kompromisslose Kämpferin, die sich bedingungslos in den Dienst der Armen und Geächteten gestellt hatte. Tausende von Menschen gehen in Merka spontan auf die Straße, um ihren Tod zu beweinen und mit ihrer Demonstration kundzutun, dass sie gegen Gewalt und Terror sind.“
Magda Nur-Frei, die Kollegin von Vre, arbeitete damals auch in Merka, im Ambulatorium Swisso Kalmo. Sie bringt die sterblichen Überreste von Verena Karrer in die Schweiz (1).
Das Werk von Verena Karrer in Merka, das Ambulatorium und die Schulen wurden nach ihrem Tod aus der Schweiz vom Förderverein Neue Wege in Somalia während 12 Jahren weiter tatkräftig unterstützt und die Schulen ausgebaut (2).
Seit 2014 arbeiten die Einrichtungen, die Verena Karrer gegründet hatte, ohne die Hilfe aus der Schweiz selbständig weiter.
Elisabeth Bäschlin (Hg.): Und grüsse euch mit dem Lied des Regenvogels. VreKarrer — Briefe aus Somalia, 2003, eFeF Verlag, Bern/Wettlingen
Magda Nur-Frei (1937 bis 2010) arbeitete zusammen mit Vre Karrer in der Arztpraxis „Plaffenwatz“ in Zürich. Der Bruder von Magda, Dr. Peter Frei (1938 bis 2010) war Arzt in dieser Gruppenpraxis (3).
1988 siedelte Magda mit ihrem Mann Nur Scecdon Olad in seine Heimat Somalia. Sie arbeitete zuerst von 1988 bis 1990 im Distrikt Spital der somalischen Stadt Merka als Schulschwester auf der Medizin und Gynäkologie. 1993 kam ihre Kollegin Vre Karrer nach Somalia. In Somalia begann Vre zusammen mit Magda, im Hilfsprojekt der italienischen Juristin Annalena Tonelli zu arbeiten (4).
Im August 1994 konnte die Sicherheit für Ausländerinnen und Ausländer nach der Ankündigung des UNO-Truppenrückzuges nicht mehr gewährleistet werden. Annalena Tonelli verließ Merka und übergab die Schulen und das Tuberkulose-Programm der italienischen Caritas. Das Ambulatorium wurde geschlossen. Im Oktober/November haben auch Magda Nur und Vre Karrer die Caritas verlassen und begannen, ein eigenes Ambulatorium in Haf Russia, im Armenviertel im Ostteil von Merka, aufzubauen (5). Annalena Tonelli wurde Im Oktober 2003 in dem Tuberkulosekrankenhaus, das sie in Borama, in Somalia, gegründet hatte, von Unbekannten ermordet.
Magda Nur-Frei, ihr Mann Nur Scecdon Olad und ihre beiden Kinder lebten 2003 in Nairobi. Sie verließen damals Merka wegen des Bürgerkriegs; Foto: Swisso Kalmo
New Ways in Somalia, Förderverein „Neue Wege in Somalia“
Im August 1995 gründete Vre Karrer den Förderverein „Neue Wege in Somalia“. Sie eröffnete in Merka ein eigenes Ambulatorium und später Schulen, genannt „New Ways“. Nach dem Tod von Vre Karrer im Februar 2002 leitete Professor Mohamad Roble die Einrichtungen von New Ways in Merka. Ende 2008 wurde er in Merka angeschossen und verlor dabei ein Auge. Schwer verletzt wurde er nach Nairobi ausgeflogen und erhielt später mit seiner Familie in Holland Asyl.
Die Abwesenheit von Professor Roble hatte eine große Lücke hinterlassen. Er spielte in Merka eine zentrale Rolle, um die verschiedenen Projekte zu koordinieren und zu überwachen. Seit Ende 2008 führte dann Abdullahi Ali Mohamed das Hilfswerk New Ways erfolgreich über alle Klippen hinweg.
Der Förderverein Neue Wege in Somalia, gegründet von Vre Karrer, unterstützte bis zu seiner Auflösung in der Schweiz im Jahr 2014 die Arbeit von New Ways in Merka: eine Primar- und Sekundarschule, eine Reinigungsequipe, die Sanitation, die den Markt in Merka säuberte und Abfälle in den Straßen beseitigte. Die Primarschule wurde damals von 332 Mädchen und 317 Knaben besucht, in einer Morgen- und Nachmittagschicht. An der Primarschule waren 14 Lehrerinnen und Lehrer tätig. Die Kinder bekamen in der Schule eine Mahlzeit, da die meisten Schüler der Primarschule aus sehr armen Familien stammten.
Die Sekundarschule, die vier Jahre dauerte, besuchten 156 Mädchen und 207 Knaben, das heißt, es waren oft schon junge Frauen und Männer, die älter als 18 Jahre alt waren. 14 Lehrer unterrichteten diese Schüler.
News Ways arbeitet heute ohne die Unterstützung aus der Schweiz weiter. Die Einrichtungen von New Ways, das Ambulatorium und das Schulhaus wurden der Gemeinde Merka übergeben (6).
Schüler und Schülerinnen der Primarschule von New Ways in Merka; Foto: New Ways Merka
Schülerinnen und Schüler der Sekundarschule von New Ways in Merka;
Foto: New Ways Merka
Professor Mohamad Roble und Jenny Heeb, Präsidentin des Fördervereins Neue Wege in Somalia, 2010 bei einem Besuch von Roble aus Holland in Zürich (7); Foto: Förderverein Neue Wege in Somalia
Nachdem Vre Karrer ein eigenes Ambulatorium in Merka eröffnet hatte, betreute Magda Nur-Frei zusammen mit ihrem Mann in Merka dort unter anderem an Tuberkulose Erkrankte. In der Schweiz unterstützten sie vor allem die Familie Frei in der Ostschweiz, die Schwestern und Brüdern von Magda.
Der somalische Arzt Dr. Abdi Hersi leitete Swisso Kalmo
Nach dem Tod von Magda, im Frühling 2010, standen die Einrichtungen von Swisso Kalmo in Somalia vor der Schließung. Dank des Engagements ihres Mannes Nur Scecdon Olad, des Arztes Dr. Abdi Hersi und Swisso Kalmo in der Schweiz konnte das Ambulatorium Swiss Kalmo in Merka trotz aller Schwierigkeiten weiterarbeiten (8).
Ein Zusammenschluss von Swisso Kalmo und den Aktivitäten von New Ways in Somalia betrachtete in der Schweiz der Vorstand der beiden Organisationen als sinnvoll, aber die Leiter von New Ways in Merka wollten von einem Zusammenschluss nichts wissen, sie befürchteten vermutlich, ihre Selbständigkeit zu verlieren.
Die aktuelle Situation in Merka: „akute Unterernährung“
Der heutige Leiter des Ambulatoriums von Swisso Kalmo in Merka, Mohamed Abukar, berichtete kürzlich über die „akute Unterernährung in Merka und Umgebung“. Mohamed Abukar schrieb:
„Der spärliche Regen, der gefallen ist, hat dazu geführt, dass in den meisten Gegenden in Somalia eine große Dürre ausgebrochen ist. Ausfallende Getreideernten, Wasserknappheit waren die Folge. Der Viehbestand nahm ab, immer mehr Tiere starben. Dadurch hat sich die Ernährungslage zwischen Februar und Ende März 2022 verschlechtert. Besonders Frauen im gebärfähigen Alter zwischen 25 und 49 Jahren sind davon am meisten betroffen.“
Somalia: Versorgung mit Nahrungsmitteln für 6 Millionen nicht mehr gesichert Neben dem Krieg in der Ukraine wird die Hungersnot, die viele ostafrikanische Staaten bedroht, fast vergessen, Hunger als Folge der fehlenden Regenfälle und auch des Krieges, der in Somalia bereits seit dreißig Jahren dauert. Somalia, am Horn von Afrika, ist im Moment seit Jahrzehnten mit der schlimmsten Dürre konfrontiert. Der größte Fluss des Landes, der Juba, der in Äthiopien entspringt und im Süden des Landes bei Kismaayo in den Indischen Ozean mündet, ist fast vollständig ausgetrocknet.
„Der ausbleibende Regen, die explodierenden Lebensmittelpreise und riesige Finanzierungsengpässe des Landes, lassen fast 40 Prozent der Somalier am Rande des Abgrundes stehen“, schreibt die UNO. Schon jetzt sei in Somalia für sechs Millionen Menschen die ausreichende Versorgung mit Nahrungsmitteln nicht mehr gesichert. 1,4 Millionen Kinder unter 5 Jahren seien unterernährt. 330.000 von ihnen würden unter schwerer Unterernährung leiden und könnten sterben, wenn nicht rasch Hilfe komme. Doch dem Welternährungsprogramm fehlen die Mittel, um den Hunger zu bekämpfen.
Im Ambulatorium von Swisso Kalmo in Merka werden kranke und unterernährte Kinder betreut; Foto: Swisso Kalmo
Hungersnot schon vor zehn Jahren
Zwischen Oktober 2010 und April 2012 starben in Somalia schon einmal 258.000 Menschen an Nahrungsmittelknappheit, laut den Vereinigten Nationen.
Ein neuer Tarnkappenbomber oder 330.000 Kinderleben 6,035 Milliarden Franken sollen die 36 Tarnkappenbomber kosten, die die Schweiz beim US-Rüstungskonzern Lockheed Martin kaufen will. 167, 6 Millionen Franken wird ein einziger dieser Bomber kosten. Das ist fast so viel wie die 192 Millionen US-Dollar, die dem Welternährungsprogramm (WFP) der UNO derzeit fehlen, um in Somalia Menschen vor einer neuen Hungersnot zu bewahren.
In Somalia würden die Dollars, die nur ein Tarnkappenbomber F-35A kostet, reichen, um 330.000 Kinder vor dem Verhungern zu bewahren.
In der Schweiz könnte man mit dem Geld von einem Tarnkappenbomber F-35A für 838 der 2200 Obdachlosen in unserem reichen Land eine Wohnung im Werte von 200.000 Franken bauen.
Mit dem Geld eines einzigen Tarnkappenbombers F-35A könnte bei 5.586 Einfamilienhäusern in der Schweiz eine Solarstromanlage im Werte von 30.000 Franken installiert werden.
Was würden Magda Nur-Frei und Vre Karrer zu dem Kauf von 36 Tarnkappenbombern F-35A sagen? Vre Karrer war Mitglied der GSoA, der Gruppe Schweiz ohne Armee. In Merka organisierte sie die Kampagne „Put the gun and get the pen!“ (Gib die Waffe ab und nimm die Feder!)
Sich weiter wie in der Ukraine zu Tode verteidigen (9)?
Quellen und Anmerkungen:
(1) swisso-kalmo.ch/oldpage/pdf/Geschichte%20von%20swisso-kalmo.pdf
(2) Förderverein „Neue Wege in Somalia» ::.. (nw-merka.ch)
(3) Peter Frei (1938 bis 2010), Beseelt bei der Arbeit
www.woz.ch/-1a45?msclkid=d827cd33ce8811ec91ac7a032bef7102
(4) de.wikipedia.org/wiki/Annalena_Tonelli
(5) Infos aus der alten Website von Swisso Kalmo: www.swisso-kalmo.ch
(6) Vre Karrer hat in Somalia etwas gewagt und auch etwas gewonnen Gespräch mit Jenny Heeb, der Präsidentin des Unterstützungsverein New Ways
taximagazin.ch/global_text/18hf_ver_karrer_somalia.pdf
(7) Interview mit Professor Mohamad Roble, der aus Somalia fliehen musste
Schulen, ein Beitrag zum Frieden, von Heinrich Frei nrhz.de/flyer/beitrag.php?id=15189
Online-Flyer Nr. 252 vom 2. Juni 2010
(8) www.swisso-kalmo.ch
(9) www.wfp.org/emergencies/somalia-emergency (Aus der Website des Welternährungsprogrammes)